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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

wie wenig ernst der ganze Mann zu nehmen ist. Die französische Sozialdemokratie
lacht einen deutschen Parteiführer, der einen solchen Brief schreibt und drucken
läßt, einfach aus, einen Brief, der im übrigen jede Unterdrückung rechtfertigt, die
gegen die Sozialdemokratie jemals beabsichtigt war. Es gehört zwar heute in
einzelnen Kreisen zum guten Ton, Bismarcks Bekämpfung der Sozialdemokratie
ebenso wie seinen Kampf gegen den Ultramontanismus mitleidsvoll als eine Ver-
irrung zu beurteilen und zu verurteilen. Seine Bekämpfung der Sozialdemokratie
ist durch die Gefühlspolitik des Liberalismus verwässert worden, die sich zu einem
gesetzgeberischen Eingreifen erst nach zwei Attentaten und einer Reichstagsauflösung
entschließen konnte und auch dann noch nicht ihrer Gesetzgebung einen dauernden
Charakter aufzuprägen vermochte, sondern sie von einer Legislaturperiode zur andern
zum Gegenstand der Wahlparole und der Massenumschmeichlnng machte. Der
Kampf gegen den Ultramontanismus aber ist durch die kasuistische Gesetzgebung
vereitelt worden, die nicht große Fragen, sondern einzelne Verfehlungen ins Auge
faßte und ihre Zuflucht zu Poltzeimaszregelu nahm. Der an das Pferd eines
Gendarmen gebundne Priester hat diese ganze Bewegung zum Stillstand gebracht.
Sobald Bismarck die Ungangbarkeit des Weges erkannte, hat er nicht gezögert,
den Frieden mit Rom wieder herzustellen. Eine spätere vom Wust des Tages¬
streites befreite Geschichte mag darüber urteilen, ob das Eintreten in den anfge-
zwungnen Kampf oder die Herstellung des Friedens die größere Tat war. "H"




Schmollers Volkswirtschaftslehre.

Voriges Jahr ist bei Duncker und
Humblot der zweite Teil von Gustav Schmollers Grundriß der Allgemeinen
Volkswirtschaftslehre erschienen. Damit ist ein Werk vollendet, das den großen
encyklopädischen Werken von Roscher und Adolf Wagner würdig an die Seite tritt.
Der zweite Teil enthält: "Verkehr, Handel und Geldwesen; Wert und Preis;
Kapital und Arbeit; Einkommen; Krisen, Klassenkämpfe, Handelspolitik; historische
Gesamtentwicklung." Jede Gruppe von Erscheinungen wird in zuscunmeufasseudeu
Über- und Rückblicken mit kurzen, kräftigen Zügen charakterisiert und so ein Gesamt¬
bild der heutigen wirtschaftlichen Lage, der vorhandnen Strebungen und Entwicklungs¬
richtungen entworfen. Wir geben zwei kleine Proben. In dem Abschnitt über "die
sozialen und psychischen Folgen der Geldwirtschaft" heißt es Seite 99: Die Sozia¬
listen "haben darin Recht, daß die geldwirtschaftlicher Beziehungen zunächst leicht
Entfremdung nud Gleichgiltigkeit schaffen. Aber mit der Zeit sieht der Unternehmer¬
verstand doch ein, daß ein tüchtiger, gut geschulter Arbeiterstand in seinem Interesse
liegt. Statt der alten individuell persönlichen Beziehungen und Rücksichten entstehn
neue soziale Beziehungen, Bindungen, Beeinflussungen; statt der alten entsteh" neue
Institutionen; die Arbeiterverbände, die Schiedsgerichte, die Hilfskassen, die Spar¬
kassen ersetzen dem Arbeiterstnud, was früher der Leibeigne an seinem Herrn hatte.
Und so anch in andern Verhältnissen. Das reine Geldverhnltuis, der oasli-iuzxus,
der mit jeder Geldzahlung alle Beziehungen erledigt glaubt, existiert kaum irgendwo
vollständig. Auch den Kaufmann und den Kunden verbinden dauernde sittliche
Beziehungen des Vertrauens, der Anhänglichkeit; je höher die Berufe stehn, desto
weniger ist der Geldempfänger mit dem bloßen Gelde zufrieden; die Ehre, die
sittliche Achtung durch untre und sich selbst spielt in alles Wirtschaftsleben auch
heute hinein." Und in der Untersuchung des Einflusses der Zollpolitik auf den
Handel wird Seite 623 gesagt: "Die europäische Handelsstatistik zeigt 1800 bis
1840 einen mäßigen Fortschritt, der ebenso ans den damaligen mäßigen Wohlstand
und geringen Verkehr zurückgehn wird wie auf die Schutzzölle; sie zeigt ein enormes
Wachstum vou 1840 bis 1880, was mit der liberalen Handelspolitik, aber wohl
noch mehr mit andern Ursachen zusammenhängt; sie zeigt in England und Frankreich
1880 bis 1900 eine gewisse Stabilität, die nicht (jedenfalls nicht für England)
aus der Handelspolitik allein, sondern wesentlich auch aus andern Ursachen zu er¬
klären ist; Rußland, die Vereinigten Staaten und Osterreich zeigen 1390 bis 1900


