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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

^ "Rückständigkeit." .

"Rückständig"! Ein nichtswürdiges Wort, in der Be¬
deutung nämlich, wie es heute meist angewandt wird! Schon Wnstmmin hat darauf
hingewiesen, daß man wohl von rückständigen Geldsunmien (vgl. im Rückstände sein),
aber nicht von rückständigen Bevölkerungsklassen und rückständigen Anschauungen
reden könne. Dieser vertrackte Sprachgebrauch, das ^ Wort.statt "zurückgebliebei^"
oder "veraltet" anzuwenden, ist aber jetzt der vorherrschende; "rückständig" ist ein
Lieblingswort aller Zeitungen und Zeitschriften geworden, auch solcher, die ein
anständiges Deutsch zu schreiben beanspruchen. Wer nicht ^rückständig" erscheinen
will, muß rückständig falsch gebrauchen. ! ^ ^ ,^ -.^ ^, .

Aber von dieser Sprachblüte nur nebenbei. Der hohe Genuß, den die häufige
Anwendung jenes Wortes den Zeitungen bereitet, hat s einen ganz besondern
Grund: je häufiger man von Rückständigkeit redet, desto fortgeschrittner, moderner
kommt man sich vor. Und wer will nicht fortgeschritten erscheinen? Konservative
Zeitungen gebrauchen das köstliche Wort mit derselben Wonne wie radikale. Es
steckt in dem "gebildeten" Deutschen seit Jahrhunderten ein Stück Fortschrittsphilister.
Jeder Lasse glaubt sich am bequemsten als großen Geist zu erweisen, wenn er die
Vergangenheit verächtlich behandelt. Ich weiß nicht, wieweit das eine Schwäche
der modernen europäischen Völker überhaupt ist; aber beim Deutschen tritt es. deshalb
besonders peinlich hervor, weil es mit der deutscheu Gedanken- und Gemütstiefe
schlecht stimmt. Es gehört nicht viel Nachdenken dazu, sich zu sagen, daß sich unsre
Verachtung der Vergangenheit weiter erben wird, und daß spätere Geschlechter
über uns ebenso lachen werden wie unsre weisen Zeitgenossen über unsre Vorfahren.
Es wiederholt sich das, was im Leben des.Einzelnen zu beobachte" ist: wer seine
Eltern verachtet, erleidet dasselbe Schicksal von seinen Kindern.

Unsre Gegenwartsprotzerei ist nicht nur undankbar, sie ist auch kindisch und
beschränkt. In gewisser Hinsicht ist der Jünger über seinen Meister hinausgewachsen
auf dem Gebiete der Wissenschaft wie auf dem der Kunst und der Technik, weil er auf
den Schultern seines Vorgängers steht. Er braucht nicht noch einmal da anzufangen,
wo jener angefangen hat, sondern er führt das Gebäude weiter. Auch ein mittelmäßiger
Kopf kann, wenn er sich die Arbeiten des Vorgängers geschickt anzueignen weiß,
weiter kommen als jener. Aber es ist ein Zeichen von sittlicher und geistiger Un¬
zulänglichkeit, wenn der Nachfolger und Erbe nicht zu Bescheidenheit und Dankbarkeit,
sondern zu gegenteiligen Empfindungen gestimmt wird. Auf welcher Höhe erscheint
gegenüber dem anmaßenden Epigonentum die Ansicht Goethes, der meinte, wenn er
von seinen Leistungen alles abziehn wollte, was er großen Vorgängern schuldig sei,
würde nicht viel übrig bleiben! So beruht doch unser gesamtes Volksleben in geistiger
und in wirtschaftlicher Hinsicht auf den Leistungen der Vergangenheit; wir arbeiten
mit dem Kapital, das uns die Vorfahren überliefert haben. Was kann also weniger
am Platze sein als Dünkel? "Was hast du, das du nicht empfangen hast?" Unser
sogenannter Fortschritt besteht darin, daß wir uns die Ergebnisse der Vergangenheit
zunutze machen. Sollte das obige Wort Goethes nicht ans ein ganzes Volk an¬
zuwenden sein? /

Der Fortschrittsphilister, der gebildete und der ungebildete, ist eine unerquick¬
liche Erscheinung. Es ist ein schönes Ding um den Fortschritt, und er wird von
demi Leben eines Volks so wenig zu trennen sein wie von dein Leben irgend eines
gesellschaftlichen Gebildes; denn Leben bedeutet Entwicklung und Erneuerung. Aber
der Philister hält jede Veränderung für einen Fortschritt, wenn es ihm.von
seiner Tageszeitung vorgeredet wird. Vor allem betrachtet er jeden Zuwachs an
äußern Kulturgütern (Fernsprecher, Automobile und ähnliches) als Fortschritt. Er
verbindet häufig mit dem Worte Fortschritt überhaupt keinen bestinimten Begriff,
sondern er ist ihm ein neblichtes, verwaschnes Etwas, das er um so höher verehrt,


Maßgebliches und Unmaßgebliches

^ „Rückständigkeit." .

