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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Für die Reichshauptstadt

Wesen in ganz unglaublicher Weise ausgebildet. In Bremen, einer Stadt von
215000 Einwohnern, gebe es 312 Vereine, darunter 15 Stenographie-, 51 Ge¬
sangs-, 8 Instrumentalmusik-, 20 Turm- und 20 Kriegervereine.

Den deutschen Pädagogen widmet Huret ein ganzes Kapitel, um ihre
weltbekannte Überlegenheit über alle andern in das rechte Licht zu rücken.
Alle Bedingungen seien so gestaltet, daß das bestmögliche Resultat erreicht
werden müsse. Schon äußerlich betrachtet sei die deutsche Schule ein Muster
von Hygiene und Reinlichkeit, und die Gewöhnung hieran und die unerbitt¬
liche Schuldisziplin sei ein Schatz, den die Schüler für ihr ganzes Leben
ans der Schule mitnahmen. Die innere Arbeit der vielen Schulen, die er
besucht habe, sei geradezu musterhaft. Überall herrsche das für den Lehrer so
anstrengende Fragesystem, während sich in Frankreich der Lehrer fast ganz mit
dem Vortrage des Lehrstoffes begnüge. Auf die Individualität eines jeden
Schülers werde vom Lehrer eingegangen und immer erst dann zu einem neuen
Thema übergegangen, wenn das alte von allen Schülern begriffen worden sei.
Sehr bedenklich aber sei es, daß den Schülern so viel Religion und keine
Philosophie gelehrt werde. Auch die Universitäten Preußens würden von
religiösen Einflüssen beherrscht, und deshalb würde z. B. der "große Biologe"
Häckel nicht an die Berliner Universität berufen! Unbestreitbar aber sei, daß
der Siegeslauf, den deutsche Industrie, Handel und Schiffahrt genommen haben,
zum großen Teile der "erstklassiger" Ausbildung der Deutschen auf den wissen¬
schaftlichen und auf den Fachschulen zu verdanken sei. Bewundernswert sei
auch das deutsche System der Verbindung von Theorie und Praxis, wonach
die jungen Techniker der Hochschulen zunächst auf dem von ihnen gewählten
Gebiete praktisch tätig sein müssen, ehe ihre Ausbildung als vollendet betrachtet
wird, während in Frankreich noch die graue Theorie Alleinherrscherin sei und
es vorkomme, daß ein Mineningenieur noch niemals in einem Bergwerk ge¬
wesen sei.




Für die Reichshauptstadt

"
wundern,
umdrehnsehst abenteuerliche Vorstellungen von dem in den Berliner Ver¬
gnügungen herrschenden Geiste sind im Lande weit verbreitet,
als wären sie -- hier etwas feiner, dort etwas gröber -- wahre
Orgien moralischer Leichtlebigkeit. Daß in einer Riesenstadt
Ausschreitungen auf diesem Gebiete vorkommen, kann niemand
In einem Milieu, wo oft genug große Reichtümer im Haud-
erworben werden, werden die Parvenus niemals aussterben und
ebensowenig ihre unangenehmen Gepflogenheiten. In der Tat, es gibt Kreise


Für die Reichshauptstadt

Wesen in ganz unglaublicher Weise ausgebildet. In Bremen, einer Stadt von
215000 Einwohnern, gebe es 312 Vereine, darunter 15 Stenographie-, 51 Ge¬
sangs-, 8 Instrumentalmusik-, 20 Turm- und 20 Kriegervereine.

Den deutschen Pädagogen widmet Huret ein ganzes Kapitel, um ihre
weltbekannte Überlegenheit über alle andern in das rechte Licht zu rücken.
Alle Bedingungen seien so gestaltet, daß das bestmögliche Resultat erreicht
werden müsse. Schon äußerlich betrachtet sei die deutsche Schule ein Muster
von Hygiene und Reinlichkeit, und die Gewöhnung hieran und die unerbitt¬
liche Schuldisziplin sei ein Schatz, den die Schüler für ihr ganzes Leben
ans der Schule mitnahmen. Die innere Arbeit der vielen Schulen, die er
besucht habe, sei geradezu musterhaft. Überall herrsche das für den Lehrer so
anstrengende Fragesystem, während sich in Frankreich der Lehrer fast ganz mit
dem Vortrage des Lehrstoffes begnüge. Auf die Individualität eines jeden
Schülers werde vom Lehrer eingegangen und immer erst dann zu einem neuen
Thema übergegangen, wenn das alte von allen Schülern begriffen worden sei.
Sehr bedenklich aber sei es, daß den Schülern so viel Religion und keine
Philosophie gelehrt werde. Auch die Universitäten Preußens würden von
religiösen Einflüssen beherrscht, und deshalb würde z. B. der „große Biologe"
Häckel nicht an die Berliner Universität berufen! Unbestreitbar aber sei, daß
der Siegeslauf, den deutsche Industrie, Handel und Schiffahrt genommen haben,
zum großen Teile der „erstklassiger" Ausbildung der Deutschen auf den wissen¬
schaftlichen und auf den Fachschulen zu verdanken sei. Bewundernswert sei
auch das deutsche System der Verbindung von Theorie und Praxis, wonach
die jungen Techniker der Hochschulen zunächst auf dem von ihnen gewählten
Gebiete praktisch tätig sein müssen, ehe ihre Ausbildung als vollendet betrachtet
wird, während in Frankreich noch die graue Theorie Alleinherrscherin sei und
es vorkomme, daß ein Mineningenieur noch niemals in einem Bergwerk ge¬
wesen sei.




