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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Kapital an privaten Unternehmungen in irgendeinem Gebiet arbeiten zu lassen.
Und nur darum handelt es sich sowohl in Marokko als auch im Gebiet der Bagdad¬
bahn. Also ein Verzicht ist weder hier noch dort möglich. Als ein deutscher Erfolg
ist das Bagdadbahnunternehmen nur insofern gepriesen worden, als sich der Sultan
wahrscheinlich nicht so leicht dazu verstanden hätte, die Konzession zu erteilen, wenn
nicht das deutsche Kapital den Vortritt genommen und die technische Leitung in
deutsche Hand gelegt hätte. Erst dann entschloß sich Sultan Abdul Hamid zur
Genehmigung. Vielleicht ist dieser moralische Erfolg Deutschlands damals zu laut
und in mißverständlicher Form verkündet worden, sodaß das Ausland wirklich an
politische Wünsche Deutschlands und an eine beabsichtigte Monopolstellung mit poli¬
tischen Rechten zu glauben begann. Unvorsichtige Dithyramben sanguinischer Pro¬
jektenmacher in der deutschen Presse bestärkten diesen Glauben, der nur im Ausland
festgehalten wurde, um uns zu diskreditieren. Auch wenn diese Versuche, gegen uns
zu arbeiten, infolge irgendwelcher Vereinbarungen aufhörten, wir also gewissermaßen
"freie Hand" erhielten, würden wir uns auf eine politische Rolle auf Kosten der
Türkei nicht einlassen können. Es ist also nichts mit diesem Plan, und die sonst
sehr wünschenswerte Verständigung mit Frankreich müßte auf andrer Grundlage
zustande kommen. Diese Bedingungen wären aber die geringste Sorge. Wo ein
Wille ist, da ist auch ein Weg. Aber der Wille zur Verständigung muß wohl auf
französischer Seite noch einige Zeit reifen, wenngleich wir der chauvinistischen Ent¬
gleisung Clemenceans, der sich kürzlich in der Kammer mit naiver Offenheit zu den
populären Revanchegelüsten bekannte, nicht die große Bedeutung beilegen können,
die ihr vielfach gegeben wird.

Die innerpolitische Lage sparen wir uns diesesmal für eine weitere Wvchen-
betrachtung auf. Die sozialpolitische Debatte, die jedes Jahr beim Etat des Innern
im Reichstag so unglaublich viel Zeit verschlingt, ohne daß etwas Brauchbares
dabei herausspringt, ist noch im Gang, und das betrachtet man besser im Zusammen¬
hange. Das Ereignis der vergangnen Woche war die Mitteilung des sozial¬
politischen Programms des Grafen Posadowsky, das er ini Anschluß an die
Jungfernrede Friedrich Naumanns vor dem Reichstag entwickelte. Vorläufig ist
aber die Arbeit am Etat die einzige Tätigkeit des Reichstags, von der zurzeit die
Rede sei" kann.







Maßgebliches und Unmaßgebliches

Kapital an privaten Unternehmungen in irgendeinem Gebiet arbeiten zu lassen.
Und nur darum handelt es sich sowohl in Marokko als auch im Gebiet der Bagdad¬
bahn. Also ein Verzicht ist weder hier noch dort möglich. Als ein deutscher Erfolg
ist das Bagdadbahnunternehmen nur insofern gepriesen worden, als sich der Sultan
wahrscheinlich nicht so leicht dazu verstanden hätte, die Konzession zu erteilen, wenn
nicht das deutsche Kapital den Vortritt genommen und die technische Leitung in
deutsche Hand gelegt hätte. Erst dann entschloß sich Sultan Abdul Hamid zur
Genehmigung. Vielleicht ist dieser moralische Erfolg Deutschlands damals zu laut
und in mißverständlicher Form verkündet worden, sodaß das Ausland wirklich an
politische Wünsche Deutschlands und an eine beabsichtigte Monopolstellung mit poli¬
tischen Rechten zu glauben begann. Unvorsichtige Dithyramben sanguinischer Pro¬
jektenmacher in der deutschen Presse bestärkten diesen Glauben, der nur im Ausland
festgehalten wurde, um uns zu diskreditieren. Auch wenn diese Versuche, gegen uns
zu arbeiten, infolge irgendwelcher Vereinbarungen aufhörten, wir also gewissermaßen
„freie Hand" erhielten, würden wir uns auf eine politische Rolle auf Kosten der
Türkei nicht einlassen können. Es ist also nichts mit diesem Plan, und die sonst
sehr wünschenswerte Verständigung mit Frankreich müßte auf andrer Grundlage
zustande kommen. Diese Bedingungen wären aber die geringste Sorge. Wo ein
Wille ist, da ist auch ein Weg. Aber der Wille zur Verständigung muß wohl auf
französischer Seite noch einige Zeit reifen, wenngleich wir der chauvinistischen Ent¬
gleisung Clemenceans, der sich kürzlich in der Kammer mit naiver Offenheit zu den
populären Revanchegelüsten bekannte, nicht die große Bedeutung beilegen können,
die ihr vielfach gegeben wird.

