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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Die Haselnuß

Landstraße in den metertiefen Schnee wie in ein weiches Federbett. Die auf¬
gerissene Hülle breitet sich auf der weißen Fläche aus, ihr oberer Teil über
eine hohe Plankeneinfriedigung, deren Berührung wir also glücklich vermieden
haben.

Drei Uhr zwanzig Minuten waren wir, drei Kilometer vom Nordwestende
Dresdens, dem Wilden Mann, nach reichlich acht Stunden "sehr glatt" gelandet,
nur 140 Kilometer Luftlinie von Bitterfeld entfernt.

Schon eine halbe Stunde später waren Hülle und Korb kunstgerecht ver¬
packt und samt uns selbst auf einem Schlitten verladen. Besser hätten wirs
aber auch nicht treffen können: vor anderthalb Jahren im Sommer war fast
an der gleichen Stelle ein Ballon niedergegangen, und dieselben freundlichen
Landleute, die damals Hilfe geleistet hatten, waren auch heute an dem schönen
Wintersonntagnachmittag schnell und willig zur Hand. Nach einer köstlichen
Schlittenfahrt von zwanzig Minuten durch schneeglitzernden Wald und staunende
Großstadtspaziergänger war die innere Stadt erreicht, und unser Ballondoktor
konnte noch an demselben Abend seine Krankenbesuche wieder aufnehmen.




Die Haselnuß
L Julius R. Haarlzaus in Leipziger Märchen von

er 19. Oktober des Jahres 1813 ging zu Ende. In den Straßen
Leipzigs, wo sich noch vor wenigen Stunden die Truppen des ge¬
schlagner Kaisers in wirrer Flucht vor den von Norden und von
Osten heranstürmenden Alliierten gedrängt hatten, bewegten sich jetzt
in buntem Durcheinander Russen und Preußen, Österreicher und
Schweden, Sachsen und Polen, wahrend die geängstigten Einwohner
in der Tür ihrer Häuser erschienen und staunenden Auges das seltsame Völker¬
gemisch betrachteten, das sich ihre Stadt zum Schauplatz des gewaltigsten kriegerischen
Dramas der Weltgeschichte auserwählt hatte. Auf dem vom Regen der letzten Tage
und Nächte noch feuchten Pflaster lagen zwischen umgestürzten Bagagewagen, weg-
geworfnen Uniformstücken und Waffen Tote und Sterbende; hier wimmerten, von
einer Blutlache umgeben, Verwundete, dort saßen, eng aneinander gedrückt, kriegs¬
gefangne Franzosen, starrten in stummer Verzweiflung vor sich hin oder rauchten
resigniert ihre schmutzigen Stummelpfeifen. Mitten durch das Gewühl suchten sich
Patrouillen und Ordonnanzen ihren Weg, Adjutanten sprengten vorbei, Feldschere
und Lazarettgehilfcn bemühten sich um die Elendesten der Elenden, bis unter
klingendem Spiel wieder neue Abteilungen der siegreichen Truppen einrückten und
die durcheinander wogenden Menschenmassen an die Häuser und in die Höfe zurück¬
drängten.

In stiller Verzweiflung legten sich die Bürger der Stadt die Frage vor,
woher sie die Nahrungsmittel nehmen sollten, die die Tausende und Abertausende,
ermüdet und ausgehungert von den Strapazen langer Eilmärsche und einer mehr¬
tägigen Schlacht, gebieterisch forderten. Aber dennoch fühlten sich alle von einer


Die Haselnuß

Landstraße in den metertiefen Schnee wie in ein weiches Federbett. Die auf¬
gerissene Hülle breitet sich auf der weißen Fläche aus, ihr oberer Teil über
eine hohe Plankeneinfriedigung, deren Berührung wir also glücklich vermieden
haben.

Drei Uhr zwanzig Minuten waren wir, drei Kilometer vom Nordwestende
Dresdens, dem Wilden Mann, nach reichlich acht Stunden „sehr glatt" gelandet,
nur 140 Kilometer Luftlinie von Bitterfeld entfernt.

Schon eine halbe Stunde später waren Hülle und Korb kunstgerecht ver¬
packt und samt uns selbst auf einem Schlitten verladen. Besser hätten wirs
aber auch nicht treffen können: vor anderthalb Jahren im Sommer war fast
an der gleichen Stelle ein Ballon niedergegangen, und dieselben freundlichen
Landleute, die damals Hilfe geleistet hatten, waren auch heute an dem schönen
Wintersonntagnachmittag schnell und willig zur Hand. Nach einer köstlichen
Schlittenfahrt von zwanzig Minuten durch schneeglitzernden Wald und staunende
Großstadtspaziergänger war die innere Stadt erreicht, und unser Ballondoktor
konnte noch an demselben Abend seine Krankenbesuche wieder aufnehmen.




Die Haselnuß
L Julius R. Haarlzaus in Leipziger Märchen von

er 19. Oktober des Jahres 1813 ging zu Ende. In den Straßen
Leipzigs, wo sich noch vor wenigen Stunden die Truppen des ge¬
schlagner Kaisers in wirrer Flucht vor den von Norden und von
Osten heranstürmenden Alliierten gedrängt hatten, bewegten sich jetzt
in buntem Durcheinander Russen und Preußen, Österreicher und
Schweden, Sachsen und Polen, wahrend die geängstigten Einwohner
in der Tür ihrer Häuser erschienen und staunenden Auges das seltsame Völker¬
gemisch betrachteten, das sich ihre Stadt zum Schauplatz des gewaltigsten kriegerischen
Dramas der Weltgeschichte auserwählt hatte. Auf dem vom Regen der letzten Tage
und Nächte noch feuchten Pflaster lagen zwischen umgestürzten Bagagewagen, weg-
geworfnen Uniformstücken und Waffen Tote und Sterbende; hier wimmerten, von
einer Blutlache umgeben, Verwundete, dort saßen, eng aneinander gedrückt, kriegs¬
gefangne Franzosen, starrten in stummer Verzweiflung vor sich hin oder rauchten
resigniert ihre schmutzigen Stummelpfeifen. Mitten durch das Gewühl suchten sich
Patrouillen und Ordonnanzen ihren Weg, Adjutanten sprengten vorbei, Feldschere
und Lazarettgehilfcn bemühten sich um die Elendesten der Elenden, bis unter
klingendem Spiel wieder neue Abteilungen der siegreichen Truppen einrückten und
die durcheinander wogenden Menschenmassen an die Häuser und in die Höfe zurück¬
drängten.

In stiller Verzweiflung legten sich die Bürger der Stadt die Frage vor,
woher sie die Nahrungsmittel nehmen sollten, die die Tausende und Abertausende,
ermüdet und ausgehungert von den Strapazen langer Eilmärsche und einer mehr¬
tägigen Schlacht, gebieterisch forderten. Aber dennoch fühlten sich alle von einer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/155>, abgerufen am 05.02.2025.