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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliche? und Unmaßgebliches

heiße, von Akaba zunächst wieder nordwärts nach Maar führende, 1700 Kilometer
lange Eisenbahnroute wählen, wo er mit dem Dampfschiff von Suez nach Dscheddah
nur 1250 Kilometer hat und dann nur noch 120 Kilometer zu Lande bis Mekka
braucht. Bei nur 12 Seemeilen Fahrt kommt der Dampfer, der ja auch während
der kühlern Nachtzeit fährt, schon in fünfundsiebzig Stunden nach Dscheddah. Von
Syrien wird vollends kein Verkehr nach Suez über Akaba gehn. Die ganze Forderung
scheint darum wenig glaublich. Der Zusatz: "Die ägyptische Regierung lehnte die
Forderung nachdrücklichst ab", erschiene selbstverständlich, wenn die Nachricht irgend¬
einen materiellen Untergrund hätte.

Die Nachricht würde eher erklärbar durch eine nur wenig ältere Timesmeldung
aus Kairo (undatiert, rimss vom 17. April), der zufolge die Türkei die Eisenbahn
von Maar nach Akaba ganz aufgegeben habe, weil sie 3000 bis 4000 Fuß hinunter
steigen müsse. Man wolle vielmehr eine Bahn nach Akaba von Mdawara, 110 Kilo¬
meter südöstlich von Maar (nach der Habenichtschen Afrikakarte im Perthesschen
Verlag etwa 185 Kilometer südöstlich von Maar) bauen, das besser geeignet sei. Damit
würde die Landroute immerhin um 100 Kilometer kürzer. Aber unglaubwürdig
bliebe die Angabe doch noch. Denn wer würde in den heißen Gebieten die Eisen¬
bahnfahrt wählen, wenn er die Dampferfahrt mit einem ganz geringen Zeitverlust
haben könnte?

England ist mit der Pforte in Konflikt über das Hinterland von Aden. Es
begleitet schwerlich die Anstrengungen der Türkei, im Glücklichen Arabien (Jemen,
an der Bab el Mandeb-Straße) ihre Herrschaft herzustellen, mit freundlichen Blicken.
Bei Kuweit hat es die türkische Besitznehmung mit Gewalt abgewehrt. Da liegt
es nahe zu denken, daß der kleine Taha-Akaba-Zwischenfall in irgendeiner noch
schwer übersehbaren Weise bestimmt ist, die Türken auch an dieser Stelle vom Indischen
Ozean, von dem das Rote Meer doch nur ein Teil ist, fernzuhalten. Zwar
wird Akaba als türkisch anerkannt. Aber wenn man dies aufrichtig meint, so ist
nicht zu sehen, welchen Sinn der Streit um Taha haben soll.


Was geht uns Marokko an?

So fragt Wohl mancher, der nicht recht begreift,
Worüber sie sich eigentlich auf der grünen Insel gestritten haben. Algeciras heißt
bekanntlich die Insel, und zwar wie Irland: die grüne Insel; also, Gezkre el-Chodra
begrüßten die den afrikanischen Steppen entronnenen Araber, die hier zuerst festen
Fuß faßten, bei ihrem Einfall in Spanien den lieblichen Ort. Das arabische Wort
Gezire, das Wort für Insel, ist allen Orientreisenden wohlbekannt; in Kairo steht.
Bulak gegenüber, das Jnselhotel, das mit märchenhafter Pracht ausgestattete Schloß
von Gezire, das mit seinem großen Park von einer Aktiengesellschaft angekauft und
in einen Gasthof umgewandelt worden ist; Algier hat seinen Namen von der dem
Hafen vorliegenden Inselreihe, den Inseln, arabisch: Al-Gezair; denselben Namen
führt bei den Arabern auch das alte Mesopotamien, das durch die Bagdadbahn zu
neuem Leben erweckt werden soll. Also, wozu die Menschen auf diese maurische
Insel schicken, damit sie dort über das wildfremde Reich Marokko konferieren, das
wir doch höchstens aus dem "Kaufmann von Venedig" kennen, weil hier ein Prinz
von Marokko als Freier der Porzia erscheint? Nun, Marokko ist uns nicht so
fremd, wie es scheint; wir kennen viel, sehr viel von Marokko, es spielt in unserm
täglichen Leben eine Rolle.