„Rückständig"! Ein nichtswürdiges Wort, in der Be¬
deutung nämlich, wie es heute meist angewandt wird! Schon Wnstmmin hat darauf
hingewiesen, daß man wohl von rückständigen Geldsunmien (vgl. im Rückstände sein),
aber nicht von rückständigen Bevölkerungsklassen und rückständigen Anschauungen
reden könne. Dieser vertrackte Sprachgebrauch, das ^ Wort.statt „zurückgebliebei^"
oder „veraltet" anzuwenden, ist aber jetzt der vorherrschende; „rückständig" ist ein
Lieblingswort aller Zeitungen und Zeitschriften geworden, auch solcher, die ein
anständiges Deutsch zu schreiben beanspruchen. Wer nicht ^rückständig" erscheinen
will, muß rückständig falsch gebrauchen. ! ^ ^ ,^ -.^ ^, .

Aber von dieser Sprachblüte nur nebenbei. Der hohe Genuß, den die häufige
Anwendung jenes Wortes den Zeitungen bereitet, hat s einen ganz besondern
Grund: je häufiger man von Rückständigkeit redet, desto fortgeschrittner, moderner
kommt man sich vor. Und wer will nicht fortgeschritten erscheinen? Konservative
Zeitungen gebrauchen das köstliche Wort mit derselben Wonne wie radikale. Es
steckt in dem „gebildeten" Deutschen seit Jahrhunderten ein Stück Fortschrittsphilister.
Jeder Lasse glaubt sich am bequemsten als großen Geist zu erweisen, wenn er die
Vergangenheit verächtlich behandelt. Ich weiß nicht, wieweit das eine Schwäche
der modernen europäischen Völker überhaupt ist; aber beim Deutschen tritt es. deshalb
besonders peinlich hervor, weil es mit der deutscheu Gedanken- und Gemütstiefe
schlecht stimmt. Es gehört nicht viel Nachdenken dazu, sich zu sagen, daß sich unsre
Verachtung der Vergangenheit weiter erben wird, und daß spätere Geschlechter
über uns ebenso lachen werden wie unsre weisen Zeitgenossen über unsre Vorfahren.
Es wiederholt sich das, was im Leben des.Einzelnen zu beobachte» ist: wer seine
Eltern verachtet, erleidet dasselbe Schicksal von seinen Kindern.

Unsre Gegenwartsprotzerei ist nicht nur undankbar, sie ist auch kindisch und
beschränkt. In gewisser Hinsicht ist der Jünger über seinen Meister hinausgewachsen
auf dem Gebiete der Wissenschaft wie auf dem der Kunst und der Technik, weil er auf
den Schultern seines Vorgängers steht. Er braucht nicht noch einmal da anzufangen,
wo jener angefangen hat, sondern er führt das Gebäude weiter. Auch ein mittelmäßiger
Kopf kann, wenn er sich die Arbeiten des Vorgängers geschickt anzueignen weiß,
weiter kommen als jener. Aber es ist ein Zeichen von sittlicher und geistiger Un¬
zulänglichkeit, wenn der Nachfolger und Erbe nicht zu Bescheidenheit und Dankbarkeit,
sondern zu gegenteiligen Empfindungen gestimmt wird. Auf welcher Höhe erscheint
gegenüber dem anmaßenden Epigonentum die Ansicht Goethes, der meinte, wenn er
von seinen Leistungen alles abziehn wollte, was er großen Vorgängern schuldig sei,
würde nicht viel übrig bleiben! So beruht doch unser gesamtes Volksleben in geistiger
und in wirtschaftlicher Hinsicht auf den Leistungen der Vergangenheit; wir arbeiten
mit dem Kapital, das uns die Vorfahren überliefert haben. Was kann also weniger
am Platze sein als Dünkel? „Was hast du, das du nicht empfangen hast?" Unser
sogenannter Fortschritt besteht darin, daß wir uns die Ergebnisse der Vergangenheit
zunutze machen. Sollte das obige Wort Goethes nicht ans ein ganzes Volk an¬
zuwenden sein? /

Der Fortschrittsphilister, der gebildete und der ungebildete, ist eine unerquick¬
liche Erscheinung. Es ist ein schönes Ding um den Fortschritt, und er wird von
demi Leben eines Volks so wenig zu trennen sein wie von dein Leben irgend eines
gesellschaftlichen Gebildes; denn Leben bedeutet Entwicklung und Erneuerung. Aber
der Philister hält jede Veränderung für einen Fortschritt, wenn es ihm.von
seiner Tageszeitung vorgeredet wird. Vor allem betrachtet er jeden Zuwachs an
äußern Kulturgütern (Fernsprecher, Automobile und ähnliches) als Fortschritt. Er
verbindet häufig mit dem Worte Fortschritt überhaupt keinen bestinimten Begriff,
sondern er ist ihm ein neblichtes, verwaschnes Etwas, das er um so höher verehrt,