Maßgebliches und Unmaßgebliches

wie wenig ernst der ganze Mann zu nehmen ist. Die französische Sozialdemokratie
lacht einen deutschen Parteiführer, der einen solchen Brief schreibt und drucken
läßt, einfach aus, einen Brief, der im übrigen jede Unterdrückung rechtfertigt, die
gegen die Sozialdemokratie jemals beabsichtigt war. Es gehört zwar heute in
einzelnen Kreisen zum guten Ton, Bismarcks Bekämpfung der Sozialdemokratie
ebenso wie seinen Kampf gegen den Ultramontanismus mitleidsvoll als eine Ver-
irrung zu beurteilen und zu verurteilen. Seine Bekämpfung der Sozialdemokratie
ist durch die Gefühlspolitik des Liberalismus verwässert worden, die sich zu einem
gesetzgeberischen Eingreifen erst nach zwei Attentaten und einer Reichstagsauflösung
entschließen konnte und auch dann noch nicht ihrer Gesetzgebung einen dauernden
Charakter aufzuprägen vermochte, sondern sie von einer Legislaturperiode zur andern
zum Gegenstand der Wahlparole und der Massenumschmeichlnng machte. Der
Kampf gegen den Ultramontanismus aber ist durch die kasuistische Gesetzgebung
vereitelt worden, die nicht große Fragen, sondern einzelne Verfehlungen ins Auge
faßte und ihre Zuflucht zu Poltzeimaszregelu nahm. Der an das Pferd eines
Gendarmen gebundne Priester hat diese ganze Bewegung zum Stillstand gebracht.
Sobald Bismarck die Ungangbarkeit des Weges erkannte, hat er nicht gezögert,
den Frieden mit Rom wieder herzustellen. Eine spätere vom Wust des Tages¬
streites befreite Geschichte mag darüber urteilen, ob das Eintreten in den anfge-
zwungnen Kampf oder die Herstellung des Friedens die größere Tat war. »H»




Schmollers Volkswirtschaftslehre.