Neulich ließ ich mir von meinem Tapezier einen neuen Lehnstuhl machen, der
mit französischem Saffianleder überzogen war. Ein sehr schönes, rotes, feines und
weiches, künstlich genarbtes Leder. Das ist gleich so ein Pröbchen von dem wild¬
fremden Lande, eine marokkanische Erinnerung; denn den Saffian nennt man auch
Maroquin oder Marokkoleder. Was bedeutet denn Saffian? Leder, wie es aus
der Stadt Safi an der Westküste Marokkos ausgeführt wird; es ist die am schönsten
liegende aller marokkanischen Küstenstädte. Zwischen Safi und Mogador wurde am
9. April 1895 der deutsche Geschäftsreisende Rockstroh, ein Leipziger, ermordet; der
deutsche Gesandte Graf Tattenbach begab sich sofort an Bord eines Kriegsschiffs


Maßgebliche? und Unmaßgebliches

heiße, von Akaba zunächst wieder nordwärts nach Maar führende, 1700 Kilometer
lange Eisenbahnroute wählen, wo er mit dem Dampfschiff von Suez nach Dscheddah
nur 1250 Kilometer hat und dann nur noch 120 Kilometer zu Lande bis Mekka
braucht. Bei nur 12 Seemeilen Fahrt kommt der Dampfer, der ja auch während
der kühlern Nachtzeit fährt, schon in fünfundsiebzig Stunden nach Dscheddah. Von
Syrien wird vollends kein Verkehr nach Suez über Akaba gehn. Die ganze Forderung
scheint darum wenig glaublich. Der Zusatz: „Die ägyptische Regierung lehnte die
Forderung nachdrücklichst ab", erschiene selbstverständlich, wenn die Nachricht irgend¬
einen materiellen Untergrund hätte.

Die Nachricht würde eher erklärbar durch eine nur wenig ältere Timesmeldung
aus Kairo (undatiert, rimss vom 17. April), der zufolge die Türkei die Eisenbahn
von Maar nach Akaba ganz aufgegeben habe, weil sie 3000 bis 4000 Fuß hinunter
steigen müsse. Man wolle vielmehr eine Bahn nach Akaba von Mdawara, 110 Kilo¬
meter südöstlich von Maar (nach der Habenichtschen Afrikakarte im Perthesschen
Verlag etwa 185 Kilometer südöstlich von Maar) bauen, das besser geeignet sei. Damit
würde die Landroute immerhin um 100 Kilometer kürzer. Aber unglaubwürdig
bliebe die Angabe doch noch. Denn wer würde in den heißen Gebieten die Eisen¬
bahnfahrt wählen, wenn er die Dampferfahrt mit einem ganz geringen Zeitverlust
haben könnte?

England ist mit der Pforte in Konflikt über das Hinterland von Aden. Es
begleitet schwerlich die Anstrengungen der Türkei, im Glücklichen Arabien (Jemen,
an der Bab el Mandeb-Straße) ihre Herrschaft herzustellen, mit freundlichen Blicken.
Bei Kuweit hat es die türkische Besitznehmung mit Gewalt abgewehrt. Da liegt
es nahe zu denken, daß der kleine Taha-Akaba-Zwischenfall in irgendeiner noch
schwer übersehbaren Weise bestimmt ist, die Türken auch an dieser Stelle vom Indischen
Ozean, von dem das Rote Meer doch nur ein Teil ist, fernzuhalten. Zwar
wird Akaba als türkisch anerkannt. Aber wenn man dies aufrichtig meint, so ist
nicht zu sehen, welchen Sinn der Streit um Taha haben soll.


