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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Russische Briefe
George Lleinow von 6

NMH)in Mittelpunkt der Aufmerksamkeit aller Politiker an der Newa
steht ein jüngst in der ^unes veröffentlichter Brief des auch in
Deutschland bekannten Lehrers des internationalen Rechts, Pro¬
fessor Martens. Der Gelehrte stellt darin fest, im Interesse
Rußlands müsse die gegenwärtig tagende Reichsduma aufgelöst
werden. Wenn Herr Martens ein einfacher Parteimann wäre, der, wie die
nationalen Monarchisten, die Volksvertretung überhaupt zum Teufel wünschte,
dann wäre an seiner Äußerung nichts bemerkenswertes. Aber Herr Martens
ist Gelehrter, der durch sein Spezialfach seit Jahren gezwungen ist, die politischen
Faktoren streng sachlich danach zu ordnen, in welchem Verhältnis sie zum
Heile Rußlands stehen, ohne es selbst nötig zu haben, sie nach den Bedürf¬
nissen des Augenblicks zu handhaben. Wenn ein solcher Mann, dessen theoretische
Sympathie obendrein noch bei den in Westeuropa vorherrschenden Staatsformen
liegt, unumwunden ausspricht, die in schweren Kämpfen geborne Volksvertretung
'"uffe aufgelöst werden, dann müssen tiefe, schwerwiegende Gründe dafür vor¬
handen sein. Es soll versucht werden, diese Gründe hier darzustellen.

Bei meiner Beurteilung der Lage und der Vorgänge in Rußland gehe ich
von dem Standpunkt aus, daß alle politischen Aktionen und Winkelzüge der
Schaffung einer dem Bedürfnis der russischen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit
entsprechenden Verfassung dienen. Dabei scheint es mir gleichgiltig, ob solche
Handlungen ausgehen von Gegnern oder Freunden der Konstitution oder von
Anhängern der Monarchie oder der Republik, mit oder wider Willen helfen
sie am Bau der Verfassung. Das werdende Rußland hat uoch keine Verfassung,
will sagen, hat noch keine Grundlage, auf der sich ein modernes, sicher stehendes
Staatsgebäude errichten lassen könnte. Denn der Zar hat nicht die Macht, die
seinerseits oktroyierte Verfassung vom April 190K, so wie sie ist, durchzusetzen.


Grenzboten II 1907 36


Russische Briefe
George Lleinow von 6

NMH)in Mittelpunkt der Aufmerksamkeit aller Politiker an der Newa
steht ein jüngst in der ^unes veröffentlichter Brief des auch in
Deutschland bekannten Lehrers des internationalen Rechts, Pro¬
fessor Martens. Der Gelehrte stellt darin fest, im Interesse
Rußlands müsse die gegenwärtig tagende Reichsduma aufgelöst
werden. Wenn Herr Martens ein einfacher Parteimann wäre, der, wie die
nationalen Monarchisten, die Volksvertretung überhaupt zum Teufel wünschte,
dann wäre an seiner Äußerung nichts bemerkenswertes. Aber Herr Martens
ist Gelehrter, der durch sein Spezialfach seit Jahren gezwungen ist, die politischen
Faktoren streng sachlich danach zu ordnen, in welchem Verhältnis sie zum
Heile Rußlands stehen, ohne es selbst nötig zu haben, sie nach den Bedürf¬
nissen des Augenblicks zu handhaben. Wenn ein solcher Mann, dessen theoretische
Sympathie obendrein noch bei den in Westeuropa vorherrschenden Staatsformen
liegt, unumwunden ausspricht, die in schweren Kämpfen geborne Volksvertretung
'"uffe aufgelöst werden, dann müssen tiefe, schwerwiegende Gründe dafür vor¬
handen sein. Es soll versucht werden, diese Gründe hier darzustellen.

Bei meiner Beurteilung der Lage und der Vorgänge in Rußland gehe ich
von dem Standpunkt aus, daß alle politischen Aktionen und Winkelzüge der
Schaffung einer dem Bedürfnis der russischen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit
entsprechenden Verfassung dienen. Dabei scheint es mir gleichgiltig, ob solche
Handlungen ausgehen von Gegnern oder Freunden der Konstitution oder von
Anhängern der Monarchie oder der Republik, mit oder wider Willen helfen
sie am Bau der Verfassung. Das werdende Rußland hat uoch keine Verfassung,
will sagen, hat noch keine Grundlage, auf der sich ein modernes, sicher stehendes
Staatsgebäude errichten lassen könnte. Denn der Zar hat nicht die Macht, die
seinerseits oktroyierte Verfassung vom April 190K, so wie sie ist, durchzusetzen.


Grenzboten II 1907 36
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[0277] [Abbildung] Russische Briefe George Lleinow von 6 NMH)in Mittelpunkt der Aufmerksamkeit aller Politiker an der Newa steht ein jüngst in der ^unes veröffentlichter Brief des auch in Deutschland bekannten Lehrers des internationalen Rechts, Pro¬ fessor Martens. Der Gelehrte stellt darin fest, im Interesse Rußlands müsse die gegenwärtig tagende Reichsduma aufgelöst werden. Wenn Herr Martens ein einfacher Parteimann wäre, der, wie die nationalen Monarchisten, die Volksvertretung überhaupt zum Teufel wünschte, dann wäre an seiner Äußerung nichts bemerkenswertes. Aber Herr Martens ist Gelehrter, der durch sein Spezialfach seit Jahren gezwungen ist, die politischen Faktoren streng sachlich danach zu ordnen, in welchem Verhältnis sie zum Heile Rußlands stehen, ohne es selbst nötig zu haben, sie nach den Bedürf¬ nissen des Augenblicks zu handhaben. Wenn ein solcher Mann, dessen theoretische Sympathie obendrein noch bei den in Westeuropa vorherrschenden Staatsformen liegt, unumwunden ausspricht, die in schweren Kämpfen geborne Volksvertretung '"uffe aufgelöst werden, dann müssen tiefe, schwerwiegende Gründe dafür vor¬ handen sein. Es soll versucht werden, diese Gründe hier darzustellen. Bei meiner Beurteilung der Lage und der Vorgänge in Rußland gehe ich von dem Standpunkt aus, daß alle politischen Aktionen und Winkelzüge der Schaffung einer dem Bedürfnis der russischen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit entsprechenden Verfassung dienen. Dabei scheint es mir gleichgiltig, ob solche Handlungen ausgehen von Gegnern oder Freunden der Konstitution oder von Anhängern der Monarchie oder der Republik, mit oder wider Willen helfen sie am Bau der Verfassung. Das werdende Rußland hat uoch keine Verfassung, will sagen, hat noch keine Grundlage, auf der sich ein modernes, sicher stehendes Staatsgebäude errichten lassen könnte. Denn der Zar hat nicht die Macht, die seinerseits oktroyierte Verfassung vom April 190K, so wie sie ist, durchzusetzen. Grenzboten II 1907 36

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/277>, abgerufen am 05.02.2025.