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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Die politische und wirtschaftliche Lage Brasiliens
zur Jahreswende

rasilien hat im letzten Jahre die Augen der Welt mehr als je
auf sich gezogen. Die Neuwahlen zum Nationalkongresz, die
panamerikanische Konferenz, der Präsidentenwechsel, die Kaffee-
valorisation, die Gründung der Konversionskasse und eine Anzahl
auswärtiger Anleihen -- das alles waren Ereignisse, die Interesse
beanspruchen durften und auch gefunden haben. Die Rubrik "Brasilien" ist
heute in den europäischen Zeitungen nahezu stehend geworden, denn manche
der dort in Angriff genommncn Reformen und Projekte sind von einer Be¬
schaffenheit, daß sie noch für geraume Zeit die allgemeine Aufmerksamkeit auf
sich ziehen dürften. Es haben sich gewaltige kapitalistische und wirtschaftliche
Interessen Europas und Nordamerikas im Lande entwickelt. Allein in aus¬
wärtigen Anleihen sind dort zwei Milliarden Mark angelegt. Und ein inter¬
nationaler Handelsverkehr von anderthalb Milliarden zeugt von der Lebhaftigkeit
der vorhandnen Beziehungen.

Da ist es denn kein Wunder, daß die immer häufiger laut werdenden
Befürchtungen, daß in Brasilien eine Wirtschafts- und Finanzkrise bevorstehe,
eine gewisse Beunruhigung erzeugen. Aber man ist an solche Krisen in latino-
amerikanischen Ländern ziemlich gewöhnt, und so lange die innerpolitische Lage
gefestigt erscheint, werden in diesen mit natürlichen Reichtümern und Hilfsquellen
gesegneten Ländern die Stockungen in der Entwicklung erfahrungsgemäß inner¬
halb einer gewissen Zeit meist überwunden. Fassen wir diese innerpolitische
Lage zunächst ins Auge, so haben zwar im verflossenen Jahre zwei Revolutionen
oder Revolutionsversuchc vou regional beschränkter Bedeutung stattgefunden,
aber die Un.ruhen wurden so schnell beigelegt, daß weder das In- noch das
Ausland sie für gefährlich ansah. Die erste fand im fernen Matto Grosso
statt, wo die Aufständischen unter Führung des dortigen Vizepräsidenten die
Oberhand gewannen und den gesetzlichen Präsidenten so schnell und energisch


Grenzboten l 1907 6ü


Die politische und wirtschaftliche Lage Brasiliens
zur Jahreswende

rasilien hat im letzten Jahre die Augen der Welt mehr als je
auf sich gezogen. Die Neuwahlen zum Nationalkongresz, die
panamerikanische Konferenz, der Präsidentenwechsel, die Kaffee-
valorisation, die Gründung der Konversionskasse und eine Anzahl
auswärtiger Anleihen — das alles waren Ereignisse, die Interesse
beanspruchen durften und auch gefunden haben. Die Rubrik „Brasilien" ist
heute in den europäischen Zeitungen nahezu stehend geworden, denn manche
der dort in Angriff genommncn Reformen und Projekte sind von einer Be¬
schaffenheit, daß sie noch für geraume Zeit die allgemeine Aufmerksamkeit auf
sich ziehen dürften. Es haben sich gewaltige kapitalistische und wirtschaftliche
Interessen Europas und Nordamerikas im Lande entwickelt. Allein in aus¬
wärtigen Anleihen sind dort zwei Milliarden Mark angelegt. Und ein inter¬
nationaler Handelsverkehr von anderthalb Milliarden zeugt von der Lebhaftigkeit
der vorhandnen Beziehungen.

Da ist es denn kein Wunder, daß die immer häufiger laut werdenden
Befürchtungen, daß in Brasilien eine Wirtschafts- und Finanzkrise bevorstehe,
eine gewisse Beunruhigung erzeugen. Aber man ist an solche Krisen in latino-
amerikanischen Ländern ziemlich gewöhnt, und so lange die innerpolitische Lage
gefestigt erscheint, werden in diesen mit natürlichen Reichtümern und Hilfsquellen
gesegneten Ländern die Stockungen in der Entwicklung erfahrungsgemäß inner¬
halb einer gewissen Zeit meist überwunden. Fassen wir diese innerpolitische
Lage zunächst ins Auge, so haben zwar im verflossenen Jahre zwei Revolutionen
oder Revolutionsversuchc vou regional beschränkter Bedeutung stattgefunden,
aber die Un.ruhen wurden so schnell beigelegt, daß weder das In- noch das
Ausland sie für gefährlich ansah. Die erste fand im fernen Matto Grosso
statt, wo die Aufständischen unter Führung des dortigen Vizepräsidenten die
Oberhand gewannen und den gesetzlichen Präsidenten so schnell und energisch


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[0505] [Abbildung] Die politische und wirtschaftliche Lage Brasiliens zur Jahreswende rasilien hat im letzten Jahre die Augen der Welt mehr als je auf sich gezogen. Die Neuwahlen zum Nationalkongresz, die panamerikanische Konferenz, der Präsidentenwechsel, die Kaffee- valorisation, die Gründung der Konversionskasse und eine Anzahl auswärtiger Anleihen — das alles waren Ereignisse, die Interesse beanspruchen durften und auch gefunden haben. Die Rubrik „Brasilien" ist heute in den europäischen Zeitungen nahezu stehend geworden, denn manche der dort in Angriff genommncn Reformen und Projekte sind von einer Be¬ schaffenheit, daß sie noch für geraume Zeit die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich ziehen dürften. Es haben sich gewaltige kapitalistische und wirtschaftliche Interessen Europas und Nordamerikas im Lande entwickelt. Allein in aus¬ wärtigen Anleihen sind dort zwei Milliarden Mark angelegt. Und ein inter¬ nationaler Handelsverkehr von anderthalb Milliarden zeugt von der Lebhaftigkeit der vorhandnen Beziehungen. Da ist es denn kein Wunder, daß die immer häufiger laut werdenden Befürchtungen, daß in Brasilien eine Wirtschafts- und Finanzkrise bevorstehe, eine gewisse Beunruhigung erzeugen. Aber man ist an solche Krisen in latino- amerikanischen Ländern ziemlich gewöhnt, und so lange die innerpolitische Lage gefestigt erscheint, werden in diesen mit natürlichen Reichtümern und Hilfsquellen gesegneten Ländern die Stockungen in der Entwicklung erfahrungsgemäß inner¬ halb einer gewissen Zeit meist überwunden. Fassen wir diese innerpolitische Lage zunächst ins Auge, so haben zwar im verflossenen Jahre zwei Revolutionen oder Revolutionsversuchc vou regional beschränkter Bedeutung stattgefunden, aber die Un.ruhen wurden so schnell beigelegt, daß weder das In- noch das Ausland sie für gefährlich ansah. Die erste fand im fernen Matto Grosso statt, wo die Aufständischen unter Führung des dortigen Vizepräsidenten die Oberhand gewannen und den gesetzlichen Präsidenten so schnell und energisch Grenzboten l 1907 6ü

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/505>, abgerufen am 24.07.2024.