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[0602] Maßgebliches und Unmaßgebliches ^ „Rückständigkeit." . „Rückständig"! Ein nichtswürdiges Wort, in der Be¬ deutung nämlich, wie es heute meist angewandt wird! Schon Wnstmmin hat darauf hingewiesen, daß man wohl von rückständigen Geldsunmien (vgl. im Rückstände sein), aber nicht von rückständigen Bevölkerungsklassen und rückständigen Anschauungen reden könne. Dieser vertrackte Sprachgebrauch, das ^ Wort.statt „zurückgebliebei^" oder „veraltet" anzuwenden, ist aber jetzt der vorherrschende; „rückständig" ist ein Lieblingswort aller Zeitungen und Zeitschriften geworden, auch solcher, die ein anständiges Deutsch zu schreiben beanspruchen. Wer nicht ^rückständig" erscheinen will, muß rückständig falsch gebrauchen. ! ^ ^ ,^ -.^ ^, . Aber von dieser Sprachblüte nur nebenbei. Der hohe Genuß, den die häufige Anwendung jenes Wortes den Zeitungen bereitet, hat s einen ganz besondern Grund: je häufiger man von Rückständigkeit redet, desto fortgeschrittner, moderner kommt man sich vor. Und wer will nicht fortgeschritten erscheinen? Konservative Zeitungen gebrauchen das köstliche Wort mit derselben Wonne wie radikale. Es steckt in dem „gebildeten" Deutschen seit Jahrhunderten ein Stück Fortschrittsphilister. Jeder Lasse glaubt sich am bequemsten als großen Geist zu erweisen, wenn er die Vergangenheit verächtlich behandelt. Ich weiß nicht, wieweit das eine Schwäche der modernen europäischen Völker überhaupt ist; aber beim Deutschen tritt es. deshalb besonders peinlich hervor, weil es mit der deutscheu Gedanken- und Gemütstiefe schlecht stimmt. Es gehört nicht viel Nachdenken dazu, sich zu sagen, daß sich unsre Verachtung der Vergangenheit weiter erben wird, und daß spätere Geschlechter über uns ebenso lachen werden wie unsre weisen Zeitgenossen über unsre Vorfahren. Es wiederholt sich das, was im Leben des.Einzelnen zu beobachte» ist: wer seine Eltern verachtet, erleidet dasselbe Schicksal von seinen Kindern. Unsre Gegenwartsprotzerei ist nicht nur undankbar, sie ist auch kindisch und beschränkt. In gewisser Hinsicht ist der Jünger über seinen Meister hinausgewachsen auf dem Gebiete der Wissenschaft wie auf dem der Kunst und der Technik, weil er auf den Schultern seines Vorgängers steht. Er braucht nicht noch einmal da anzufangen, wo jener angefangen hat, sondern er führt das Gebäude weiter. Auch ein mittelmäßiger Kopf kann, wenn er sich die Arbeiten des Vorgängers geschickt anzueignen weiß, weiter kommen als jener. Aber es ist ein Zeichen von sittlicher und geistiger Un¬ zulänglichkeit, wenn der Nachfolger und Erbe nicht zu Bescheidenheit und Dankbarkeit, sondern zu gegenteiligen Empfindungen gestimmt wird. Auf welcher Höhe erscheint gegenüber dem anmaßenden Epigonentum die Ansicht Goethes, der meinte, wenn er von seinen Leistungen alles abziehn wollte, was er großen Vorgängern schuldig sei, würde nicht viel übrig bleiben! So beruht doch unser gesamtes Volksleben in geistiger und in wirtschaftlicher Hinsicht auf den Leistungen der Vergangenheit; wir arbeiten mit dem Kapital, das uns die Vorfahren überliefert haben. Was kann also weniger am Platze sein als Dünkel? „Was hast du, das du nicht empfangen hast?" Unser sogenannter Fortschritt besteht darin, daß wir uns die Ergebnisse der Vergangenheit zunutze machen. Sollte das obige Wort Goethes nicht ans ein ganzes Volk an¬ zuwenden sein? / Der Fortschrittsphilister, der gebildete und der ungebildete, ist eine unerquick¬ liche Erscheinung. Es ist ein schönes Ding um den Fortschritt, und er wird von demi Leben eines Volks so wenig zu trennen sein wie von dein Leben irgend eines gesellschaftlichen Gebildes; denn Leben bedeutet Entwicklung und Erneuerung. Aber der Philister hält jede Veränderung für einen Fortschritt, wenn es ihm.von seiner Tageszeitung vorgeredet wird. Vor allem betrachtet er jeden Zuwachs an äußern Kulturgütern (Fernsprecher, Automobile und ähnliches) als Fortschritt. Er verbindet häufig mit dem Worte Fortschritt überhaupt keinen bestinimten Begriff, sondern er ist ihm ein neblichtes, verwaschnes Etwas, das er um so höher verehrt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/602>, abgerufen am 27.06.2024.