Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches gelernt: "Sie, die lange gelebt und in viele Augen gesehen hatte, wußte, daß Märchen Mit den einfachsten Mitteln wird die Spannung des Lesers erregt und ge¬ Die feine und geschmackvolle Ausstattung der "Barmer Geschichten, besonders Anormal, anomal und abnorm. In den letzten Wochen und Monaten Maßgebliches und Unmaßgebliches gelernt: „Sie, die lange gelebt und in viele Augen gesehen hatte, wußte, daß Märchen Mit den einfachsten Mitteln wird die Spannung des Lesers erregt und ge¬ Die feine und geschmackvolle Ausstattung der „Barmer Geschichten, besonders Anormal, anomal und abnorm. In den letzten Wochen und Monaten <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0507" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/311588"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_2407" prev="#ID_2406"> gelernt: „Sie, die lange gelebt und in viele Augen gesehen hatte, wußte, daß Märchen<lb/> über die Welt hingehn, und daß sie in den Augen geschrieben stehn. Mit dem Herzen<lb/> aber wollen sie gelesen sein. Märchen aus längst verklungner Zeit, die von Mutters<lb/> Großmutter noch leise flüstern, und Märchen, die da weissagen von künftigen, noch<lb/> ungebornen Tagen." Mit sichrer Hand unternimmt die Dichterin die Schilderung<lb/> von Menschen und Zuständen ihrer Heimat im fünfzehnten Jahrhundert. Mit Recht<lb/> verzichtet sie dabei auf die Mittel einer gekünstelt altertümlichen Sprache, womit<lb/> sich viele in ähnlichem Falle begnügen. Sie versetzt sich in das ganze Empfindungs¬<lb/> leben der frühern Zeit. Da sie die Bauern ihrer Heimat, die mit zäher Hartnäckigkeit<lb/> an dem Überkommnen festhalten, aus dem Leben kennt, so schildert sie lebenswahr<lb/> ihr Auftreten in dem fünfzehnten Jahrhundert. Es waren ja dieselben Dickköpfe.<lb/> Nur die Umwelt war eine andre. Man lebte damals mehr in und mit der Natur.<lb/> Es war darum begreiflich, daß man an dämonische Naturgewalten und ihren Einfluß<lb/> auf die Menschen glaubte. So verwebt Clara Hohrath mit künstlerischer Hand<lb/> allerlei Volksglauben in ihre Geschichten und trifft so sicher den Ton der frühern<lb/> Zeit. Sie weiß recht gut, daß es früher nicht besser war als jetzt. So legt sie<lb/> in „Dan und Lizzie" dem Könige der Ecrehous die Worte in den Mund: „Miriam<lb/> Andere (auch eine Großmutter) hat euch von vergangnen Zeiten vorgeschwärmt und<lb/> euch den Glauben beigebracht, einst sei alles schöner gewesen als jetzt, und es hätte<lb/> Helden gegeben? Humbug ist das alles! Die Menschen von früher waren genau<lb/> so dumm wie die Menschen von jetzt, und sie werden auch mit der Zeit nicht<lb/> klüger werden!" Wie ein richtiges Leitmotiv klingt durch die erste der beiden<lb/> Barmer Geschichten ein Vers aus Wcilthers von der Vogelweide Liedchen „Unter<lb/> der Linde". Er wirkt überaus stimmungsvoll, erinnert daran, daß die Großmutter<lb/> als blühendes Mädchen gestrauchelt wäre, wenn der Hauskobold nicht wie ein<lb/> Schutzengel rechtzeitig gewarnt hätte. Auch der Enkelin kommt der Vers in der<lb/> Stunde schwerer Versuchung in den Sinn. Echt menschlich ist es, daß sich die<lb/> Großmutter zwar müht, die alte Gedankenschuld abzubüßen, aber doch gern ihre<lb/> Gedanken zu dem schönen Geliebten in ihrer Jugend hinschweifen läßt, selbst im<lb/> höchsten Alter. Gerade so will die Großmutter in „Dan und Lizzie" fast in der<lb/> Sterbestunde die Erinnerungen an harmlose Liebeständeleien ihrer Jugendzeit<lb/> hervorsuchen. So ist das Ganze in den Duft wahrer Poesie gehüllt, einfach und<lb/> lebenswahr. Die zahlreichen Konflikte sind natürlich und berechtigt, alle Charaktere<lb/> richtig erfaßt und durchgeführt. ,</p><lb/> <p xml:id="ID_2408"> Mit den einfachsten Mitteln wird die Spannung des Lesers erregt und ge¬<lb/> steigert. Überall waltet echt weibliches Zartgefühl gepaart mit einem entwickelten<lb/> Wirklichkeitssinn. Das Bedenklichste weiß sie stets ohne übertriebne Ängstlichkeit<lb/> und doch mit taktvoller Zurückhaltung zu behandeln, wo es nottut, begnügt sie sich<lb/> mit Andeutungen, die sich einem kunstvollen Schleier vergleichen lassen. Alles in<lb/> allem ist Clara Hohrath eine Schriftstellerin, deren bisherige Dichtungen tüchtige<lb/> Leistungen sind, die auch für die Zukunft zu den schönsten Erwartungen berechtigen.<lb/> "</p><lb/> <p xml:id="ID_2409"> Die feine und geschmackvolle Ausstattung der „Barmer Geschichten, besonders<lb/> der Einband, befriedigt hohe Ansprüche, aber man entbehrt ungern den reizenden<lb/> Buchschmuck der beiden frühern Werke aus demselben Verlage, die prächtigen Wald-<lb/> und Feldblumen zu Beginn und am Schluß der Kapitel: sie wirkten ungemein<lb/> st<note type="byline"> AI. Reifferscheid</note> immungsvoll. </p><lb/> </div> <div n="2"> <head> Anormal, anomal und abnorm.</head> <p xml:id="ID_2410" next="#ID_2411"> In den letzten Wochen und Monaten<lb/> sind wir viel mit „normwidrigen" Dingen gefüttert worden, „normwidriger" Natur¬<lb/> anlage, „normwidrigen" Trieben, Neigungen, Empfindungen usw. „Normwidrig"</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0507]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
