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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Apollonios von Rhodos im dritten Jahrhundert v. Chr. rekonstruiert hat. Eine enge
Beziehung besteht überhaupt und im allgemeinen zwischen der richtigen Handels¬
reise und der mythologischen Erzählung. Was die griechischen Händler von ihren
Reisen heimbrachten, die pittoresken Gegenden, die sie beschrieben, die barbarischen
Sitten, von denen sie berichteten, die Erzählungen von den Märkten, die sie be¬
suchten, alles dies transformierte sich rasch in poetische Fabeleien und vergrößerte
das über die alten griechischen Heroen überlieferte sagenhafte Erbgut. Roland,
Karl der Große, die Vier Haimonskinder verdanken ebenso tausend Züge und
tausend Lokalitäten ihrer Epopöen den Kaufleuten und Pilgern; die Phaethonmythe
lokalisierte sich in den Bernsteinmärkten, die Herkulessage auf den Karawanenstraßen,
der Argonautenzug -- und die Odyssee -- auf Meer- und Flußrouten. Denn:
die Argonauten fuhren die Rhone hinauf und drangen von da in das Rheintal.
Der Dichter sagt, daß sie nicht bemerkten, als ihr Schiff den einen Strom verließ
und den andern befuhr. Es schien ihnen (Argonautica IV, 632--37), als ob der¬
selbe Fluß in verschiedner Richtung fließe. Aber weit sind sie nicht in die Region
des Rheins eingedrungen. Als sie in das Land der Kelten und der großen stürmischen
Seen gekommen und durch eine plötzliche Strömung nach Norden geführt waren,
schrie sie Hera von der Höhe des Herkyniagebirges an (IV, 640), und sie kehrten
um. Die Seen sind nach Jnllicm der Neuchäteler und Vieler See; eine griechische
Handelsfahrt nach La Teile hat jenen Teil der Argonautica lokalisiert. Bis zu
diesem Handelsplatz konnten griechische Händler kommen, weiter durften sie vielleicht
vertragsmäßig nicht: Heras Erscheinen repräsentiert die von den Eingebornen auf¬
erlegte Konvention. Camille Jullian ist seiner Hypothese so sicher -- wir etwas
weniger, bekanntlich hat man statt Rhone und Rhein auch Po und Donau ange¬
nommen --, daß er schließt: "Dieses Rencontre der gallischen und der griechischen
Zivilisation, des Schiffes Argo und der Männer von La Teile in einem griechischen
Mythus ist eine der rührendsten Episoden in der alten Geschichte." Vielleicht bringen
die neu in Angriff zu nehmenden Forschungen in La Teile noch Material zum
Besuch griechischer Händler auf dem keltischen Hauptmarkt La Teile -- daß sich
noch ein schweizerisches Hotelfremdenbuch findet, in das sich die Argonauten ein¬
in. geschrieben hätten, wagen wir allerdings nicht zu hoffen.







