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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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mit Grund behaupten, daß die wirkliche moralische Anschauungsweise der
Berliner eine andre sei als die des "gesitteten" Durchschnitts unsers Volkes
überhaupt? Allerdings, für Prüderie, Heuchelei ist in Berlin wenig Raum
mehr; im allgemeinen mag auch der "Ton" freier sein als in mancher
Provinzialstadt. Ein gerecht sein wollendes Urteil aber darf nicht an der
äußern Schale kleben. Nicht selten begegnet man dem Versuche, aus der
Tatsache, daß gewisse anrüchige und geradezu verwerfliche Dramen auf Berliner
Vühuen, und meist nur auf diesen, eine Zeit lang ihr Dasein fristen können,
auf die Moralität der Berliner zu schließen. Daß hier eine bedauerliche
Geschmacksverirrung im Spiele ist, sei ohne weiteres zugegeben; aber von der
großen Masse der Berliner Theaterbesucher darf unbedenklich gesagt werden,
daß sie sich diesen Genuß nicht aus innerm Hang zum Perversen verschaffen,
sondern zum Teil, weil es Modesache ist -- "man muß doch darüber mit¬
sprechen können!" --, zum andern Teil, weil in unsrer Zeit der Nervenüber¬
reiztheit nun einmal das sensationelle, das Außergewöhnliche überall den
Zulauf hat, sei es auch nur, um sich nachher über seine Abscheulichkeit weidlich
entrüsten zu können. Glaubt man, daß das anderwärts, bis zum kleinsten
Landstädtchen, anders sein würde? Dort kommen die Leute eben überhaupt
nicht in die Versuchung. Denn nur auf dem Untergrunde einer Millionen¬
bevölkerung können solche theatralische Wagnisse unternommen werden. Und
dabei stellen auch hier noch obendrein das Hnuptkontingent der Besucher wieder
die Fremden!




Gin Frauenberuf

le Herme, die Johannes Gruuow dem Minister Bosse im zweiten
Bande des Jahrgangs 1902 der Grenzboten errichtet hat, weist
gute Wege. Ich bin durch sie in einer glücklichen Stunde zu den
Grenzboten geführt worden und habe da Quellen gefunden, wo
man "Mut des reinen Lebens" trinken kann, Mut zur Menschen¬
liebe und zum Helfen. Mut zur Menschenliebe und zum Helfen kann ich daher
beim Leser voraussetzen, wenn ich ihn bitte, mit mir eine Form des mensch¬
lichen Elends, die die meisten Menschen nur oberflächlich kennen, und ein Mittel
zu ihrer Linderung zu betrachten.

Vor einigen Wochen las ich einen Vortrag über Prostitution und Ge¬
schlechtskrankheiten von Professor Dr. E. von Düring in Kiel*), danach einen
Artikel "Bilder aus der Gefängniswelt" von Schwester Henriette Arendt, Polizei-



Heft 5 der Flugschriften der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechts¬
krankheiten. Leipzig, Johann Ambrosius Barth, 190S.
Lin Frauenberuf

mit Grund behaupten, daß die wirkliche moralische Anschauungsweise der
Berliner eine andre sei als die des „gesitteten" Durchschnitts unsers Volkes
überhaupt? Allerdings, für Prüderie, Heuchelei ist in Berlin wenig Raum
mehr; im allgemeinen mag auch der „Ton" freier sein als in mancher
Provinzialstadt. Ein gerecht sein wollendes Urteil aber darf nicht an der
äußern Schale kleben. Nicht selten begegnet man dem Versuche, aus der
Tatsache, daß gewisse anrüchige und geradezu verwerfliche Dramen auf Berliner
Vühuen, und meist nur auf diesen, eine Zeit lang ihr Dasein fristen können,
auf die Moralität der Berliner zu schließen. Daß hier eine bedauerliche
Geschmacksverirrung im Spiele ist, sei ohne weiteres zugegeben; aber von der
großen Masse der Berliner Theaterbesucher darf unbedenklich gesagt werden,
daß sie sich diesen Genuß nicht aus innerm Hang zum Perversen verschaffen,
sondern zum Teil, weil es Modesache ist — „man muß doch darüber mit¬
sprechen können!" —, zum andern Teil, weil in unsrer Zeit der Nervenüber¬
reiztheit nun einmal das sensationelle, das Außergewöhnliche überall den
Zulauf hat, sei es auch nur, um sich nachher über seine Abscheulichkeit weidlich
entrüsten zu können. Glaubt man, daß das anderwärts, bis zum kleinsten
Landstädtchen, anders sein würde? Dort kommen die Leute eben überhaupt
nicht in die Versuchung. Denn nur auf dem Untergrunde einer Millionen¬
bevölkerung können solche theatralische Wagnisse unternommen werden. Und
dabei stellen auch hier noch obendrein das Hnuptkontingent der Besucher wieder
die Fremden!