Was geht uns Marokko an?

So fragt Wohl mancher, der nicht recht begreift,
Worüber sie sich eigentlich auf der grünen Insel gestritten haben. Algeciras heißt
bekanntlich die Insel, und zwar wie Irland: die grüne Insel; also, Gezkre el-Chodra
begrüßten die den afrikanischen Steppen entronnenen Araber, die hier zuerst festen
Fuß faßten, bei ihrem Einfall in Spanien den lieblichen Ort. Das arabische Wort
Gezire, das Wort für Insel, ist allen Orientreisenden wohlbekannt; in Kairo steht.
Bulak gegenüber, das Jnselhotel, das mit märchenhafter Pracht ausgestattete Schloß
von Gezire, das mit seinem großen Park von einer Aktiengesellschaft angekauft und
in einen Gasthof umgewandelt worden ist; Algier hat seinen Namen von der dem
Hafen vorliegenden Inselreihe, den Inseln, arabisch: Al-Gezair; denselben Namen
führt bei den Arabern auch das alte Mesopotamien, das durch die Bagdadbahn zu
neuem Leben erweckt werden soll. Also, wozu die Menschen auf diese maurische
Insel schicken, damit sie dort über das wildfremde Reich Marokko konferieren, das
wir doch höchstens aus dem „Kaufmann von Venedig" kennen, weil hier ein Prinz
von Marokko als Freier der Porzia erscheint? Nun, Marokko ist uns nicht so
fremd, wie es scheint; wir kennen viel, sehr viel von Marokko, es spielt in unserm
täglichen Leben eine Rolle.

Neulich ließ ich mir von meinem Tapezier einen neuen Lehnstuhl machen, der
mit französischem Saffianleder überzogen war. Ein sehr schönes, rotes, feines und
weiches, künstlich genarbtes Leder. Das ist gleich so ein Pröbchen von dem wild¬
fremden Lande, eine marokkanische Erinnerung; denn den Saffian nennt man auch
Maroquin oder Marokkoleder. Was bedeutet denn Saffian? Leder, wie es aus
der Stadt Safi an der Westküste Marokkos ausgeführt wird; es ist die am schönsten
liegende aller marokkanischen Küstenstädte. Zwischen Safi und Mogador wurde am
9. April 1895 der deutsche Geschäftsreisende Rockstroh, ein Leipziger, ermordet; der
deutsche Gesandte Graf Tattenbach begab sich sofort an Bord eines Kriegsschiffs