Maßgebliches und Unmaßgebliches

Apollonios von Rhodos im dritten Jahrhundert v. Chr. rekonstruiert hat. Eine enge
Beziehung besteht überhaupt und im allgemeinen zwischen der richtigen Handels¬
reise und der mythologischen Erzählung. Was die griechischen Händler von ihren
Reisen heimbrachten, die pittoresken Gegenden, die sie beschrieben, die barbarischen
Sitten, von denen sie berichteten, die Erzählungen von den Märkten, die sie be¬
suchten, alles dies transformierte sich rasch in poetische Fabeleien und vergrößerte
das über die alten griechischen Heroen überlieferte sagenhafte Erbgut. Roland,
Karl der Große, die Vier Haimonskinder verdanken ebenso tausend Züge und
tausend Lokalitäten ihrer Epopöen den Kaufleuten und Pilgern; die Phaethonmythe
lokalisierte sich in den Bernsteinmärkten, die Herkulessage auf den Karawanenstraßen,
der Argonautenzug — und die Odyssee — auf Meer- und Flußrouten. Denn:
die Argonauten fuhren die Rhone hinauf und drangen von da in das Rheintal.
Der Dichter sagt, daß sie nicht bemerkten, als ihr Schiff den einen Strom verließ
und den andern befuhr. Es schien ihnen (Argonautica IV, 632—37), als ob der¬
selbe Fluß in verschiedner Richtung fließe. Aber weit sind sie nicht in die Region
des Rheins eingedrungen. Als sie in das Land der Kelten und der großen stürmischen
Seen gekommen und durch eine plötzliche Strömung nach Norden geführt waren,
schrie sie Hera von der Höhe des Herkyniagebirges an (IV, 640), und sie kehrten
um. Die Seen sind nach Jnllicm der Neuchäteler und Vieler See; eine griechische
Handelsfahrt nach La Teile hat jenen Teil der Argonautica lokalisiert. Bis zu
diesem Handelsplatz konnten griechische Händler kommen, weiter durften sie vielleicht
vertragsmäßig nicht: Heras Erscheinen repräsentiert die von den Eingebornen auf¬
erlegte Konvention. Camille Jullian ist seiner Hypothese so sicher — wir etwas
weniger, bekanntlich hat man statt Rhone und Rhein auch Po und Donau ange¬
nommen —, daß er schließt: „Dieses Rencontre der gallischen und der griechischen
Zivilisation, des Schiffes Argo und der Männer von La Teile in einem griechischen
Mythus ist eine der rührendsten Episoden in der alten Geschichte." Vielleicht bringen
die neu in Angriff zu nehmenden Forschungen in La Teile noch Material zum
Besuch griechischer Händler auf dem keltischen Hauptmarkt La Teile — daß sich
noch ein schweizerisches Hotelfremdenbuch findet, in das sich die Argonauten ein¬
in. geschrieben hätten, wagen wir allerdings nicht zu hoffen.







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[0652] Maßgebliches und Unmaßgebliches Apollonios von Rhodos im dritten Jahrhundert v. Chr. rekonstruiert hat. Eine enge Beziehung besteht überhaupt und im allgemeinen zwischen der richtigen Handels¬ reise und der mythologischen Erzählung. Was die griechischen Händler von ihren Reisen heimbrachten, die pittoresken Gegenden, die sie beschrieben, die barbarischen Sitten, von denen sie berichteten, die Erzählungen von den Märkten, die sie be¬ suchten, alles dies transformierte sich rasch in poetische Fabeleien und vergrößerte das über die alten griechischen Heroen überlieferte sagenhafte Erbgut. Roland, Karl der Große, die Vier Haimonskinder verdanken ebenso tausend Züge und tausend Lokalitäten ihrer Epopöen den Kaufleuten und Pilgern; die Phaethonmythe lokalisierte sich in den Bernsteinmärkten, die Herkulessage auf den Karawanenstraßen, der Argonautenzug — und die Odyssee — auf Meer- und Flußrouten. Denn: die Argonauten fuhren die Rhone hinauf und drangen von da in das Rheintal. Der Dichter sagt, daß sie nicht bemerkten, als ihr Schiff den einen Strom verließ und den andern befuhr. Es schien ihnen (Argonautica IV, 632—37), als ob der¬ selbe Fluß in verschiedner Richtung fließe. Aber weit sind sie nicht in die Region des Rheins eingedrungen. Als sie in das Land der Kelten und der großen stürmischen Seen gekommen und durch eine plötzliche Strömung nach Norden geführt waren, schrie sie Hera von der Höhe des Herkyniagebirges an (IV, 640), und sie kehrten um. Die Seen sind nach Jnllicm der Neuchäteler und Vieler See; eine griechische Handelsfahrt nach La Teile hat jenen Teil der Argonautica lokalisiert. Bis zu diesem Handelsplatz konnten griechische Händler kommen, weiter durften sie vielleicht vertragsmäßig nicht: Heras Erscheinen repräsentiert die von den Eingebornen auf¬ erlegte Konvention. Camille Jullian ist seiner Hypothese so sicher — wir etwas weniger, bekanntlich hat man statt Rhone und Rhein auch Po und Donau ange¬ nommen —, daß er schließt: „Dieses Rencontre der gallischen und der griechischen Zivilisation, des Schiffes Argo und der Männer von La Teile in einem griechischen Mythus ist eine der rührendsten Episoden in der alten Geschichte." Vielleicht bringen die neu in Angriff zu nehmenden Forschungen in La Teile noch Material zum Besuch griechischer Händler auf dem keltischen Hauptmarkt La Teile — daß sich noch ein schweizerisches Hotelfremdenbuch findet, in das sich die Argonauten ein¬ in. geschrieben hätten, wagen wir allerdings nicht zu hoffen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/652>, abgerufen am 05.02.2025.