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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Lidern und Rinder

zu der dekadenten Stimmung unsrer Literatur, die von Frankreich und Nor¬
wegen zu uns herübergekommen ist. In diesen Ländern ist sie erklärlich: unser
westlicher Nachbar ist seit dem Deutsch-französischen Kriege in seinem Ansehen und
in seiner Ausdehnungskraft sehr zurückgegangen, und das spärlich bevölkerte
nordische Reich kann bei seinen bäuerlichen Verhältnissen und seinem abgeschiednen
Stillleben weder politische noch wirtschaftliche Fortschritte machen. Der Humor
ist in der deutschen Literatur selten anzutreffen, da zu dieser Geistesstimmung
eine gewisse Herrschaft über das Leben gehört, die unsre Schriftsteller meist nicht
besitzen. Unsre Possen und Schwänke bewegen sich ausschließlich im Wort- und
Situationswitz, Charakterkvmik sucht man vergeblich im dentschen Drama.

Gebildete Männer des praktischen Lebens äußern oft, es sei ihnen nicht
möglich, einen naturalistischen Roman zu lesen oder ein modernes Milieustück
zu sehen. Sie halten sich gewöhnlich an Zeitungen und Zeitschriften und gehn
sehr selten ins Theater. Man hört deshalb drufig die Klage, der literarische
Geschmack habe sich verflacht. Sie wäre nicht berechtigt, wenn uns der Na¬
turalismus neue Ideale anstatt widerspruchsvoller Theorien und ein echtes und
umfassendes Bild des modernen Lebens anstatt abstoßender Verzerrungen böte.




(Lidern und Kinder
Lrnst Borkowsky Vonin
(Schluß)

es glaube, es gibt viele Menschen in unserm deutschen Lande, die
sich noch immer höhere Kulturwesen dünken als die Japaner. Aber
sie wissen Wohl nicht, daß diese Mongolen in ihrer Pädagogik
nur sanfte Mittel gebrauchen -- und doch werden ihre Söhne
Männer mit männlichem Ertragen, mit aufopfernder Heldenhaftig-
keit und ritterlichem Gefühl. Wie hätten mich Schwächlinge das ungefüge Nußland
besiegen können!

Ein guter Vater nimmt keine Haustyrannenpose an; er gewöhnt sich auch
das unerträgliche Allesbesserwissenwollen und den lustigen Dozierton ab und
bleibt allein der ältere Kamerad seiner Kinder. Es gibt ein vortreffliches
Mittel der Selbstkontrolle. Auch Elleu Key empfiehlt es: Frage dich als Er¬
zieher stets in kleinen wie in großen Dingen: "Würde ich selbst damit einver¬
standen sein, so behandelt zu werden, wie ich eben mein Kind behandelt habe?"

Kinder sind kein wirtschaftliches Inventar, keine Sachen, sondern Persönlich¬
keiten. Sie bilden sogar die Majorität der menschlichen Wesen. Sie sind
auch keine reinen Blätter, auf die die Eltern ihre Handschrift schreiben dürfen,


Lidern und Rinder

zu der dekadenten Stimmung unsrer Literatur, die von Frankreich und Nor¬
wegen zu uns herübergekommen ist. In diesen Ländern ist sie erklärlich: unser
westlicher Nachbar ist seit dem Deutsch-französischen Kriege in seinem Ansehen und
in seiner Ausdehnungskraft sehr zurückgegangen, und das spärlich bevölkerte
nordische Reich kann bei seinen bäuerlichen Verhältnissen und seinem abgeschiednen
Stillleben weder politische noch wirtschaftliche Fortschritte machen. Der Humor
ist in der deutschen Literatur selten anzutreffen, da zu dieser Geistesstimmung
eine gewisse Herrschaft über das Leben gehört, die unsre Schriftsteller meist nicht
besitzen. Unsre Possen und Schwänke bewegen sich ausschließlich im Wort- und
Situationswitz, Charakterkvmik sucht man vergeblich im dentschen Drama.

Gebildete Männer des praktischen Lebens äußern oft, es sei ihnen nicht
möglich, einen naturalistischen Roman zu lesen oder ein modernes Milieustück
zu sehen. Sie halten sich gewöhnlich an Zeitungen und Zeitschriften und gehn
sehr selten ins Theater. Man hört deshalb drufig die Klage, der literarische
Geschmack habe sich verflacht. Sie wäre nicht berechtigt, wenn uns der Na¬
turalismus neue Ideale anstatt widerspruchsvoller Theorien und ein echtes und
umfassendes Bild des modernen Lebens anstatt abstoßender Verzerrungen böte.




