Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Menschenfrühling
Charlotte Niese von(Fortsetzung)
4

"A, nnelis Grübeln war fruchtlos. Niemand gab ihr Antwort, wenn sie
Mi ihren Gedanken Worte zu verleihen suchte, und Onkel Willi, der
1 gelegentlich auf ihre krausen Einfälle hörte, ermahnte sie, nicht an
soviel Sonderbares zu denken.

Hast du niemals an etwas Wunderliches gedacht? erkundigte
! sich Anneli, und der Hofrat, der am Schreibtisch über seiner Arbeit
saß, schaute nachdenklich in das kleine unruhige Gesicht der Fragenden.

Wir haben alle wunderliche Gedanken, erwiderte er, machte dann aber eine
Handbewegung, die andeuten sollte, daß Anneli entlassen sei.

Sieh, bitte, nach, ob Tante Fritze schon mit dem Mittagessen fertig ist. Ich
bin hungrig.

Anneli verließ sein behagliches Studierzimmer und konnte nicht begreifen, daß
Erwachsue niemals viel nachdenken mochten, lieber gleich vom Mittagessen oder vom
Kaffeetrinken sprachen.

Das Mittagessen war fertig, und Tante Fritze trug schon ihr bestes grünes
Kleid mit dem gelben Spitzenbesatz, das sie jetzt täglich anlegte, seitdem Herr
Aurelius Bergheim jeden Mittag zum Essen erschien. Tante Fritze war recht auf¬
geregt geworden, als sie von der Anwesenheit des Kandidaten erfahren hatte, und
auch etwas böse, daß Mamsell Blüthen mit ihm spazieren gegangen war.

So etwas schickt sich nicht für Nike, sagte sie in ihrer kurzatmigen Art, sie
sollte doch ihren Ruf bedenken und auch, daß sie eine Lehrerin ist! Aurelius
Bergheim ist überhaupt mein Verwandter, meine verstorbne Mutter und seine Tante
sind Geschwisterkinder gewesen.

Anneli begriff die Verwandtschaft nicht, aber sie hatte nichts dagegen, den
Kandidaten Onkel Aurelius zu nennen. Er beschäftigte sich nicht weiter mit ihr,
als daß er sie gelegentlich fragte, ob sie auch fleißig lernte, aber er tat ihr nichts Übles.

Das Essen war jetzt immer sorgfältiger zubereitet, und Tante Fritze war viel
freundlicher.

Auch in der Stadt wunderte man sich, daß der Kandidat Bergheim eine
Freiwohnung im Schloß erhalten hatte, die doch nur verdienstvollen Personen
zukam, und Christel Sudeck sprach ihre Meinung darüber offen aus.

Die alte Baronesse, die ich immer mit Wasser begoß, und die jetzt leider tot
ist, war doch adlich, dein Onkel Willi hat einem Prinzen vorgelesen, und Demoiselle
Stahl hat der ganzen Hofgesellschaft vorgetanzt. Diese Leute haben also alle ihre
Verdienste, wie Pupa sagt, aber Herr Bergheim hat nichts getan. Nur einmal in
seinem Leben ist er auf die Kanzel gestiegen, hat dreimal Halleluja gerufen und
ist dann schnell wieder hinuntergeklettert, weil er nichts weiter wußte. Dafür darf
man doch keine Freiwohnung bekommen!

Christel war so gnädig, heilte einmal bei Nike Blüthen an einem Antimakassar
zu häkeln, der vor drei Jahren in Arbeit genommen worden war. Bei dieser
Häkelei konnte man gut plaudern, und mit Aureus Strumpf ging es natürlich




Menschenfrühling
Charlotte Niese von(Fortsetzung)
4

«A, nnelis Grübeln war fruchtlos. Niemand gab ihr Antwort, wenn sie
Mi ihren Gedanken Worte zu verleihen suchte, und Onkel Willi, der
1 gelegentlich auf ihre krausen Einfälle hörte, ermahnte sie, nicht an
soviel Sonderbares zu denken.

Hast du niemals an etwas Wunderliches gedacht? erkundigte
! sich Anneli, und der Hofrat, der am Schreibtisch über seiner Arbeit
saß, schaute nachdenklich in das kleine unruhige Gesicht der Fragenden.

Wir haben alle wunderliche Gedanken, erwiderte er, machte dann aber eine
Handbewegung, die andeuten sollte, daß Anneli entlassen sei.

Sieh, bitte, nach, ob Tante Fritze schon mit dem Mittagessen fertig ist. Ich
bin hungrig.

Anneli verließ sein behagliches Studierzimmer und konnte nicht begreifen, daß
Erwachsue niemals viel nachdenken mochten, lieber gleich vom Mittagessen oder vom
Kaffeetrinken sprachen.

Das Mittagessen war fertig, und Tante Fritze trug schon ihr bestes grünes
Kleid mit dem gelben Spitzenbesatz, das sie jetzt täglich anlegte, seitdem Herr
Aurelius Bergheim jeden Mittag zum Essen erschien. Tante Fritze war recht auf¬
geregt geworden, als sie von der Anwesenheit des Kandidaten erfahren hatte, und
auch etwas böse, daß Mamsell Blüthen mit ihm spazieren gegangen war.

