Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das jugendliche Verbrechertum in Frankreich

Verfassung -- wenn nicht anders, durch Gesetz - - in den sogenannten eisernen
Bestand der Kalender aufnehmen, damit sie jeder Deutsche zu jeder Zeit zur
Hand nehmen kann. Der politischen Bildung und dem Nationalgefühl würde
d -y araus eine beträchtliche Förderung erwachsen.




Das jugendliche Verbrechertum in Frankreich
or. Johannes Tschiedel i vonn

>le Frage, ob in der neuen Zeit das jugendliche Verbrechertum
wächst, wird, wie man weiß, für Deutschland verschieden beant¬
wortet. Neben Stimmen, die wahren Kassandrarufen über die
Verwahrlosung der modernen Jugend gleichen, ertönen andre,
!die stark beruhigen. Herr von Tischendorf, der bekannte Statistiker
im Neichsjustizcnnt, kommt in einem Artikel in der Deutschen Juristenzeitung
zu dem Ergebnis, daß zurzeit eine besonders bedrohliche Entwicklung der
Kriminalität der Jugendlichen nicht hervortrete. Dieselbe Meinung sprach jüngst
gegenüber alarmierenden Darstellungen der Staatsanwalt Langer aus. Und
auch ein Artikel der Frankfurter Zeitung lief auf demselben Gleis. In
die leidenschaftliche Erörterung des Problems für deutsche Verhältnisse will
ich nicht eingreifen, ich erwähne sie auch nur, um vergleichsweise daran die
Bemerkung zu knüpfen, daß in Frankreich das jugendliche Verbrechertum als
die Geißel der neuen Zeit xar vxeellönoö betrachtet wird. Die meisten Ein¬
brecher, Mörder, Totschlüger, Verwandtenmörder sind jetzt ganz junge, grüne
Burschen von vierzehn, sechzehn, achtzehn Jahren, so tönt es unausgesetzt ni
der Presse. Entspricht das der Wirklichkeit?

Albanel, einer der ältesten und bekanntesten französischen Untersuchungs¬
richter, erklärt, er habe seit fünfzehn Jahren mehrere tausend Jugendliche
abzuurteilen gehabt. Er ist der Meinung, daß das jugendliche Verbrechertum
in schreckenerregender Weise wächst. Und man glaubt sich in der Tat z" ent¬
sinnen, daß alle schweren Verbrechen der letzten Zeit von Jugendlichen verübt
worden waren. Unter den Ursachen will, um das gleich hier zu erwähnen,
Albanel schlechte Erziehung nicht gelten lassen. Auf 600 Aktenstücke fand er
nur 100 bis 120 Fälle, in denen die Eltern unwürdig waren, ihre Kinder
zu erziehen. Und Schwestern und Brüder der Schuldigen waren meist ordent-,
liebe Menschen. Ebensowenig nimmt Albanel Atavismus oder Alkoholismus
als besonders treibende Ursachen an. Dagegen beschuldigt er hauptsächlich den
schlechten Umgang, das verdorbne Milieu, die Bekanntschaften außerhalb der.
Familie auf der Straße und in der Schule und das Vagabundentum. Aus einer
amtlichen Statistik vom Jahre 1904 geht hervor, daß in den. Jahren 1838
bis 1900 in Frankreich die Kriminalität Jugendlicher von jährlich 20 auf 140
stieg, während die Kriminalität der erwachsnen Verbrecher ungefähr auf derselben


Das jugendliche Verbrechertum in Frankreich

Verfassung — wenn nicht anders, durch Gesetz - - in den sogenannten eisernen
Bestand der Kalender aufnehmen, damit sie jeder Deutsche zu jeder Zeit zur
Hand nehmen kann. Der politischen Bildung und dem Nationalgefühl würde
d -y araus eine beträchtliche Förderung erwachsen.




Das jugendliche Verbrechertum in Frankreich
or. Johannes Tschiedel i vonn

>le Frage, ob in der neuen Zeit das jugendliche Verbrechertum
wächst, wird, wie man weiß, für Deutschland verschieden beant¬
wortet. Neben Stimmen, die wahren Kassandrarufen über die
Verwahrlosung der modernen Jugend gleichen, ertönen andre,
!die stark beruhigen. Herr von Tischendorf, der bekannte Statistiker
im Neichsjustizcnnt, kommt in einem Artikel in der Deutschen Juristenzeitung
zu dem Ergebnis, daß zurzeit eine besonders bedrohliche Entwicklung der
Kriminalität der Jugendlichen nicht hervortrete. Dieselbe Meinung sprach jüngst
gegenüber alarmierenden Darstellungen der Staatsanwalt Langer aus. Und
auch ein Artikel der Frankfurter Zeitung lief auf demselben Gleis. In
die leidenschaftliche Erörterung des Problems für deutsche Verhältnisse will
ich nicht eingreifen, ich erwähne sie auch nur, um vergleichsweise daran die
Bemerkung zu knüpfen, daß in Frankreich das jugendliche Verbrechertum als
die Geißel der neuen Zeit xar vxeellönoö betrachtet wird. Die meisten Ein¬
brecher, Mörder, Totschlüger, Verwandtenmörder sind jetzt ganz junge, grüne
Burschen von vierzehn, sechzehn, achtzehn Jahren, so tönt es unausgesetzt ni
der Presse. Entspricht das der Wirklichkeit?