Voriges Jahr ist bei Duncker und
Humblot der zweite Teil von Gustav Schmollers Grundriß der Allgemeinen
Volkswirtschaftslehre erschienen. Damit ist ein Werk vollendet, das den großen
encyklopädischen Werken von Roscher und Adolf Wagner würdig an die Seite tritt.
Der zweite Teil enthält: „Verkehr, Handel und Geldwesen; Wert und Preis;
Kapital und Arbeit; Einkommen; Krisen, Klassenkämpfe, Handelspolitik; historische
Gesamtentwicklung." Jede Gruppe von Erscheinungen wird in zuscunmeufasseudeu
Über- und Rückblicken mit kurzen, kräftigen Zügen charakterisiert und so ein Gesamt¬
bild der heutigen wirtschaftlichen Lage, der vorhandnen Strebungen und Entwicklungs¬
richtungen entworfen. Wir geben zwei kleine Proben. In dem Abschnitt über „die
sozialen und psychischen Folgen der Geldwirtschaft" heißt es Seite 99: Die Sozia¬
listen „haben darin Recht, daß die geldwirtschaftlicher Beziehungen zunächst leicht
Entfremdung nud Gleichgiltigkeit schaffen. Aber mit der Zeit sieht der Unternehmer¬
verstand doch ein, daß ein tüchtiger, gut geschulter Arbeiterstand in seinem Interesse
liegt. Statt der alten individuell persönlichen Beziehungen und Rücksichten entstehn
neue soziale Beziehungen, Bindungen, Beeinflussungen; statt der alten entsteh» neue
Institutionen; die Arbeiterverbände, die Schiedsgerichte, die Hilfskassen, die Spar¬
kassen ersetzen dem Arbeiterstnud, was früher der Leibeigne an seinem Herrn hatte.
Und so anch in andern Verhältnissen. Das reine Geldverhnltuis, der oasli-iuzxus,
der mit jeder Geldzahlung alle Beziehungen erledigt glaubt, existiert kaum irgendwo
vollständig. Auch den Kaufmann und den Kunden verbinden dauernde sittliche
Beziehungen des Vertrauens, der Anhänglichkeit; je höher die Berufe stehn, desto
weniger ist der Geldempfänger mit dem bloßen Gelde zufrieden; die Ehre, die
sittliche Achtung durch untre und sich selbst spielt in alles Wirtschaftsleben auch
heute hinein." Und in der Untersuchung des Einflusses der Zollpolitik auf den
Handel wird Seite 623 gesagt: „Die europäische Handelsstatistik zeigt 1800 bis
1840 einen mäßigen Fortschritt, der ebenso ans den damaligen mäßigen Wohlstand
und geringen Verkehr zurückgehn wird wie auf die Schutzzölle; sie zeigt ein enormes
Wachstum vou 1840 bis 1880, was mit der liberalen Handelspolitik, aber wohl
noch mehr mit andern Ursachen zusammenhängt; sie zeigt in England und Frankreich
1880 bis 1900 eine gewisse Stabilität, die nicht (jedenfalls nicht für England)
aus der Handelspolitik allein, sondern wesentlich auch aus andern Ursachen zu er¬
klären ist; Rußland, die Vereinigten Staaten und Osterreich zeigen 1390 bis 1900


