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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Sprich ein Gebet! herrschte er Anneli an, die gehorsam die Hände faltete und
ihr Abendgebet sagte:

Eine Drossel flatterte aus einer Tanne auf, setzte sich einen Augenblick auf
Christels Kreuz und flog dann lustig weiter.

Fred setzte die Mütze wieder auf das dunkle Haar.

Ein netter kleiner Vers! sagte er wohlwollend, den kann man leicht behalten.

Du weißt gewiß einen viel bessern, entgegnete sie, und er nickte.

Natürlich, aber im gauzen macht es sich besser, wenn Mädchen beten.

Anneli achtete kaum auf seine Autwort. Über sie war der große Schmerz, die
Sehnsucht gekommen, die Empfindungen, die meist in ihr schliefen, manchmal aber
erwachten und sie quälten.

Christel, Christel, schluchzte sie, du hättest doch nicht zu sterben brauchen! Ich
sehne mich nach dir!

Beruhigend legte Fred ihr die Hand auf den Arm.

Sei nicht so traurig! Nach hundert Jahren hast du sie ganz gewiß wieder.
In hundert Jahren ist alles vorüber, dann sind wir beide tot, und es ist ganz
egal, ob Christel etwas früher gestorben ist.

Sollte das ein Trost sein? Zuerst mußte Anneli doch noch weinen; als dann
aber die beiden Kinder der Stadt wieder zuwanderten, gingen so viel Menschen mit
Weihnachtspaketen in den Straßen, und in den meisten Läden sah es so verführerisch
aus, daß Christels Grab und ihr Kreuz bald vergessen waren.

(Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches

(Die Diäten und die Finanzreform.)
Reich ssptegel.

Bei der Gasteiner Zusammenkunft im August 1871 weilten die beiden Reichs¬
kanzler Bismarck und Beust im PostHause zu Leut. Beust schrieb in das Fremdenbuch:
"Jeder hat einmal Recht. Wohl dem, ders erlebt." Bismarck setzte darunter: "Jeder
hat schließlich Unrecht. Wohl dem, ders nicht erlebt." An diese beiden Niederschriften,
von denen die des damals ans der Höhe seiner Erfolge stehenden deutschen Kanzlers
von besonders tiefsinniger Bedeutung ist, gemahnt der Ausgang der Dicitenfrage.
Bismarck hatte sich den Reichstag als eine vornehme Institution, als eine Ver¬
körperung der geistigen Aristokratie der Nation gedacht. Er sollte aus den Schichten
gebildet werden, die die Träger des Sehnens und Ringens unsers Volkes ein halbes
Jahrhundert und länger hindurch gewesen waren; die den Einheitsgedanken und den
Glaube" an Deutschlands Zukunft, an Kaiser und Reich, von den Tagen der Be-
freiungskriege an durch allen Wechsel der Zeiten bewahrt hatten, und denen die
Enttäuschung von 1849 nur eine um so sichrere Anweisung auf die Zukunft ge¬
wesen war. Aus diesem Grunde hatte er als Gegengewicht gegen die Wirkungen
des allgemeinen Stimmrechts die Diätenlosigkeit verlangt, nachdem er aus mancherlei
Gründen das wirksamere Gegengewicht, das Retchsoberhaus, verworfen hatte.

Für das Wahlrecht, aus dem zuerst der Reichstag des Norddeutschen Bundes
und später der des Reiches hervorging, bestanden damals ganz andre Voraus-


Grenzboten II 1906 S7
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Sprich ein Gebet! herrschte er Anneli an, die gehorsam die Hände faltete und
ihr Abendgebet sagte:

Eine Drossel flatterte aus einer Tanne auf, setzte sich einen Augenblick auf
Christels Kreuz und flog dann lustig weiter.

Fred setzte die Mütze wieder auf das dunkle Haar.

Ein netter kleiner Vers! sagte er wohlwollend, den kann man leicht behalten.

Du weißt gewiß einen viel bessern, entgegnete sie, und er nickte.

Natürlich, aber im gauzen macht es sich besser, wenn Mädchen beten.

Anneli achtete kaum auf seine Autwort. Über sie war der große Schmerz, die
Sehnsucht gekommen, die Empfindungen, die meist in ihr schliefen, manchmal aber
erwachten und sie quälten.

Christel, Christel, schluchzte sie, du hättest doch nicht zu sterben brauchen! Ich
sehne mich nach dir!

Beruhigend legte Fred ihr die Hand auf den Arm.

Sei nicht so traurig! Nach hundert Jahren hast du sie ganz gewiß wieder.
In hundert Jahren ist alles vorüber, dann sind wir beide tot, und es ist ganz
egal, ob Christel etwas früher gestorben ist.

Sollte das ein Trost sein? Zuerst mußte Anneli doch noch weinen; als dann
aber die beiden Kinder der Stadt wieder zuwanderten, gingen so viel Menschen mit
Weihnachtspaketen in den Straßen, und in den meisten Läden sah es so verführerisch
aus, daß Christels Grab und ihr Kreuz bald vergessen waren.

(Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches

(Die Diäten und die Finanzreform.)
Reich ssptegel.