Für die Reichshauptstadt

«
wundern,
umdrehnsehst abenteuerliche Vorstellungen von dem in den Berliner Ver¬
gnügungen herrschenden Geiste sind im Lande weit verbreitet,
als wären sie — hier etwas feiner, dort etwas gröber — wahre
Orgien moralischer Leichtlebigkeit. Daß in einer Riesenstadt
Ausschreitungen auf diesem Gebiete vorkommen, kann niemand
In einem Milieu, wo oft genug große Reichtümer im Haud-
erworben werden, werden die Parvenus niemals aussterben und
ebensowenig ihre unangenehmen Gepflogenheiten. In der Tat, es gibt Kreise


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[0292] Für die Reichshauptstadt Wesen in ganz unglaublicher Weise ausgebildet. In Bremen, einer Stadt von 215000 Einwohnern, gebe es 312 Vereine, darunter 15 Stenographie-, 51 Ge¬ sangs-, 8 Instrumentalmusik-, 20 Turm- und 20 Kriegervereine. Den deutschen Pädagogen widmet Huret ein ganzes Kapitel, um ihre weltbekannte Überlegenheit über alle andern in das rechte Licht zu rücken. Alle Bedingungen seien so gestaltet, daß das bestmögliche Resultat erreicht werden müsse. Schon äußerlich betrachtet sei die deutsche Schule ein Muster von Hygiene und Reinlichkeit, und die Gewöhnung hieran und die unerbitt¬ liche Schuldisziplin sei ein Schatz, den die Schüler für ihr ganzes Leben ans der Schule mitnahmen. Die innere Arbeit der vielen Schulen, die er besucht habe, sei geradezu musterhaft. Überall herrsche das für den Lehrer so anstrengende Fragesystem, während sich in Frankreich der Lehrer fast ganz mit dem Vortrage des Lehrstoffes begnüge. Auf die Individualität eines jeden Schülers werde vom Lehrer eingegangen und immer erst dann zu einem neuen Thema übergegangen, wenn das alte von allen Schülern begriffen worden sei. Sehr bedenklich aber sei es, daß den Schülern so viel Religion und keine Philosophie gelehrt werde. Auch die Universitäten Preußens würden von religiösen Einflüssen beherrscht, und deshalb würde z. B. der „große Biologe" Häckel nicht an die Berliner Universität berufen! Unbestreitbar aber sei, daß der Siegeslauf, den deutsche Industrie, Handel und Schiffahrt genommen haben, zum großen Teile der „erstklassiger" Ausbildung der Deutschen auf den wissen¬ schaftlichen und auf den Fachschulen zu verdanken sei. Bewundernswert sei auch das deutsche System der Verbindung von Theorie und Praxis, wonach die jungen Techniker der Hochschulen zunächst auf dem von ihnen gewählten Gebiete praktisch tätig sein müssen, ehe ihre Ausbildung als vollendet betrachtet wird, während in Frankreich noch die graue Theorie Alleinherrscherin sei und es vorkomme, daß ein Mineningenieur noch niemals in einem Bergwerk ge¬ wesen sei. Für die Reichshauptstadt « wundern, umdrehnsehst abenteuerliche Vorstellungen von dem in den Berliner Ver¬ gnügungen herrschenden Geiste sind im Lande weit verbreitet, als wären sie — hier etwas feiner, dort etwas gröber — wahre Orgien moralischer Leichtlebigkeit. Daß in einer Riesenstadt Ausschreitungen auf diesem Gebiete vorkommen, kann niemand In einem Milieu, wo oft genug große Reichtümer im Haud- erworben werden, werden die Parvenus niemals aussterben und ebensowenig ihre unangenehmen Gepflogenheiten. In der Tat, es gibt Kreise

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/292>, abgerufen am 05.02.2025.