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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Goetheerinnernngen im nordwestliche" Böhmen

enge, still und von der Welt abgeschnitten, "ich habe, schreibt er an Goethe,
diese Zeit die beiden Bände Ihrer Briefe ans Italien gelesen. Welche frische
Luft eines größers Lebens wehet einem daraus entgegen! , . . Hütte ich nur
die Hälfte von dem allen gesehen, es würde mir genng sein, so aber habe ich
großen Durst nach Leben." Wie ehrlich, menschlich und voll Vertrauen ist
das gesprochen. Wir sollten uns doch immer erinnern, von welcher Bedeutung
für das letzte Jahrzehnt von Goethes Leben die Anwesenheit Eckermanns in
Weimar gewesen ist. Auf den ersten Blick erkannte Goethe, was ihm dieser
stille Helfer werden würde. An das, ums er ihm in der Tat geworden ist,
und was wir ihm verdanken, sollten wir uns halten, anstatt, wie es seit
einiger Zeit Sitte geworden, Mängel, die ihm zweifellos anhafteten, in immer
neuen Schilderungen darzulegen.

In der letzten Juniwoche nun Ware" die Vorbereitungen zur Reise be¬
endet, und so fuhr Goethe am 26. ab, gelaugte über Jena, Pößueck, Schleiz,
Hof, Franzensbad uach Eger, wo es ihm, als uuter dem funfzigsten Breiten¬
grade, sogleich "vaterländisch" zumute wurde, und traf am 2. Juli Abends
acht Uhr in Marienbad ein. Als letztes Geschäft, fast schon im Reisewagen,
hatte er, als Abschluß des neuesten Heftes seiner naturwissenschaftlichen Zeit¬
schrift, den Druck des Gedichts "Eins und Alles" angeordnet, dessen gro߬
artige Eingnngsstrophen wie ein dämonisches Vorspiel erklingen dessen, was
er zwischen leidenschaftlichem Wünschen und beseligenden Gottesfrieden alsbald
durchleben sollte:

[Beginn Spaltensatz] Im Gränzenlosen sich zu finden
Wird gern der Einzelne verschwinden,
Da löst sich aller Überdruß;
Statt heißem Wünschen, mildem Wollen,
Statt läst'gen Fordern, strengem Sollen,
Sich aufzugeben ist Genuß. [Spaltenumbruch] Weltseele komm uns zu durchdringen!
Dann mit dein Weltgeist selbst zu ringen
Wird unsrer Kräfte Hochberuf.
Theilnehmend sichren gute Geister,
Gelinde leitend, höchste Meister,
Zu dem, der alles schafft und schuf. [Ende Spaltensatz]

3

Es waren jetzt nahezu vierzig Jahre vergangen, seit Goethe, 1785, zum
erstenmal Böhmen besuchte, und wie oft hatte er sich seitdem in Teplitz, Karls¬
bad, Marienbad, Franzensbad Wochen-, ja monatelang aufgehalten! Jenes
frühe Gewahrwerden, die freundliche Gewohnheit des Dortseins und Wirkens,
des Schauens und Durchforschens dieser in geologischer und mineralogischer
Hinsicht so äußerst reiche" und merkwürdigen Gegenden, die, durch zahllose
heiße und kalte Quellen segensreich in der Gegenwart, für das rückschauende
Auge des Naturforschers aber in der Tiefe der Vorzeit durch tätige Vulkane
mannigfach belebt sind, das alles erklärt genugsam Goethes Vorliebe für
Böhmen. Dazu kommt sodann der anregende Verkehr während des Bndc-



Goethes Briefe (Weimarer Ausgabe) Band 37, Seite 363 f.
Grenzboten I 19073
Goetheerinnernngen im nordwestliche» Böhmen

enge, still und von der Welt abgeschnitten, „ich habe, schreibt er an Goethe,
diese Zeit die beiden Bände Ihrer Briefe ans Italien gelesen. Welche frische
Luft eines größers Lebens wehet einem daraus entgegen! , . . Hütte ich nur
die Hälfte von dem allen gesehen, es würde mir genng sein, so aber habe ich
großen Durst nach Leben." Wie ehrlich, menschlich und voll Vertrauen ist
das gesprochen. Wir sollten uns doch immer erinnern, von welcher Bedeutung
für das letzte Jahrzehnt von Goethes Leben die Anwesenheit Eckermanns in
Weimar gewesen ist. Auf den ersten Blick erkannte Goethe, was ihm dieser
stille Helfer werden würde. An das, ums er ihm in der Tat geworden ist,
und was wir ihm verdanken, sollten wir uns halten, anstatt, wie es seit
einiger Zeit Sitte geworden, Mängel, die ihm zweifellos anhafteten, in immer
neuen Schilderungen darzulegen.

In der letzten Juniwoche nun Ware» die Vorbereitungen zur Reise be¬
endet, und so fuhr Goethe am 26. ab, gelaugte über Jena, Pößueck, Schleiz,
Hof, Franzensbad uach Eger, wo es ihm, als uuter dem funfzigsten Breiten¬
grade, sogleich „vaterländisch" zumute wurde, und traf am 2. Juli Abends
acht Uhr in Marienbad ein. Als letztes Geschäft, fast schon im Reisewagen,
hatte er, als Abschluß des neuesten Heftes seiner naturwissenschaftlichen Zeit¬
schrift, den Druck des Gedichts „Eins und Alles" angeordnet, dessen gro߬
artige Eingnngsstrophen wie ein dämonisches Vorspiel erklingen dessen, was
er zwischen leidenschaftlichem Wünschen und beseligenden Gottesfrieden alsbald
durchleben sollte:

[Beginn Spaltensatz] Im Gränzenlosen sich zu finden
Wird gern der Einzelne verschwinden,
Da löst sich aller Überdruß;
Statt heißem Wünschen, mildem Wollen,
Statt läst'gen Fordern, strengem Sollen,
Sich aufzugeben ist Genuß. [Spaltenumbruch] Weltseele komm uns zu durchdringen!
Dann mit dein Weltgeist selbst zu ringen
Wird unsrer Kräfte Hochberuf.
Theilnehmend sichren gute Geister,
Gelinde leitend, höchste Meister,
Zu dem, der alles schafft und schuf. [Ende Spaltensatz]

3

Es waren jetzt nahezu vierzig Jahre vergangen, seit Goethe, 1785, zum
erstenmal Böhmen besuchte, und wie oft hatte er sich seitdem in Teplitz, Karls¬
bad, Marienbad, Franzensbad Wochen-, ja monatelang aufgehalten! Jenes
frühe Gewahrwerden, die freundliche Gewohnheit des Dortseins und Wirkens,
des Schauens und Durchforschens dieser in geologischer und mineralogischer
Hinsicht so äußerst reiche» und merkwürdigen Gegenden, die, durch zahllose
heiße und kalte Quellen segensreich in der Gegenwart, für das rückschauende
Auge des Naturforschers aber in der Tiefe der Vorzeit durch tätige Vulkane
mannigfach belebt sind, das alles erklärt genugsam Goethes Vorliebe für
Böhmen. Dazu kommt sodann der anregende Verkehr während des Bndc-



Goethes Briefe (Weimarer Ausgabe) Band 37, Seite 363 f.
Grenzboten I 19073
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/25>, abgerufen am 27.06.2024.