Albanel, einer der ältesten und bekanntesten französischen Untersuchungs¬
richter, erklärt, er habe seit fünfzehn Jahren mehrere tausend Jugendliche
abzuurteilen gehabt. Er ist der Meinung, daß das jugendliche Verbrechertum
in schreckenerregender Weise wächst. Und man glaubt sich in der Tat z» ent¬
sinnen, daß alle schweren Verbrechen der letzten Zeit von Jugendlichen verübt
worden waren. Unter den Ursachen will, um das gleich hier zu erwähnen,
Albanel schlechte Erziehung nicht gelten lassen. Auf 600 Aktenstücke fand er
nur 100 bis 120 Fälle, in denen die Eltern unwürdig waren, ihre Kinder
zu erziehen. Und Schwestern und Brüder der Schuldigen waren meist ordent-,
liebe Menschen. Ebensowenig nimmt Albanel Atavismus oder Alkoholismus
als besonders treibende Ursachen an. Dagegen beschuldigt er hauptsächlich den
schlechten Umgang, das verdorbne Milieu, die Bekanntschaften außerhalb der.
Familie auf der Straße und in der Schule und das Vagabundentum. Aus einer
amtlichen Statistik vom Jahre 1904 geht hervor, daß in den. Jahren 1838
bis 1900 in Frankreich die Kriminalität Jugendlicher von jährlich 20 auf 140
stieg, während die Kriminalität der erwachsnen Verbrecher ungefähr auf derselben