So etwas schickt sich nicht für Nike, sagte sie in ihrer kurzatmigen Art, sie
sollte doch ihren Ruf bedenken und auch, daß sie eine Lehrerin ist! Aurelius
Bergheim ist überhaupt mein Verwandter, meine verstorbne Mutter und seine Tante
sind Geschwisterkinder gewesen.

Anneli begriff die Verwandtschaft nicht, aber sie hatte nichts dagegen, den
Kandidaten Onkel Aurelius zu nennen. Er beschäftigte sich nicht weiter mit ihr,
als daß er sie gelegentlich fragte, ob sie auch fleißig lernte, aber er tat ihr nichts Übles.

Das Essen war jetzt immer sorgfältiger zubereitet, und Tante Fritze war viel
freundlicher.

Auch in der Stadt wunderte man sich, daß der Kandidat Bergheim eine
Freiwohnung im Schloß erhalten hatte, die doch nur verdienstvollen Personen
zukam, und Christel Sudeck sprach ihre Meinung darüber offen aus.

Die alte Baronesse, die ich immer mit Wasser begoß, und die jetzt leider tot
ist, war doch adlich, dein Onkel Willi hat einem Prinzen vorgelesen, und Demoiselle
Stahl hat der ganzen Hofgesellschaft vorgetanzt. Diese Leute haben also alle ihre
Verdienste, wie Pupa sagt, aber Herr Bergheim hat nichts getan. Nur einmal in
seinem Leben ist er auf die Kanzel gestiegen, hat dreimal Halleluja gerufen und
ist dann schnell wieder hinuntergeklettert, weil er nichts weiter wußte. Dafür darf
man doch keine Freiwohnung bekommen!

Christel war so gnädig, heilte einmal bei Nike Blüthen an einem Antimakassar
zu häkeln, der vor drei Jahren in Arbeit genommen worden war. Bei dieser
Häkelei konnte man gut plaudern, und mit Aureus Strumpf ging es natürlich


