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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Sevilla

oder in einer Schule sollten überall zur Verfügung stehn. Wer die einschlagenden
Berichte verfolgt, wird mit Genugtuung festgestellt haben, daß in Thüringen
und im Königreich Sachsen fast jede kleine Stadt ihre Sammlung hat, und
daß in den letzten Jahren sogar schon einige Dörfer angefangen haben, den
Hausrat der Vorfahren zu beachten und in der Schule oder einem sonstigen
Passenden Raum aufzubewahren. Es ist zu wünschen, daß die Versammlung in
Hannover die Frage der Heimatkunde und Volksbildung einen Schritt vor¬
R. Krieg wärts bringt.




Sevilla
Martin Andersen Nexö Reiseerinnerungen vonin

rößere Städte haben zumeist irgend etwas an sich, das die Erinne¬
rung an sie unabweisbar begleitet und jedem noch so geringen
Andenken Farbe und Stimmung, vielleicht mitunter auch einen
leise abstoßenden Beigeschmack verleiht. Es kann dies das Bier
sein, wie es klebrig und malzduftend in Münchens Rinnsteinen
fließt, oder das durchdringende Gebrüll menschlicher Stimmen, das Tag und
Nacht Neapel durchdröhnt. In Rom ist es das leise Wassergemurmel hinter
allen Mauern, und wer kann im Geiste Venedig vor sich sehen, ohne daß der
Campanile das Tragende an dem Bilde wird? Über jeder Erinnerung, sogar der
allerblässesten, ragt er empor, auch wenn man ihn mit eignen Augen in Trümmern
liegen gesehen hat.

Es liegt etwas Ansprechendes darin, daß ein Turm eine ganze Stadt
trägt, wie ein Aufgesaug über ihren Hunderttausenden steht und selbst dann
noch steht, nachdem er gefallen ist. Und alle Städte haben ja Türme, die eine
solche Stelle einnehmen könnten. Aber nicht alle offenbaren trotz ihrer architek¬
tonischen Schönheit in ihren Steinblöcken Leben und Sinn, nicht alle begegnen
einem aus der Ferne schon als der kluge, weitschauende Blick ihrer Stadt, bilden
den hohen Hintergrund für jeden Platz, jedes kleinste Gäßchen.

Sevilla hat La Giralda!

Sechs Meilen hinaus ins flache Land, das die Stadt umgibt, ist La Giralda
zu sehen, und die Bauern, die da draußen in der blutroten Erde ackern, weisen
hin und sagen mit leuchtenden Augen: "Seht, dort liegt Sevilla!" Der Turm
spielt im Sonnenlicht mit seinen farbenprächtigen Azulejosfliesen, und unter ihm,
hinter dem Horizont versteckt, liegt die Stadt und feiert. Und eines Tages,
wenn sie Geld genug gesammelt hat, dann -- salto, es lebe die Freude! es
lebe das frohe Sevilla!

Durch den schmalen Lauf des Guadalquivirs winden sich skandinavische,
deutsche und englische Dampfschiffe, kriechen mit dem Flußwasser über die Sand-


Grenzboten III 1907 82
Sevilla

oder in einer Schule sollten überall zur Verfügung stehn. Wer die einschlagenden
Berichte verfolgt, wird mit Genugtuung festgestellt haben, daß in Thüringen
und im Königreich Sachsen fast jede kleine Stadt ihre Sammlung hat, und
daß in den letzten Jahren sogar schon einige Dörfer angefangen haben, den
Hausrat der Vorfahren zu beachten und in der Schule oder einem sonstigen
Passenden Raum aufzubewahren. Es ist zu wünschen, daß die Versammlung in
Hannover die Frage der Heimatkunde und Volksbildung einen Schritt vor¬
R. Krieg wärts bringt.




Sevilla
Martin Andersen Nexö Reiseerinnerungen vonin

rößere Städte haben zumeist irgend etwas an sich, das die Erinne¬
rung an sie unabweisbar begleitet und jedem noch so geringen
Andenken Farbe und Stimmung, vielleicht mitunter auch einen
leise abstoßenden Beigeschmack verleiht. Es kann dies das Bier
sein, wie es klebrig und malzduftend in Münchens Rinnsteinen
fließt, oder das durchdringende Gebrüll menschlicher Stimmen, das Tag und
Nacht Neapel durchdröhnt. In Rom ist es das leise Wassergemurmel hinter
allen Mauern, und wer kann im Geiste Venedig vor sich sehen, ohne daß der
Campanile das Tragende an dem Bilde wird? Über jeder Erinnerung, sogar der
allerblässesten, ragt er empor, auch wenn man ihn mit eignen Augen in Trümmern
liegen gesehen hat.