gelernt: „Sie, die lange gelebt und in viele Augen gesehen hatte, wußte, daß Märchen
über die Welt hingehn, und daß sie in den Augen geschrieben stehn. Mit dem Herzen
aber wollen sie gelesen sein. Märchen aus längst verklungner Zeit, die von Mutters
Großmutter noch leise flüstern, und Märchen, die da weissagen von künftigen, noch
ungebornen Tagen." Mit sichrer Hand unternimmt die Dichterin die Schilderung
von Menschen und Zuständen ihrer Heimat im fünfzehnten Jahrhundert. Mit Recht
verzichtet sie dabei auf die Mittel einer gekünstelt altertümlichen Sprache, womit
sich viele in ähnlichem Falle begnügen. Sie versetzt sich in das ganze Empfindungs¬
leben der frühern Zeit. Da sie die Bauern ihrer Heimat, die mit zäher Hartnäckigkeit
an dem Überkommnen festhalten, aus dem Leben kennt, so schildert sie lebenswahr
ihr Auftreten in dem fünfzehnten Jahrhundert. Es waren ja dieselben Dickköpfe.
Nur die Umwelt war eine andre. Man lebte damals mehr in und mit der Natur.
Es war darum begreiflich, daß man an dämonische Naturgewalten und ihren Einfluß
auf die Menschen glaubte. So verwebt Clara Hohrath mit künstlerischer Hand
allerlei Volksglauben in ihre Geschichten und trifft so sicher den Ton der frühern
Zeit. Sie weiß recht gut, daß es früher nicht besser war als jetzt. So legt sie
in „Dan und Lizzie" dem Könige der Ecrehous die Worte in den Mund: „Miriam
Andere (auch eine Großmutter) hat euch von vergangnen Zeiten vorgeschwärmt und
euch den Glauben beigebracht, einst sei alles schöner gewesen als jetzt, und es hätte
Helden gegeben? Humbug ist das alles! Die Menschen von früher waren genau
so dumm wie die Menschen von jetzt, und sie werden auch mit der Zeit nicht
klüger werden!" Wie ein richtiges Leitmotiv klingt durch die erste der beiden
Barmer Geschichten ein Vers aus Wcilthers von der Vogelweide Liedchen „Unter
der Linde". Er wirkt überaus stimmungsvoll, erinnert daran, daß die Großmutter
als blühendes Mädchen gestrauchelt wäre, wenn der Hauskobold nicht wie ein
Schutzengel rechtzeitig gewarnt hätte. Auch der Enkelin kommt der Vers in der
Stunde schwerer Versuchung in den Sinn. Echt menschlich ist es, daß sich die
Großmutter zwar müht, die alte Gedankenschuld abzubüßen, aber doch gern ihre
Gedanken zu dem schönen Geliebten in ihrer Jugend hinschweifen läßt, selbst im
höchsten Alter. Gerade so will die Großmutter in „Dan und Lizzie" fast in der
Sterbestunde die Erinnerungen an harmlose Liebeständeleien ihrer Jugendzeit
hervorsuchen. So ist das Ganze in den Duft wahrer Poesie gehüllt, einfach und
lebenswahr. Die zahlreichen Konflikte sind natürlich und berechtigt, alle Charaktere
richtig erfaßt und durchgeführt. ,
Mit den einfachsten Mitteln wird die Spannung des Lesers erregt und ge¬
steigert. Überall waltet echt weibliches Zartgefühl gepaart mit einem entwickelten
Wirklichkeitssinn. Das Bedenklichste weiß sie stets ohne übertriebne Ängstlichkeit
und doch mit taktvoller Zurückhaltung zu behandeln, wo es nottut, begnügt sie sich
mit Andeutungen, die sich einem kunstvollen Schleier vergleichen lassen. Alles in
allem ist Clara Hohrath eine Schriftstellerin, deren bisherige Dichtungen tüchtige
Leistungen sind, die auch für die Zukunft zu den schönsten Erwartungen berechtigen.
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Die feine und geschmackvolle Ausstattung der „Barmer Geschichten, besonders
der Einband, befriedigt hohe Ansprüche, aber man entbehrt ungern den reizenden
Buchschmuck der beiden frühern Werke aus demselben Verlage, die prächtigen Wald-
und Feldblumen zu Beginn und am Schluß der Kapitel: sie wirkten ungemein
st AI. Reifferscheid immungsvoll.
Anormal, anomal und abnorm. In den letzten Wochen und Monaten
sind wir viel mit „normwidrigen" Dingen gefüttert worden, „normwidriger" Natur¬
anlage, „normwidrigen" Trieben, Neigungen, Empfindungen usw. „Normwidrig"
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