Bei der Gasteiner Zusammenkunft im August 1871 weilten die beiden Reichs¬
kanzler Bismarck und Beust im PostHause zu Leut. Beust schrieb in das Fremdenbuch:
„Jeder hat einmal Recht. Wohl dem, ders erlebt." Bismarck setzte darunter: „Jeder
hat schließlich Unrecht. Wohl dem, ders nicht erlebt." An diese beiden Niederschriften,
von denen die des damals ans der Höhe seiner Erfolge stehenden deutschen Kanzlers
von besonders tiefsinniger Bedeutung ist, gemahnt der Ausgang der Dicitenfrage.
Bismarck hatte sich den Reichstag als eine vornehme Institution, als eine Ver¬
körperung der geistigen Aristokratie der Nation gedacht. Er sollte aus den Schichten
gebildet werden, die die Träger des Sehnens und Ringens unsers Volkes ein halbes
Jahrhundert und länger hindurch gewesen waren; die den Einheitsgedanken und den
Glaube» an Deutschlands Zukunft, an Kaiser und Reich, von den Tagen der Be-
freiungskriege an durch allen Wechsel der Zeiten bewahrt hatten, und denen die
Enttäuschung von 1849 nur eine um so sichrere Anweisung auf die Zukunft ge¬
wesen war. Aus diesem Grunde hatte er als Gegengewicht gegen die Wirkungen
des allgemeinen Stimmrechts die Diätenlosigkeit verlangt, nachdem er aus mancherlei
Gründen das wirksamere Gegengewicht, das Retchsoberhaus, verworfen hatte.

Für das Wahlrecht, aus dem zuerst der Reichstag des Norddeutschen Bundes
und später der des Reiches hervorging, bestanden damals ganz andre Voraus-


Grenzboten II 1906 S7
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[0453] Maßgebliches und Unmaßgebliches Sprich ein Gebet! herrschte er Anneli an, die gehorsam die Hände faltete und ihr Abendgebet sagte: Eine Drossel flatterte aus einer Tanne auf, setzte sich einen Augenblick auf Christels Kreuz und flog dann lustig weiter. Fred setzte die Mütze wieder auf das dunkle Haar. Ein netter kleiner Vers! sagte er wohlwollend, den kann man leicht behalten. Du weißt gewiß einen viel bessern, entgegnete sie, und er nickte. Natürlich, aber im gauzen macht es sich besser, wenn Mädchen beten. Anneli achtete kaum auf seine Autwort. Über sie war der große Schmerz, die Sehnsucht gekommen, die Empfindungen, die meist in ihr schliefen, manchmal aber erwachten und sie quälten. Christel, Christel, schluchzte sie, du hättest doch nicht zu sterben brauchen! Ich sehne mich nach dir! Beruhigend legte Fred ihr die Hand auf den Arm. Sei nicht so traurig! Nach hundert Jahren hast du sie ganz gewiß wieder. In hundert Jahren ist alles vorüber, dann sind wir beide tot, und es ist ganz egal, ob Christel etwas früher gestorben ist. Sollte das ein Trost sein? Zuerst mußte Anneli doch noch weinen; als dann aber die beiden Kinder der Stadt wieder zuwanderten, gingen so viel Menschen mit Weihnachtspaketen in den Straßen, und in den meisten Läden sah es so verführerisch aus, daß Christels Grab und ihr Kreuz bald vergessen waren. (Fortsetzung folgt) Maßgebliches und Unmaßgebliches (Die Diäten und die Finanzreform.) Reich ssptegel. Bei der Gasteiner Zusammenkunft im August 1871 weilten die beiden Reichs¬ kanzler Bismarck und Beust im PostHause zu Leut. Beust schrieb in das Fremdenbuch: „Jeder hat einmal Recht. Wohl dem, ders erlebt." Bismarck setzte darunter: „Jeder hat schließlich Unrecht. Wohl dem, ders nicht erlebt." An diese beiden Niederschriften, von denen die des damals ans der Höhe seiner Erfolge stehenden deutschen Kanzlers von besonders tiefsinniger Bedeutung ist, gemahnt der Ausgang der Dicitenfrage. Bismarck hatte sich den Reichstag als eine vornehme Institution, als eine Ver¬ körperung der geistigen Aristokratie der Nation gedacht. Er sollte aus den Schichten gebildet werden, die die Träger des Sehnens und Ringens unsers Volkes ein halbes Jahrhundert und länger hindurch gewesen waren; die den Einheitsgedanken und den Glaube» an Deutschlands Zukunft, an Kaiser und Reich, von den Tagen der Be- freiungskriege an durch allen Wechsel der Zeiten bewahrt hatten, und denen die Enttäuschung von 1849 nur eine um so sichrere Anweisung auf die Zukunft ge¬ wesen war. Aus diesem Grunde hatte er als Gegengewicht gegen die Wirkungen des allgemeinen Stimmrechts die Diätenlosigkeit verlangt, nachdem er aus mancherlei Gründen das wirksamere Gegengewicht, das Retchsoberhaus, verworfen hatte. Für das Wahlrecht, aus dem zuerst der Reichstag des Norddeutschen Bundes und später der des Reiches hervorging, bestanden damals ganz andre Voraus- Grenzboten II 1906 S7

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/453>, abgerufen am 26.12.2024.