Es liegt etwas Ansprechendes darin, daß ein Turm eine ganze Stadt
trägt, wie ein Aufgesaug über ihren Hunderttausenden steht und selbst dann
noch steht, nachdem er gefallen ist. Und alle Städte haben ja Türme, die eine
solche Stelle einnehmen könnten. Aber nicht alle offenbaren trotz ihrer architek¬
tonischen Schönheit in ihren Steinblöcken Leben und Sinn, nicht alle begegnen
einem aus der Ferne schon als der kluge, weitschauende Blick ihrer Stadt, bilden
den hohen Hintergrund für jeden Platz, jedes kleinste Gäßchen.

Sevilla hat La Giralda!

Sechs Meilen hinaus ins flache Land, das die Stadt umgibt, ist La Giralda
zu sehen, und die Bauern, die da draußen in der blutroten Erde ackern, weisen
hin und sagen mit leuchtenden Augen: „Seht, dort liegt Sevilla!" Der Turm
spielt im Sonnenlicht mit seinen farbenprächtigen Azulejosfliesen, und unter ihm,
hinter dem Horizont versteckt, liegt die Stadt und feiert. Und eines Tages,
wenn sie Geld genug gesammelt hat, dann — salto, es lebe die Freude! es
lebe das frohe Sevilla!

Durch den schmalen Lauf des Guadalquivirs winden sich skandinavische,
deutsche und englische Dampfschiffe, kriechen mit dem Flußwasser über die Sand-


Grenzboten III 1907 82
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[0633] Sevilla oder in einer Schule sollten überall zur Verfügung stehn. Wer die einschlagenden Berichte verfolgt, wird mit Genugtuung festgestellt haben, daß in Thüringen und im Königreich Sachsen fast jede kleine Stadt ihre Sammlung hat, und daß in den letzten Jahren sogar schon einige Dörfer angefangen haben, den Hausrat der Vorfahren zu beachten und in der Schule oder einem sonstigen Passenden Raum aufzubewahren. Es ist zu wünschen, daß die Versammlung in Hannover die Frage der Heimatkunde und Volksbildung einen Schritt vor¬ R. Krieg wärts bringt. Sevilla Martin Andersen Nexö Reiseerinnerungen vonin rößere Städte haben zumeist irgend etwas an sich, das die Erinne¬ rung an sie unabweisbar begleitet und jedem noch so geringen Andenken Farbe und Stimmung, vielleicht mitunter auch einen leise abstoßenden Beigeschmack verleiht. Es kann dies das Bier sein, wie es klebrig und malzduftend in Münchens Rinnsteinen fließt, oder das durchdringende Gebrüll menschlicher Stimmen, das Tag und Nacht Neapel durchdröhnt. In Rom ist es das leise Wassergemurmel hinter allen Mauern, und wer kann im Geiste Venedig vor sich sehen, ohne daß der Campanile das Tragende an dem Bilde wird? Über jeder Erinnerung, sogar der allerblässesten, ragt er empor, auch wenn man ihn mit eignen Augen in Trümmern liegen gesehen hat. Es liegt etwas Ansprechendes darin, daß ein Turm eine ganze Stadt trägt, wie ein Aufgesaug über ihren Hunderttausenden steht und selbst dann noch steht, nachdem er gefallen ist. Und alle Städte haben ja Türme, die eine solche Stelle einnehmen könnten. Aber nicht alle offenbaren trotz ihrer architek¬ tonischen Schönheit in ihren Steinblöcken Leben und Sinn, nicht alle begegnen einem aus der Ferne schon als der kluge, weitschauende Blick ihrer Stadt, bilden den hohen Hintergrund für jeden Platz, jedes kleinste Gäßchen. Sevilla hat La Giralda! Sechs Meilen hinaus ins flache Land, das die Stadt umgibt, ist La Giralda zu sehen, und die Bauern, die da draußen in der blutroten Erde ackern, weisen hin und sagen mit leuchtenden Augen: „Seht, dort liegt Sevilla!" Der Turm spielt im Sonnenlicht mit seinen farbenprächtigen Azulejosfliesen, und unter ihm, hinter dem Horizont versteckt, liegt die Stadt und feiert. Und eines Tages, wenn sie Geld genug gesammelt hat, dann — salto, es lebe die Freude! es lebe das frohe Sevilla! Durch den schmalen Lauf des Guadalquivirs winden sich skandinavische, deutsche und englische Dampfschiffe, kriechen mit dem Flußwasser über die Sand- Grenzboten III 1907 82

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/633>, abgerufen am 04.12.2024.