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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Der Durchbruch des nationalen Gedankens

in herrlicher, klarer und doch milder, stiller Wintertag leuchtete
diesmal zur Wahlschlacht. Scharenweise drängten sich den ganze"
Tag über die Wähler zur Urne; am Abend sammelten sich
Hunderte vor den Redaktionen der Zeitungen, Tausende in den
Versammlungssälen der Parteien, mit leidenschaftlicher Spannung
die eintreffenden Resultate aus den einzelnen Bezirken erwartend und berechnend,
um endlich in hellen Jubel auszubrechen über einen schweren, vielleicht uner¬
warteten Sieg oder verstimmt davonzuschleichen nach einer kaum gefürchteten
Niederlage. Es war fast wie bei den ruhmvollen Septenuatswahlen vor zwanzig
Jahren, im Februar 1887. Und als der Morgen des 26. Januar das Schlacht¬
feld beschien, da ging ein frohes Gefühl des Staunens durch die deutscheu Gaue,
denn auch das Ergebnis ähnelte dem der Wahl von 1887. Wieder wie damals
hatte die Reichsrcgierung von dem Gezänk und der Kleinlichkeit kurzsichtiger
und eigensinniger Parlamentsparteien an die Nation appelliert, weil wie damals
eine nationale Frage zur Entscheidung stand; damals handelte es sich um,die
Frage, ob das Reich seine schwer errungne Stellung in Europa gegen offne
und heimliche Bedrohung durch ihre Waffenrüstung sichern sollte, die von den
wechselnden Mehrheiten des Reichstags auf sieben Jahre unabhängig wäre,
jetzt um die weit umfassendere Frage, ob das Reich seine Kolonien, die mehr als
das Fünffache seines eignen Umfangs einnehmen und es zum Nachbarn fast
aller Kulturvölker machen, verkümmern lassen und preisgeben oder zu seinem
und ihrem Heile behaupten und weiterentwickeln, ob es seine Weltstellung ver¬
lieren oder ausbauen solle. Das deutsche Volk hat dem Appell entsprochen,
es hat seinen Willen gezeigt, eine Nation zu sein, es hat damit auch die
schadenfrohen Hoffnungen unsrer lieben Nachbarn diesseits und jenseits des
Kanals zerschlagen, es hat seinem Kaiser das schönste Geburtstagsgeschenk dar¬
gebracht. Zwar das Zentrum wird wohl in alter Stärke wiederkehren, denn
es beherrscht durch seine geistlichen Verbündeten die politisch unmündigen Massen,
aber die sozialdemokratische Partei ist, was man kaum zu hoffen wagte, halb
zertrümmert; von 79 Sitzen hat sie schon jetzt 20 verloren, darunter einer Reihe