(Lidern und Kinder
Lrnst Borkowsky Vonin
(Schluß)

es glaube, es gibt viele Menschen in unserm deutschen Lande, die
sich noch immer höhere Kulturwesen dünken als die Japaner. Aber
sie wissen Wohl nicht, daß diese Mongolen in ihrer Pädagogik
nur sanfte Mittel gebrauchen — und doch werden ihre Söhne
Männer mit männlichem Ertragen, mit aufopfernder Heldenhaftig-
keit und ritterlichem Gefühl. Wie hätten mich Schwächlinge das ungefüge Nußland
besiegen können!

Ein guter Vater nimmt keine Haustyrannenpose an; er gewöhnt sich auch
das unerträgliche Allesbesserwissenwollen und den lustigen Dozierton ab und
bleibt allein der ältere Kamerad seiner Kinder. Es gibt ein vortreffliches
Mittel der Selbstkontrolle. Auch Elleu Key empfiehlt es: Frage dich als Er¬
zieher stets in kleinen wie in großen Dingen: „Würde ich selbst damit einver¬
standen sein, so behandelt zu werden, wie ich eben mein Kind behandelt habe?"

Kinder sind kein wirtschaftliches Inventar, keine Sachen, sondern Persönlich¬
keiten. Sie bilden sogar die Majorität der menschlichen Wesen. Sie sind
auch keine reinen Blätter, auf die die Eltern ihre Handschrift schreiben dürfen,


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[0088] Lidern und Rinder zu der dekadenten Stimmung unsrer Literatur, die von Frankreich und Nor¬ wegen zu uns herübergekommen ist. In diesen Ländern ist sie erklärlich: unser westlicher Nachbar ist seit dem Deutsch-französischen Kriege in seinem Ansehen und in seiner Ausdehnungskraft sehr zurückgegangen, und das spärlich bevölkerte nordische Reich kann bei seinen bäuerlichen Verhältnissen und seinem abgeschiednen Stillleben weder politische noch wirtschaftliche Fortschritte machen. Der Humor ist in der deutschen Literatur selten anzutreffen, da zu dieser Geistesstimmung eine gewisse Herrschaft über das Leben gehört, die unsre Schriftsteller meist nicht besitzen. Unsre Possen und Schwänke bewegen sich ausschließlich im Wort- und Situationswitz, Charakterkvmik sucht man vergeblich im dentschen Drama. Gebildete Männer des praktischen Lebens äußern oft, es sei ihnen nicht möglich, einen naturalistischen Roman zu lesen oder ein modernes Milieustück zu sehen. Sie halten sich gewöhnlich an Zeitungen und Zeitschriften und gehn sehr selten ins Theater. Man hört deshalb drufig die Klage, der literarische Geschmack habe sich verflacht. Sie wäre nicht berechtigt, wenn uns der Na¬ turalismus neue Ideale anstatt widerspruchsvoller Theorien und ein echtes und umfassendes Bild des modernen Lebens anstatt abstoßender Verzerrungen böte. (Lidern und Kinder Lrnst Borkowsky Vonin (Schluß) es glaube, es gibt viele Menschen in unserm deutschen Lande, die sich noch immer höhere Kulturwesen dünken als die Japaner. Aber sie wissen Wohl nicht, daß diese Mongolen in ihrer Pädagogik nur sanfte Mittel gebrauchen — und doch werden ihre Söhne Männer mit männlichem Ertragen, mit aufopfernder Heldenhaftig- keit und ritterlichem Gefühl. Wie hätten mich Schwächlinge das ungefüge Nußland besiegen können! Ein guter Vater nimmt keine Haustyrannenpose an; er gewöhnt sich auch das unerträgliche Allesbesserwissenwollen und den lustigen Dozierton ab und bleibt allein der ältere Kamerad seiner Kinder. Es gibt ein vortreffliches Mittel der Selbstkontrolle. Auch Elleu Key empfiehlt es: Frage dich als Er¬ zieher stets in kleinen wie in großen Dingen: „Würde ich selbst damit einver¬ standen sein, so behandelt zu werden, wie ich eben mein Kind behandelt habe?" Kinder sind kein wirtschaftliches Inventar, keine Sachen, sondern Persönlich¬ keiten. Sie bilden sogar die Majorität der menschlichen Wesen. Sie sind auch keine reinen Blätter, auf die die Eltern ihre Handschrift schreiben dürfen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/88>, abgerufen am 05.02.2025.