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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Sein Gesicht war verklärt, und Anneli mußte einige Stunden später uoch an
den Ausdruck seiner Augen denken. Da saß sie an einem Tisch mit Onkel Aurelius
und Herrn Peters. Beide Männer spielten Karten, und Slina Böteführ schenkte
ihnen Punsch ein.

Der alte Peters kam jetzt oft zu dem Kandidaten, um mit ihm eine Partie
Karten zu spielen. Slina braute den Punsch dazu und ließ sich ein Kompliment
des alten Schornsteinfegermeisters gern gefallen. Manchmal aber wurden die Karten
hingelegt, und einer von der kleinen Gesellschaft erzählte eine Geschichte, der Anneli
mit angehaltnem Atem lauschte. Wenn ein Geist darin vorkommen sollte, wurde
sie vorher zu Bett geschickt. Heute aber erzählte Herr Peters eine kleine Ver¬
lobungsgeschichte aus alter Zeit. Es war vielleicht seine eigne, denn er wurde ge¬
rührt dabei, aber der Kandidat sagte grausam, heutzutage gäbe es keine Liebe mehr.
Worauf Slina laut seufzte, und Anneli an Onkel Willi denken mußte.

Annaluise, starre nicht auf einen Fleck, sondern lerne deine Aufgaben! rief
Onkel Aurelius, der von seinem Punschglns aufsah.

Das Mädel wird groß! setzte Herr Peters hinzu und nahm vorsichtig eine Prise.

Dann vertieften sich beide Männer wieder in ihre Unterhaltung, und Anneli
suchte an Karl den Großen zu denken, für den Fräulein Sengelmann eine ihr un¬
begreifliche Vorliebe hatte. Aber allerhand Fremdartiges summte ihr noch im Kopf
herum, als sie schon im Bett lag und wieder einmal ihr Abendgebet sprach. Sie
vergaß es jetzt manchmal, weil niemand sie daran erinnerte, und weil das Bild
ihres Vaters blasser wurde. Manchmal jedoch sahen seine Augen sie an wie sonst,
und ihre Hände falteten sich von selbst.

(Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspiegel.

(Kaiser Wilhelms Fährt nach Wien. Die österreichisch¬
ungarische Monarchie und ihr Herrscher. Herr von Jswolsky, der neue russische
Minister des Auswärtigen, als "Deutschenfresser". Die Orientierung der russischen
auswärtigen Politik. Die Angstmeierei in der deutschen Presse. Bange machen gilt
nicht. Hundert Jahre allgemeiner Wehrpflicht. Englands Sorgen.)

Der Kaiser geht in einigen Wochen nach Wien. Seit seiner Thronbesteigung
kommt er zum vierten- oder fünftenmal nach Österreich, Kaiser Franz Joseph
wiederum ist wiederholt in Berlin und auch sonst bei deutscheu Truppenübungen
zugegen gewesen. Als ein außerordentliches Ereignis sollte deshalb des Kaisers
bevorstehender Besuch nirgends angesehen werden. Kaiser Wilhelm der Zweite
schaut mit großer Verehrung zum Kaiser Franz Joseph als zu seinem väterlichen
Freunde empor. Nichts ist natürlicher, als daß er ihn bei dessen hohem Lebens¬
alter einmal wieder zu sehen wünscht; vielleicht auch, um persönlich Dank zu sagen
für die treue Bundeshilfe, die er in Algeciras bei Österreich gefunden hat. Es
sei hierbei eingeschaltet, daß die Ansage und Annahme des Besuchs dem Telegramm
an den Grafen Gulochowski vorangegangen ist.

Kaiser Franz Joseph repräsentiert in der Übung des mötisr as primos ein
Zeitalter, das für uns mit Kaiser Wilhelm dem Ersten zu Grabe getragen worden


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Sein Gesicht war verklärt, und Anneli mußte einige Stunden später uoch an
den Ausdruck seiner Augen denken. Da saß sie an einem Tisch mit Onkel Aurelius
und Herrn Peters. Beide Männer spielten Karten, und Slina Böteführ schenkte
ihnen Punsch ein.

Der alte Peters kam jetzt oft zu dem Kandidaten, um mit ihm eine Partie
Karten zu spielen. Slina braute den Punsch dazu und ließ sich ein Kompliment
des alten Schornsteinfegermeisters gern gefallen. Manchmal aber wurden die Karten
hingelegt, und einer von der kleinen Gesellschaft erzählte eine Geschichte, der Anneli
mit angehaltnem Atem lauschte. Wenn ein Geist darin vorkommen sollte, wurde
sie vorher zu Bett geschickt. Heute aber erzählte Herr Peters eine kleine Ver¬
lobungsgeschichte aus alter Zeit. Es war vielleicht seine eigne, denn er wurde ge¬
rührt dabei, aber der Kandidat sagte grausam, heutzutage gäbe es keine Liebe mehr.
Worauf Slina laut seufzte, und Anneli an Onkel Willi denken mußte.

Annaluise, starre nicht auf einen Fleck, sondern lerne deine Aufgaben! rief
Onkel Aurelius, der von seinem Punschglns aufsah.

Das Mädel wird groß! setzte Herr Peters hinzu und nahm vorsichtig eine Prise.

Dann vertieften sich beide Männer wieder in ihre Unterhaltung, und Anneli
suchte an Karl den Großen zu denken, für den Fräulein Sengelmann eine ihr un¬
begreifliche Vorliebe hatte. Aber allerhand Fremdartiges summte ihr noch im Kopf
herum, als sie schon im Bett lag und wieder einmal ihr Abendgebet sprach. Sie
vergaß es jetzt manchmal, weil niemand sie daran erinnerte, und weil das Bild
ihres Vaters blasser wurde. Manchmal jedoch sahen seine Augen sie an wie sonst,
und ihre Hände falteten sich von selbst.

(Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspiegel.

(Kaiser Wilhelms Fährt nach Wien. Die österreichisch¬
ungarische Monarchie und ihr Herrscher. Herr von Jswolsky, der neue russische
Minister des Auswärtigen, als „Deutschenfresser". Die Orientierung der russischen
auswärtigen Politik. Die Angstmeierei in der deutschen Presse. Bange machen gilt
nicht. Hundert Jahre allgemeiner Wehrpflicht. Englands Sorgen.)

Der Kaiser geht in einigen Wochen nach Wien. Seit seiner Thronbesteigung
kommt er zum vierten- oder fünftenmal nach Österreich, Kaiser Franz Joseph
wiederum ist wiederholt in Berlin und auch sonst bei deutscheu Truppenübungen
zugegen gewesen. Als ein außerordentliches Ereignis sollte deshalb des Kaisers
bevorstehender Besuch nirgends angesehen werden. Kaiser Wilhelm der Zweite
schaut mit großer Verehrung zum Kaiser Franz Joseph als zu seinem väterlichen
Freunde empor. Nichts ist natürlicher, als daß er ihn bei dessen hohem Lebens¬
alter einmal wieder zu sehen wünscht; vielleicht auch, um persönlich Dank zu sagen
für die treue Bundeshilfe, die er in Algeciras bei Österreich gefunden hat. Es
sei hierbei eingeschaltet, daß die Ansage und Annahme des Besuchs dem Telegramm
an den Grafen Gulochowski vorangegangen ist.

Kaiser Franz Joseph repräsentiert in der Übung des mötisr as primos ein
Zeitalter, das für uns mit Kaiser Wilhelm dem Ersten zu Grabe getragen worden


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[0402] Maßgebliches und Unmaßgebliches Sein Gesicht war verklärt, und Anneli mußte einige Stunden später uoch an den Ausdruck seiner Augen denken. Da saß sie an einem Tisch mit Onkel Aurelius und Herrn Peters. Beide Männer spielten Karten, und Slina Böteführ schenkte ihnen Punsch ein. Der alte Peters kam jetzt oft zu dem Kandidaten, um mit ihm eine Partie Karten zu spielen. Slina braute den Punsch dazu und ließ sich ein Kompliment des alten Schornsteinfegermeisters gern gefallen. Manchmal aber wurden die Karten hingelegt, und einer von der kleinen Gesellschaft erzählte eine Geschichte, der Anneli mit angehaltnem Atem lauschte. Wenn ein Geist darin vorkommen sollte, wurde sie vorher zu Bett geschickt. Heute aber erzählte Herr Peters eine kleine Ver¬ lobungsgeschichte aus alter Zeit. Es war vielleicht seine eigne, denn er wurde ge¬ rührt dabei, aber der Kandidat sagte grausam, heutzutage gäbe es keine Liebe mehr. Worauf Slina laut seufzte, und Anneli an Onkel Willi denken mußte. Annaluise, starre nicht auf einen Fleck, sondern lerne deine Aufgaben! rief Onkel Aurelius, der von seinem Punschglns aufsah. Das Mädel wird groß! setzte Herr Peters hinzu und nahm vorsichtig eine Prise. Dann vertieften sich beide Männer wieder in ihre Unterhaltung, und Anneli suchte an Karl den Großen zu denken, für den Fräulein Sengelmann eine ihr un¬ begreifliche Vorliebe hatte. Aber allerhand Fremdartiges summte ihr noch im Kopf herum, als sie schon im Bett lag und wieder einmal ihr Abendgebet sprach. Sie vergaß es jetzt manchmal, weil niemand sie daran erinnerte, und weil das Bild ihres Vaters blasser wurde. Manchmal jedoch sahen seine Augen sie an wie sonst, und ihre Hände falteten sich von selbst. (Fortsetzung folgt) Maßgebliches und Unmaßgebliches Reichsspiegel. (Kaiser Wilhelms Fährt nach Wien. Die österreichisch¬ ungarische Monarchie und ihr Herrscher. Herr von Jswolsky, der neue russische Minister des Auswärtigen, als „Deutschenfresser". Die Orientierung der russischen auswärtigen Politik. Die Angstmeierei in der deutschen Presse. Bange machen gilt nicht. Hundert Jahre allgemeiner Wehrpflicht. Englands Sorgen.) Der Kaiser geht in einigen Wochen nach Wien. Seit seiner Thronbesteigung kommt er zum vierten- oder fünftenmal nach Österreich, Kaiser Franz Joseph wiederum ist wiederholt in Berlin und auch sonst bei deutscheu Truppenübungen zugegen gewesen. Als ein außerordentliches Ereignis sollte deshalb des Kaisers bevorstehender Besuch nirgends angesehen werden. Kaiser Wilhelm der Zweite schaut mit großer Verehrung zum Kaiser Franz Joseph als zu seinem väterlichen Freunde empor. Nichts ist natürlicher, als daß er ihn bei dessen hohem Lebens¬ alter einmal wieder zu sehen wünscht; vielleicht auch, um persönlich Dank zu sagen für die treue Bundeshilfe, die er in Algeciras bei Österreich gefunden hat. Es sei hierbei eingeschaltet, daß die Ansage und Annahme des Besuchs dem Telegramm an den Grafen Gulochowski vorangegangen ist. Kaiser Franz Joseph repräsentiert in der Übung des mötisr as primos ein Zeitalter, das für uns mit Kaiser Wilhelm dem Ersten zu Grabe getragen worden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/402>, abgerufen am 26.12.2024.