Grenzboten I 1907 60


Der Durchbruch des nationalen Gedankens

in herrlicher, klarer und doch milder, stiller Wintertag leuchtete
diesmal zur Wahlschlacht. Scharenweise drängten sich den ganze»
Tag über die Wähler zur Urne; am Abend sammelten sich
Hunderte vor den Redaktionen der Zeitungen, Tausende in den
Versammlungssälen der Parteien, mit leidenschaftlicher Spannung
die eintreffenden Resultate aus den einzelnen Bezirken erwartend und berechnend,
um endlich in hellen Jubel auszubrechen über einen schweren, vielleicht uner¬
warteten Sieg oder verstimmt davonzuschleichen nach einer kaum gefürchteten
Niederlage. Es war fast wie bei den ruhmvollen Septenuatswahlen vor zwanzig
Jahren, im Februar 1887. Und als der Morgen des 26. Januar das Schlacht¬
feld beschien, da ging ein frohes Gefühl des Staunens durch die deutscheu Gaue,
denn auch das Ergebnis ähnelte dem der Wahl von 1887. Wieder wie damals
hatte die Reichsrcgierung von dem Gezänk und der Kleinlichkeit kurzsichtiger
und eigensinniger Parlamentsparteien an die Nation appelliert, weil wie damals
eine nationale Frage zur Entscheidung stand; damals handelte es sich um,die
Frage, ob das Reich seine schwer errungne Stellung in Europa gegen offne
und heimliche Bedrohung durch ihre Waffenrüstung sichern sollte, die von den
wechselnden Mehrheiten des Reichstags auf sieben Jahre unabhängig wäre,
jetzt um die weit umfassendere Frage, ob das Reich seine Kolonien, die mehr als
das Fünffache seines eignen Umfangs einnehmen und es zum Nachbarn fast
aller Kulturvölker machen, verkümmern lassen und preisgeben oder zu seinem
und ihrem Heile behaupten und weiterentwickeln, ob es seine Weltstellung ver¬
lieren oder ausbauen solle. Das deutsche Volk hat dem Appell entsprochen,
es hat seinen Willen gezeigt, eine Nation zu sein, es hat damit auch die
schadenfrohen Hoffnungen unsrer lieben Nachbarn diesseits und jenseits des
Kanals zerschlagen, es hat seinem Kaiser das schönste Geburtstagsgeschenk dar¬
gebracht. Zwar das Zentrum wird wohl in alter Stärke wiederkehren, denn
es beherrscht durch seine geistlichen Verbündeten die politisch unmündigen Massen,
aber die sozialdemokratische Partei ist, was man kaum zu hoffen wagte, halb
zertrümmert; von 79 Sitzen hat sie schon jetzt 20 verloren, darunter einer Reihe


Grenzboten I 1907 60
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[0233] [Abbildung] Der Durchbruch des nationalen Gedankens in herrlicher, klarer und doch milder, stiller Wintertag leuchtete diesmal zur Wahlschlacht. Scharenweise drängten sich den ganze» Tag über die Wähler zur Urne; am Abend sammelten sich Hunderte vor den Redaktionen der Zeitungen, Tausende in den Versammlungssälen der Parteien, mit leidenschaftlicher Spannung die eintreffenden Resultate aus den einzelnen Bezirken erwartend und berechnend, um endlich in hellen Jubel auszubrechen über einen schweren, vielleicht uner¬ warteten Sieg oder verstimmt davonzuschleichen nach einer kaum gefürchteten Niederlage. Es war fast wie bei den ruhmvollen Septenuatswahlen vor zwanzig Jahren, im Februar 1887. Und als der Morgen des 26. Januar das Schlacht¬ feld beschien, da ging ein frohes Gefühl des Staunens durch die deutscheu Gaue, denn auch das Ergebnis ähnelte dem der Wahl von 1887. Wieder wie damals hatte die Reichsrcgierung von dem Gezänk und der Kleinlichkeit kurzsichtiger und eigensinniger Parlamentsparteien an die Nation appelliert, weil wie damals eine nationale Frage zur Entscheidung stand; damals handelte es sich um,die Frage, ob das Reich seine schwer errungne Stellung in Europa gegen offne und heimliche Bedrohung durch ihre Waffenrüstung sichern sollte, die von den wechselnden Mehrheiten des Reichstags auf sieben Jahre unabhängig wäre, jetzt um die weit umfassendere Frage, ob das Reich seine Kolonien, die mehr als das Fünffache seines eignen Umfangs einnehmen und es zum Nachbarn fast aller Kulturvölker machen, verkümmern lassen und preisgeben oder zu seinem und ihrem Heile behaupten und weiterentwickeln, ob es seine Weltstellung ver¬ lieren oder ausbauen solle. Das deutsche Volk hat dem Appell entsprochen, es hat seinen Willen gezeigt, eine Nation zu sein, es hat damit auch die schadenfrohen Hoffnungen unsrer lieben Nachbarn diesseits und jenseits des Kanals zerschlagen, es hat seinem Kaiser das schönste Geburtstagsgeschenk dar¬ gebracht. Zwar das Zentrum wird wohl in alter Stärke wiederkehren, denn es beherrscht durch seine geistlichen Verbündeten die politisch unmündigen Massen, aber die sozialdemokratische Partei ist, was man kaum zu hoffen wagte, halb zertrümmert; von 79 Sitzen hat sie schon jetzt 20 verloren, darunter einer Reihe Grenzboten I 1907 60

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/233>, abgerufen am 27.06.2024.