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[0299] Maßgebliche? und Unmaßgebliches heiße, von Akaba zunächst wieder nordwärts nach Maar führende, 1700 Kilometer lange Eisenbahnroute wählen, wo er mit dem Dampfschiff von Suez nach Dscheddah nur 1250 Kilometer hat und dann nur noch 120 Kilometer zu Lande bis Mekka braucht. Bei nur 12 Seemeilen Fahrt kommt der Dampfer, der ja auch während der kühlern Nachtzeit fährt, schon in fünfundsiebzig Stunden nach Dscheddah. Von Syrien wird vollends kein Verkehr nach Suez über Akaba gehn. Die ganze Forderung scheint darum wenig glaublich. Der Zusatz: „Die ägyptische Regierung lehnte die Forderung nachdrücklichst ab", erschiene selbstverständlich, wenn die Nachricht irgend¬ einen materiellen Untergrund hätte. Die Nachricht würde eher erklärbar durch eine nur wenig ältere Timesmeldung aus Kairo (undatiert, rimss vom 17. April), der zufolge die Türkei die Eisenbahn von Maar nach Akaba ganz aufgegeben habe, weil sie 3000 bis 4000 Fuß hinunter steigen müsse. Man wolle vielmehr eine Bahn nach Akaba von Mdawara, 110 Kilo¬ meter südöstlich von Maar (nach der Habenichtschen Afrikakarte im Perthesschen Verlag etwa 185 Kilometer südöstlich von Maar) bauen, das besser geeignet sei. Damit würde die Landroute immerhin um 100 Kilometer kürzer. Aber unglaubwürdig bliebe die Angabe doch noch. Denn wer würde in den heißen Gebieten die Eisen¬ bahnfahrt wählen, wenn er die Dampferfahrt mit einem ganz geringen Zeitverlust haben könnte? England ist mit der Pforte in Konflikt über das Hinterland von Aden. Es begleitet schwerlich die Anstrengungen der Türkei, im Glücklichen Arabien (Jemen, an der Bab el Mandeb-Straße) ihre Herrschaft herzustellen, mit freundlichen Blicken. Bei Kuweit hat es die türkische Besitznehmung mit Gewalt abgewehrt. Da liegt es nahe zu denken, daß der kleine Taha-Akaba-Zwischenfall in irgendeiner noch schwer übersehbaren Weise bestimmt ist, die Türken auch an dieser Stelle vom Indischen Ozean, von dem das Rote Meer doch nur ein Teil ist, fernzuhalten. Zwar wird Akaba als türkisch anerkannt. Aber wenn man dies aufrichtig meint, so ist nicht zu sehen, welchen Sinn der Streit um Taha haben soll. Was geht uns Marokko an? So fragt Wohl mancher, der nicht recht begreift, Worüber sie sich eigentlich auf der grünen Insel gestritten haben. Algeciras heißt bekanntlich die Insel, und zwar wie Irland: die grüne Insel; also, Gezkre el-Chodra begrüßten die den afrikanischen Steppen entronnenen Araber, die hier zuerst festen Fuß faßten, bei ihrem Einfall in Spanien den lieblichen Ort. Das arabische Wort Gezire, das Wort für Insel, ist allen Orientreisenden wohlbekannt; in Kairo steht. Bulak gegenüber, das Jnselhotel, das mit märchenhafter Pracht ausgestattete Schloß von Gezire, das mit seinem großen Park von einer Aktiengesellschaft angekauft und in einen Gasthof umgewandelt worden ist; Algier hat seinen Namen von der dem Hafen vorliegenden Inselreihe, den Inseln, arabisch: Al-Gezair; denselben Namen führt bei den Arabern auch das alte Mesopotamien, das durch die Bagdadbahn zu neuem Leben erweckt werden soll. Also, wozu die Menschen auf diese maurische Insel schicken, damit sie dort über das wildfremde Reich Marokko konferieren, das wir doch höchstens aus dem „Kaufmann von Venedig" kennen, weil hier ein Prinz von Marokko als Freier der Porzia erscheint? Nun, Marokko ist uns nicht so fremd, wie es scheint; wir kennen viel, sehr viel von Marokko, es spielt in unserm täglichen Leben eine Rolle. Neulich ließ ich mir von meinem Tapezier einen neuen Lehnstuhl machen, der mit französischem Saffianleder überzogen war. Ein sehr schönes, rotes, feines und weiches, künstlich genarbtes Leder. Das ist gleich so ein Pröbchen von dem wild¬ fremden Lande, eine marokkanische Erinnerung; denn den Saffian nennt man auch Maroquin oder Marokkoleder. Was bedeutet denn Saffian? Leder, wie es aus der Stadt Safi an der Westküste Marokkos ausgeführt wird; es ist die am schönsten liegende aller marokkanischen Küstenstädte. Zwischen Safi und Mogador wurde am 9. April 1895 der deutsche Geschäftsreisende Rockstroh, ein Leipziger, ermordet; der deutsche Gesandte Graf Tattenbach begab sich sofort an Bord eines Kriegsschiffs

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/299>, abgerufen am 26.12.2024.