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0053" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/299094"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341883_299040/figures/grenzboten_341883_299040_299094_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Menschenfrühling<lb/><note type="byline"> Charlotte Niese</note> von(Fortsetzung)</head><lb/>
          <div n="2">
            <head> 4</head><lb/>
            <p xml:id="ID_140"> «A, nnelis Grübeln war fruchtlos. Niemand gab ihr Antwort, wenn sie<lb/>
Mi ihren Gedanken Worte zu verleihen suchte, und Onkel Willi, der<lb/>
1 gelegentlich auf ihre krausen Einfälle hörte, ermahnte sie, nicht an<lb/>
soviel Sonderbares zu denken.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_141"> Hast du niemals an etwas Wunderliches gedacht? erkundigte<lb/>
! sich Anneli, und der Hofrat, der am Schreibtisch über seiner Arbeit<lb/>
saß, schaute nachdenklich in das kleine unruhige Gesicht der Fragenden.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_142"> Wir haben alle wunderliche Gedanken, erwiderte er, machte dann aber eine<lb/>
Handbewegung, die andeuten sollte, daß Anneli entlassen sei.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_143"> Sieh, bitte, nach, ob Tante Fritze schon mit dem Mittagessen fertig ist. Ich<lb/>
bin hungrig.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_144"> Anneli verließ sein behagliches Studierzimmer und konnte nicht begreifen, daß<lb/>
Erwachsue niemals viel nachdenken mochten, lieber gleich vom Mittagessen oder vom<lb/>
Kaffeetrinken sprachen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_145"> Das Mittagessen war fertig, und Tante Fritze trug schon ihr bestes grünes<lb/>
Kleid mit dem gelben Spitzenbesatz, das sie jetzt täglich anlegte, seitdem Herr<lb/>
Aurelius Bergheim jeden Mittag zum Essen erschien. Tante Fritze war recht auf¬<lb/>
geregt geworden, als sie von der Anwesenheit des Kandidaten erfahren hatte, und<lb/>
auch etwas böse, daß Mamsell Blüthen mit ihm spazieren gegangen war.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_146"> So etwas schickt sich nicht für Nike, sagte sie in ihrer kurzatmigen Art, sie<lb/>
sollte doch ihren Ruf bedenken und auch, daß sie eine Lehrerin ist! Aurelius<lb/>
Bergheim ist überhaupt mein Verwandter, meine verstorbne Mutter und seine Tante<lb/>
sind Geschwisterkinder gewesen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_147"> Anneli begriff die Verwandtschaft nicht, aber sie hatte nichts dagegen, den<lb/>
Kandidaten Onkel Aurelius zu nennen. Er beschäftigte sich nicht weiter mit ihr,<lb/>
als daß er sie gelegentlich fragte, ob sie auch fleißig lernte, aber er tat ihr nichts Übles.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_148"> Das Essen war jetzt immer sorgfältiger zubereitet, und Tante Fritze war viel<lb/>
freundlicher.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_149"> Auch in der Stadt wunderte man sich, daß der Kandidat Bergheim eine<lb/>
Freiwohnung im Schloß erhalten hatte, die doch nur verdienstvollen Personen<lb/>
zukam, und Christel Sudeck sprach ihre Meinung darüber offen aus.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_150"> Die alte Baronesse, die ich immer mit Wasser begoß, und die jetzt leider tot<lb/>
ist, war doch adlich, dein Onkel Willi hat einem Prinzen vorgelesen, und Demoiselle<lb/>
Stahl hat der ganzen Hofgesellschaft vorgetanzt. Diese Leute haben also alle ihre<lb/>
Verdienste, wie Pupa sagt, aber Herr Bergheim hat nichts getan. Nur einmal in<lb/>
seinem Leben ist er auf die Kanzel gestiegen, hat dreimal Halleluja gerufen und<lb/>
ist dann schnell wieder hinuntergeklettert, weil er nichts weiter wußte. Dafür darf<lb/>
man doch keine Freiwohnung bekommen!</p><lb/>
            <p xml:id="ID_151" next="#ID_152"> Christel war so gnädig, heilte einmal bei Nike Blüthen an einem Antimakassar<lb/>
zu häkeln, der vor drei Jahren in Arbeit genommen worden war. Bei dieser<lb/>
Häkelei konnte man gut plaudern, und mit Aureus Strumpf ging es natürlich</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0053] [Abbildung] Menschenfrühling Charlotte Niese von(Fortsetzung) 4 «A, nnelis Grübeln war fruchtlos. Niemand gab ihr Antwort, wenn sie Mi ihren Gedanken Worte zu verleihen suchte, und Onkel Willi, der 1 gelegentlich auf ihre krausen Einfälle hörte, ermahnte sie, nicht an soviel Sonderbares zu denken. Hast du niemals an etwas Wunderliches gedacht? erkundigte ! sich Anneli, und der Hofrat, der am Schreibtisch über seiner Arbeit saß, schaute nachdenklich in das kleine unruhige Gesicht der Fragenden. Wir haben alle wunderliche Gedanken, erwiderte er, machte dann aber eine Handbewegung, die andeuten sollte, daß Anneli entlassen sei. Sieh, bitte, nach, ob Tante Fritze schon mit dem Mittagessen fertig ist. Ich bin hungrig. Anneli verließ sein behagliches Studierzimmer und konnte nicht begreifen, daß Erwachsue niemals viel nachdenken mochten, lieber gleich vom Mittagessen oder vom Kaffeetrinken sprachen. Das Mittagessen war fertig, und Tante Fritze trug schon ihr bestes grünes Kleid mit dem gelben Spitzenbesatz, das sie jetzt täglich anlegte, seitdem Herr Aurelius Bergheim jeden Mittag zum Essen erschien. Tante Fritze war recht auf¬ geregt geworden, als sie von der Anwesenheit des Kandidaten erfahren hatte, und auch etwas böse, daß Mamsell Blüthen mit ihm spazieren gegangen war. So etwas schickt sich nicht für Nike, sagte sie in ihrer kurzatmigen Art, sie sollte doch ihren Ruf bedenken und auch, daß sie eine Lehrerin ist! Aurelius Bergheim ist überhaupt mein Verwandter, meine verstorbne Mutter und seine Tante sind Geschwisterkinder gewesen. Anneli begriff die Verwandtschaft nicht, aber sie hatte nichts dagegen, den Kandidaten Onkel Aurelius zu nennen. Er beschäftigte sich nicht weiter mit ihr, als daß er sie gelegentlich fragte, ob sie auch fleißig lernte, aber er tat ihr nichts Übles. Das Essen war jetzt immer sorgfältiger zubereitet, und Tante Fritze war viel freundlicher. Auch in der Stadt wunderte man sich, daß der Kandidat Bergheim eine Freiwohnung im Schloß erhalten hatte, die doch nur verdienstvollen Personen zukam, und Christel Sudeck sprach ihre Meinung darüber offen aus. Die alte Baronesse, die ich immer mit Wasser begoß, und die jetzt leider tot ist, war doch adlich, dein Onkel Willi hat einem Prinzen vorgelesen, und Demoiselle Stahl hat der ganzen Hofgesellschaft vorgetanzt. Diese Leute haben also alle ihre Verdienste, wie Pupa sagt, aber Herr Bergheim hat nichts getan. Nur einmal in seinem Leben ist er auf die Kanzel gestiegen, hat dreimal Halleluja gerufen und ist dann schnell wieder hinuntergeklettert, weil er nichts weiter wußte. Dafür darf man doch keine Freiwohnung bekommen! Christel war so gnädig, heilte einmal bei Nike Blüthen an einem Antimakassar zu häkeln, der vor drei Jahren in Arbeit genommen worden war. Bei dieser Häkelei konnte man gut plaudern, und mit Aureus Strumpf ging es natürlich

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/53
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/53>, abgerufen am 26.12.2024.