Die innerpolitische Lage sparen wir uns diesesmal für eine weitere Wvchen-
betrachtung auf. Die sozialpolitische Debatte, die jedes Jahr beim Etat des Innern
im Reichstag so unglaublich viel Zeit verschlingt, ohne daß etwas Brauchbares
dabei herausspringt, ist noch im Gang, und das betrachtet man besser im Zusammen¬
hange. Das Ereignis der vergangnen Woche war die Mitteilung des sozial¬
politischen Programms des Grafen Posadowsky, das er ini Anschluß an die
Jungfernrede Friedrich Naumanns vor dem Reichstag entwickelte. Vorläufig ist
aber die Arbeit am Etat die einzige Tätigkeit des Reichstags, von der zurzeit die
Rede sei» kann.







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[0168] Maßgebliches und Unmaßgebliches Kapital an privaten Unternehmungen in irgendeinem Gebiet arbeiten zu lassen. Und nur darum handelt es sich sowohl in Marokko als auch im Gebiet der Bagdad¬ bahn. Also ein Verzicht ist weder hier noch dort möglich. Als ein deutscher Erfolg ist das Bagdadbahnunternehmen nur insofern gepriesen worden, als sich der Sultan wahrscheinlich nicht so leicht dazu verstanden hätte, die Konzession zu erteilen, wenn nicht das deutsche Kapital den Vortritt genommen und die technische Leitung in deutsche Hand gelegt hätte. Erst dann entschloß sich Sultan Abdul Hamid zur Genehmigung. Vielleicht ist dieser moralische Erfolg Deutschlands damals zu laut und in mißverständlicher Form verkündet worden, sodaß das Ausland wirklich an politische Wünsche Deutschlands und an eine beabsichtigte Monopolstellung mit poli¬ tischen Rechten zu glauben begann. Unvorsichtige Dithyramben sanguinischer Pro¬ jektenmacher in der deutschen Presse bestärkten diesen Glauben, der nur im Ausland festgehalten wurde, um uns zu diskreditieren. Auch wenn diese Versuche, gegen uns zu arbeiten, infolge irgendwelcher Vereinbarungen aufhörten, wir also gewissermaßen „freie Hand" erhielten, würden wir uns auf eine politische Rolle auf Kosten der Türkei nicht einlassen können. Es ist also nichts mit diesem Plan, und die sonst sehr wünschenswerte Verständigung mit Frankreich müßte auf andrer Grundlage zustande kommen. Diese Bedingungen wären aber die geringste Sorge. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Aber der Wille zur Verständigung muß wohl auf französischer Seite noch einige Zeit reifen, wenngleich wir der chauvinistischen Ent¬ gleisung Clemenceans, der sich kürzlich in der Kammer mit naiver Offenheit zu den populären Revanchegelüsten bekannte, nicht die große Bedeutung beilegen können, die ihr vielfach gegeben wird. Die innerpolitische Lage sparen wir uns diesesmal für eine weitere Wvchen- betrachtung auf. Die sozialpolitische Debatte, die jedes Jahr beim Etat des Innern im Reichstag so unglaublich viel Zeit verschlingt, ohne daß etwas Brauchbares dabei herausspringt, ist noch im Gang, und das betrachtet man besser im Zusammen¬ hange. Das Ereignis der vergangnen Woche war die Mitteilung des sozial¬ politischen Programms des Grafen Posadowsky, das er ini Anschluß an die Jungfernrede Friedrich Naumanns vor dem Reichstag entwickelte. Vorläufig ist aber die Arbeit am Etat die einzige Tätigkeit des Reichstags, von der zurzeit die Rede sei» kann.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/168>, abgerufen am 05.02.2025.