Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.Menschenfrühling Charlotte Niese von (Fortsetzung) 14 >le wilden Schwäne hatten Recht gehabt, sich auf dem See zwischen Die Schulkinder, die ihre alten Schlittschuhe vom Boden geholt hatten, standen Karoline Liudig konnte ihre Sehnsucht nicht begreifen. Seitdem sie einmal Anneli hörte nicht auf sie. Ihr Hauptwunsch waren ein paar Schlittschuhe Das abers ist unrecht, setzte sie hinzu, und sie hätte wohl noch mehr gesagt, Die alte Demoiselle war in dieser Zeit unruhig geworden. Sie mochte nicht Herr Kauderdat, das geht nich gut! sagte Slina weinerlich zu Onkel Aurelius, Grenzboten II 190ö 56
Menschenfrühling Charlotte Niese von (Fortsetzung) 14 >le wilden Schwäne hatten Recht gehabt, sich auf dem See zwischen Die Schulkinder, die ihre alten Schlittschuhe vom Boden geholt hatten, standen Karoline Liudig konnte ihre Sehnsucht nicht begreifen. Seitdem sie einmal Anneli hörte nicht auf sie. Ihr Hauptwunsch waren ein paar Schlittschuhe Das abers ist unrecht, setzte sie hinzu, und sie hätte wohl noch mehr gesagt, Die alte Demoiselle war in dieser Zeit unruhig geworden. Sie mochte nicht Herr Kauderdat, das geht nich gut! sagte Slina weinerlich zu Onkel Aurelius, Grenzboten II 190ö 56
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[Abbildung]
Menschenfrühling
Charlotte Niese von (Fortsetzung)
14
>le wilden Schwäne hatten Recht gehabt, sich auf dem See zwischen
den Schilfinseln einzunisten, denn der Ostwind kam und warf über das
Wasser ein dünnes Eiskleid, das aber nur kurze Zeit blieb. Denn der
See wurde ärgerlich, und seine Wellen gingen hoch. Da glitt die Eis¬
decke von ihm ab, und nur am Rande blieben schneeweiße Kristalle,
! die das dunkle Ufer einsäumten wie ein Hermelingewand.
Die Schulkinder, die ihre alten Schlittschuhe vom Boden geholt hatten, standen
trauernd am Ufer. Augenblicklich sehnte sich jedes nach Eislauf, und niemals war
der See verlockender, als wenn er sein Eiskleid nicht tragen wollte. Aber es war
ja noch vor Weihnachten. Das Fest brachte neue und bessere Schlittschuhe, und
dann mußte das Eis bleiben. Auch Anneli stand unter den Kindern, hörte ihre
Reden und wünschte sich Eis und Frost. Aber selbstverständlich auch Schlittschuhe.
Es mußte wundervoll sein, auf blankem Stahl in die Weite zu fliehen; dorthin,
wo die grauen Schwäne ihre Schlupfwinkel hatten.
Karoline Liudig konnte ihre Sehnsucht nicht begreifen. Seitdem sie einmal
auf dem Eise gefallen war und sich die Nase stark zerschunden hatte, seit der Zeit
war sie bange vor der spiegelglatten Fläche und berichtete einige Schauergeschichten
von Arm- und Beinbrüchen, sogar von leichtsinnigen Läufern, die ertrunken waren.
Anneli hörte nicht auf sie. Ihr Hauptwunsch waren ein paar Schlittschuhe
zu Weihnachten, von der Sorte, wie sie im Laden von Ehlers und Kompagnie
hingen, und wie sie Herr Peterlein mit großer Bereitwilligkeit verkaufte. Denn
er war jetzt auf der Ladenseite, wo Eisenwaren, Pflaumen und Heringe verkauft
wurden. Herr Ehlers war krank, und die Kompagnie schien verreist zu sein, also
mußte Herr Peterlein überall aushelfen, und er tat es so liebenswürdig, daß die
großen Mädchen in den Laden liefen und alles kauften, was zu kaufen war. Manche
sogar bezahlten nicht bar, sondern ließen anschreiben. Anneli, die gelegentlich von Slina
Böteführ in den Ehlersschen Laden zu einer Besorgung geschickt wurde, beobachtete
diese Art des Einkaufs und bemerkte, daß Herr Peterlein seine Ware ebenso freundlich
ohne Bezahlung abgab, als wenn er das Geld auf den Tisch gelegt erhielt. Die
Kleine wunderte sich darüber, aber als sie mit Slina über den Fall sprach, erklärte
diese, daß die feinen Herrschaften öfters nur einmal im Jahre bezahlten und manchmal
sogar noch seltner.
Das abers ist unrecht, setzte sie hinzu, und sie hätte wohl noch mehr gesagt,
wenn sie nicht eilig gewesen wäre.
Die alte Demoiselle war in dieser Zeit unruhig geworden. Sie mochte nicht
mehr stundenlang am Fenster sitzen, sondern wollte schon am hellen Morgen wieder
ins Bett. Und sie flüsterte vor sich hin, sang und lachte, gerade als wäre sie jung
und nicht in den Neunzigern.
Herr Kauderdat, das geht nich gut! sagte Slina weinerlich zu Onkel Aurelius,
aber dieser zündete sich eine Pfeife an und vertiefte sich in die Zeitung. Was
gings ihn an, wenn ein altes Leben langsam auslöschte und vorher noch einige
Grenzboten II 190ö 56
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