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[0695] Maßgebliches und Unmaßgebliches wie wenig ernst der ganze Mann zu nehmen ist. Die französische Sozialdemokratie lacht einen deutschen Parteiführer, der einen solchen Brief schreibt und drucken läßt, einfach aus, einen Brief, der im übrigen jede Unterdrückung rechtfertigt, die gegen die Sozialdemokratie jemals beabsichtigt war. Es gehört zwar heute in einzelnen Kreisen zum guten Ton, Bismarcks Bekämpfung der Sozialdemokratie ebenso wie seinen Kampf gegen den Ultramontanismus mitleidsvoll als eine Ver- irrung zu beurteilen und zu verurteilen. Seine Bekämpfung der Sozialdemokratie ist durch die Gefühlspolitik des Liberalismus verwässert worden, die sich zu einem gesetzgeberischen Eingreifen erst nach zwei Attentaten und einer Reichstagsauflösung entschließen konnte und auch dann noch nicht ihrer Gesetzgebung einen dauernden Charakter aufzuprägen vermochte, sondern sie von einer Legislaturperiode zur andern zum Gegenstand der Wahlparole und der Massenumschmeichlnng machte. Der Kampf gegen den Ultramontanismus aber ist durch die kasuistische Gesetzgebung vereitelt worden, die nicht große Fragen, sondern einzelne Verfehlungen ins Auge faßte und ihre Zuflucht zu Poltzeimaszregelu nahm. Der an das Pferd eines Gendarmen gebundne Priester hat diese ganze Bewegung zum Stillstand gebracht. Sobald Bismarck die Ungangbarkeit des Weges erkannte, hat er nicht gezögert, den Frieden mit Rom wieder herzustellen. Eine spätere vom Wust des Tages¬ streites befreite Geschichte mag darüber urteilen, ob das Eintreten in den anfge- zwungnen Kampf oder die Herstellung des Friedens die größere Tat war. »H» Schmollers Volkswirtschaftslehre. Voriges Jahr ist bei Duncker und Humblot der zweite Teil von Gustav Schmollers Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre erschienen. Damit ist ein Werk vollendet, das den großen encyklopädischen Werken von Roscher und Adolf Wagner würdig an die Seite tritt. Der zweite Teil enthält: „Verkehr, Handel und Geldwesen; Wert und Preis; Kapital und Arbeit; Einkommen; Krisen, Klassenkämpfe, Handelspolitik; historische Gesamtentwicklung." Jede Gruppe von Erscheinungen wird in zuscunmeufasseudeu Über- und Rückblicken mit kurzen, kräftigen Zügen charakterisiert und so ein Gesamt¬ bild der heutigen wirtschaftlichen Lage, der vorhandnen Strebungen und Entwicklungs¬ richtungen entworfen. Wir geben zwei kleine Proben. In dem Abschnitt über „die sozialen und psychischen Folgen der Geldwirtschaft" heißt es Seite 99: Die Sozia¬ listen „haben darin Recht, daß die geldwirtschaftlicher Beziehungen zunächst leicht Entfremdung nud Gleichgiltigkeit schaffen. Aber mit der Zeit sieht der Unternehmer¬ verstand doch ein, daß ein tüchtiger, gut geschulter Arbeiterstand in seinem Interesse liegt. Statt der alten individuell persönlichen Beziehungen und Rücksichten entstehn neue soziale Beziehungen, Bindungen, Beeinflussungen; statt der alten entsteh» neue Institutionen; die Arbeiterverbände, die Schiedsgerichte, die Hilfskassen, die Spar¬ kassen ersetzen dem Arbeiterstnud, was früher der Leibeigne an seinem Herrn hatte. Und so anch in andern Verhältnissen. Das reine Geldverhnltuis, der oasli-iuzxus, der mit jeder Geldzahlung alle Beziehungen erledigt glaubt, existiert kaum irgendwo vollständig. Auch den Kaufmann und den Kunden verbinden dauernde sittliche Beziehungen des Vertrauens, der Anhänglichkeit; je höher die Berufe stehn, desto weniger ist der Geldempfänger mit dem bloßen Gelde zufrieden; die Ehre, die sittliche Achtung durch untre und sich selbst spielt in alles Wirtschaftsleben auch heute hinein." Und in der Untersuchung des Einflusses der Zollpolitik auf den Handel wird Seite 623 gesagt: „Die europäische Handelsstatistik zeigt 1800 bis 1840 einen mäßigen Fortschritt, der ebenso ans den damaligen mäßigen Wohlstand und geringen Verkehr zurückgehn wird wie auf die Schutzzölle; sie zeigt ein enormes Wachstum vou 1840 bis 1880, was mit der liberalen Handelspolitik, aber wohl noch mehr mit andern Ursachen zusammenhängt; sie zeigt in England und Frankreich 1880 bis 1900 eine gewisse Stabilität, die nicht (jedenfalls nicht für England) aus der Handelspolitik allein, sondern wesentlich auch aus andern Ursachen zu er¬ klären ist; Rußland, die Vereinigten Staaten und Osterreich zeigen 1390 bis 1900

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/695>, abgerufen am 22.12.2024.