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0482" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/310893"/>
          <fw type="header" place="top"> Das jugendliche Verbrechertum in Frankreich</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2569" prev="#ID_2568"> Verfassung &#x2014; wenn nicht anders, durch Gesetz - - in den sogenannten eisernen<lb/>
Bestand der Kalender aufnehmen, damit sie jeder Deutsche zu jeder Zeit zur<lb/>
Hand nehmen kann. Der politischen Bildung und dem Nationalgefühl würde<lb/>
d<note type="byline"> -y</note> araus eine beträchtliche Förderung erwachsen. </p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Das jugendliche Verbrechertum in Frankreich<lb/><note type="byline"> or. Johannes Tschiedel i</note> vonn</head><lb/>
          <p xml:id="ID_2570"> &gt;le Frage, ob in der neuen Zeit das jugendliche Verbrechertum<lb/>
wächst, wird, wie man weiß, für Deutschland verschieden beant¬<lb/>
wortet. Neben Stimmen, die wahren Kassandrarufen über die<lb/>
Verwahrlosung der modernen Jugend gleichen, ertönen andre,<lb/>
!die stark beruhigen. Herr von Tischendorf, der bekannte Statistiker<lb/>
im Neichsjustizcnnt, kommt in einem Artikel in der Deutschen Juristenzeitung<lb/>
zu dem Ergebnis, daß zurzeit eine besonders bedrohliche Entwicklung der<lb/>
Kriminalität der Jugendlichen nicht hervortrete. Dieselbe Meinung sprach jüngst<lb/>
gegenüber alarmierenden Darstellungen der Staatsanwalt Langer aus. Und<lb/>
auch ein Artikel der Frankfurter Zeitung lief auf demselben Gleis. In<lb/>
die leidenschaftliche Erörterung des Problems für deutsche Verhältnisse will<lb/>
ich nicht eingreifen, ich erwähne sie auch nur, um vergleichsweise daran die<lb/>
Bemerkung zu knüpfen, daß in Frankreich das jugendliche Verbrechertum als<lb/>
die Geißel der neuen Zeit xar vxeellönoö betrachtet wird. Die meisten Ein¬<lb/>
brecher, Mörder, Totschlüger, Verwandtenmörder sind jetzt ganz junge, grüne<lb/>
Burschen von vierzehn, sechzehn, achtzehn Jahren, so tönt es unausgesetzt ni<lb/>
der Presse.  Entspricht das der Wirklichkeit?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2571" next="#ID_2572"> Albanel, einer der ältesten und bekanntesten französischen Untersuchungs¬<lb/>
richter, erklärt, er habe seit fünfzehn Jahren mehrere tausend Jugendliche<lb/>
abzuurteilen gehabt. Er ist der Meinung, daß das jugendliche Verbrechertum<lb/>
in schreckenerregender Weise wächst. Und man glaubt sich in der Tat z» ent¬<lb/>
sinnen, daß alle schweren Verbrechen der letzten Zeit von Jugendlichen verübt<lb/>
worden waren. Unter den Ursachen will, um das gleich hier zu erwähnen,<lb/>
Albanel schlechte Erziehung nicht gelten lassen. Auf 600 Aktenstücke fand er<lb/>
nur 100 bis 120 Fälle, in denen die Eltern unwürdig waren, ihre Kinder<lb/>
zu erziehen. Und Schwestern und Brüder der Schuldigen waren meist ordent-,<lb/>
liebe Menschen. Ebensowenig nimmt Albanel Atavismus oder Alkoholismus<lb/>
als besonders treibende Ursachen an. Dagegen beschuldigt er hauptsächlich den<lb/>
schlechten Umgang, das verdorbne Milieu, die Bekanntschaften außerhalb der.<lb/>
Familie auf der Straße und in der Schule und das Vagabundentum. Aus einer<lb/>
amtlichen Statistik vom Jahre 1904 geht hervor, daß in den. Jahren 1838<lb/>
bis 1900 in Frankreich die Kriminalität Jugendlicher von jährlich 20 auf 140<lb/>
stieg, während die Kriminalität der erwachsnen Verbrecher ungefähr auf derselben</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0482] Das jugendliche Verbrechertum in Frankreich Verfassung — wenn nicht anders, durch Gesetz - - in den sogenannten eisernen Bestand der Kalender aufnehmen, damit sie jeder Deutsche zu jeder Zeit zur Hand nehmen kann. Der politischen Bildung und dem Nationalgefühl würde d -y araus eine beträchtliche Förderung erwachsen. Das jugendliche Verbrechertum in Frankreich or. Johannes Tschiedel i vonn >le Frage, ob in der neuen Zeit das jugendliche Verbrechertum wächst, wird, wie man weiß, für Deutschland verschieden beant¬ wortet. Neben Stimmen, die wahren Kassandrarufen über die Verwahrlosung der modernen Jugend gleichen, ertönen andre, !die stark beruhigen. Herr von Tischendorf, der bekannte Statistiker im Neichsjustizcnnt, kommt in einem Artikel in der Deutschen Juristenzeitung zu dem Ergebnis, daß zurzeit eine besonders bedrohliche Entwicklung der Kriminalität der Jugendlichen nicht hervortrete. Dieselbe Meinung sprach jüngst gegenüber alarmierenden Darstellungen der Staatsanwalt Langer aus. Und auch ein Artikel der Frankfurter Zeitung lief auf demselben Gleis. In die leidenschaftliche Erörterung des Problems für deutsche Verhältnisse will ich nicht eingreifen, ich erwähne sie auch nur, um vergleichsweise daran die Bemerkung zu knüpfen, daß in Frankreich das jugendliche Verbrechertum als die Geißel der neuen Zeit xar vxeellönoö betrachtet wird. Die meisten Ein¬ brecher, Mörder, Totschlüger, Verwandtenmörder sind jetzt ganz junge, grüne Burschen von vierzehn, sechzehn, achtzehn Jahren, so tönt es unausgesetzt ni der Presse. Entspricht das der Wirklichkeit? Albanel, einer der ältesten und bekanntesten französischen Untersuchungs¬ richter, erklärt, er habe seit fünfzehn Jahren mehrere tausend Jugendliche abzuurteilen gehabt. Er ist der Meinung, daß das jugendliche Verbrechertum in schreckenerregender Weise wächst. Und man glaubt sich in der Tat z» ent¬ sinnen, daß alle schweren Verbrechen der letzten Zeit von Jugendlichen verübt worden waren. Unter den Ursachen will, um das gleich hier zu erwähnen, Albanel schlechte Erziehung nicht gelten lassen. Auf 600 Aktenstücke fand er nur 100 bis 120 Fälle, in denen die Eltern unwürdig waren, ihre Kinder zu erziehen. Und Schwestern und Brüder der Schuldigen waren meist ordent-, liebe Menschen. Ebensowenig nimmt Albanel Atavismus oder Alkoholismus als besonders treibende Ursachen an. Dagegen beschuldigt er hauptsächlich den schlechten Umgang, das verdorbne Milieu, die Bekanntschaften außerhalb der. Familie auf der Straße und in der Schule und das Vagabundentum. Aus einer amtlichen Statistik vom Jahre 1904 geht hervor, daß in den. Jahren 1838 bis 1900 in Frankreich die Kriminalität Jugendlicher von jährlich 20 auf 140 stieg, während die Kriminalität der erwachsnen Verbrecher ungefähr auf derselben

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/482
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/482>, abgerufen am 22.07.2024.