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le Herme, die Johannes Gruuow dem Minister Bosse im zweiten
Bande des Jahrgangs 1902 der Grenzboten errichtet hat, weist
gute Wege. Ich bin durch sie in einer glücklichen Stunde zu den
Grenzboten geführt worden und habe da Quellen gefunden, wo
man „Mut des reinen Lebens" trinken kann, Mut zur Menschen¬
liebe und zum Helfen. Mut zur Menschenliebe und zum Helfen kann ich daher
beim Leser voraussetzen, wenn ich ihn bitte, mit mir eine Form des mensch¬
lichen Elends, die die meisten Menschen nur oberflächlich kennen, und ein Mittel
zu ihrer Linderung zu betrachten.

Vor einigen Wochen las ich einen Vortrag über Prostitution und Ge¬
schlechtskrankheiten von Professor Dr. E. von Düring in Kiel*), danach einen
Artikel „Bilder aus der Gefängniswelt" von Schwester Henriette Arendt, Polizei-



Heft 5 der Flugschriften der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechts¬
krankheiten. Leipzig, Johann Ambrosius Barth, 190S.
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[0237] Lin Frauenberuf mit Grund behaupten, daß die wirkliche moralische Anschauungsweise der Berliner eine andre sei als die des „gesitteten" Durchschnitts unsers Volkes überhaupt? Allerdings, für Prüderie, Heuchelei ist in Berlin wenig Raum mehr; im allgemeinen mag auch der „Ton" freier sein als in mancher Provinzialstadt. Ein gerecht sein wollendes Urteil aber darf nicht an der äußern Schale kleben. Nicht selten begegnet man dem Versuche, aus der Tatsache, daß gewisse anrüchige und geradezu verwerfliche Dramen auf Berliner Vühuen, und meist nur auf diesen, eine Zeit lang ihr Dasein fristen können, auf die Moralität der Berliner zu schließen. Daß hier eine bedauerliche Geschmacksverirrung im Spiele ist, sei ohne weiteres zugegeben; aber von der großen Masse der Berliner Theaterbesucher darf unbedenklich gesagt werden, daß sie sich diesen Genuß nicht aus innerm Hang zum Perversen verschaffen, sondern zum Teil, weil es Modesache ist — „man muß doch darüber mit¬ sprechen können!" —, zum andern Teil, weil in unsrer Zeit der Nervenüber¬ reiztheit nun einmal das sensationelle, das Außergewöhnliche überall den Zulauf hat, sei es auch nur, um sich nachher über seine Abscheulichkeit weidlich entrüsten zu können. Glaubt man, daß das anderwärts, bis zum kleinsten Landstädtchen, anders sein würde? Dort kommen die Leute eben überhaupt nicht in die Versuchung. Denn nur auf dem Untergrunde einer Millionen¬ bevölkerung können solche theatralische Wagnisse unternommen werden. Und dabei stellen auch hier noch obendrein das Hnuptkontingent der Besucher wieder die Fremden! Gin Frauenberuf le Herme, die Johannes Gruuow dem Minister Bosse im zweiten Bande des Jahrgangs 1902 der Grenzboten errichtet hat, weist gute Wege. Ich bin durch sie in einer glücklichen Stunde zu den Grenzboten geführt worden und habe da Quellen gefunden, wo man „Mut des reinen Lebens" trinken kann, Mut zur Menschen¬ liebe und zum Helfen. Mut zur Menschenliebe und zum Helfen kann ich daher beim Leser voraussetzen, wenn ich ihn bitte, mit mir eine Form des mensch¬ lichen Elends, die die meisten Menschen nur oberflächlich kennen, und ein Mittel zu ihrer Linderung zu betrachten. Vor einigen Wochen las ich einen Vortrag über Prostitution und Ge¬ schlechtskrankheiten von Professor Dr. E. von Düring in Kiel*), danach einen Artikel „Bilder aus der Gefängniswelt" von Schwester Henriette Arendt, Polizei- Heft 5 der Flugschriften der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechts¬ krankheiten. Leipzig, Johann Ambrosius Barth, 190S.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/237>, abgerufen am 05.02.2025.