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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Ostasien

er Koloß mit den tönernen Füßen -- so nannte man Nußland,
als es im Krimkriege besiegt worden war. An der einen Wunde
von Sebaftopol verblutete sich seine Widerstandskraft. Auch jetzt
hat sich gezeigt, daß die angestaunte östliche Großmacht nicht auf
! einem soliden Fundament stand. Aus dem Krimkriege entsprangen
außerordentlich wichtige Folgen: der Groll Alexanders des Zweiten gegen
Frankreich und gegen das undankbare Österreich, während Preußen in hoher
Gunst stand, die durch sein Verhalten beim polnischen Aufstand, wo Österreich
sich törichterweise den Westmünster und ihrer "identischen Note" angeschlossen
hatte, noch gesteigert wurde. Preußen konnte seine Abrechnung mit Österreich,
Deutschland die seinige mit Frankreich ungestört vollziehn. Europa war von
1856 bis 1876, ja bis zur Thronbesteigung Alexanders des Dritten 1881,
von dem russischen Alp befreit. Unter diesem Herrscher bildete er sich aufs
neue. Der Zar machte sich die Bekämpfung der Mißbräuche in der Armee,
die im Balkankriege in erschreckender Weise zutage getreten waren, zur be¬
sondern Aufgabe. Er hatte auch Erfolg damit, wenigstens schien es so. Und
durch sein kraftvolles Regiment im Innern gelang es, den Nihilismus, dem
sein Vater zum Opfer gefallen war, von der Oberfläche verschwinden zu machen.
Viele Beobachter hielten ihn für ausgestorben. Als Rußland das Bündnis mit
Frankreich schloß und sich immer abgeneigter gegen Deutschland verhielt, kam
es immer mehr in eine Art von Hegemoniestellung. Die Art, wie der grollende
Bismarck die "Fehler" besprach, die sein Nachfolger durch "Abschneidung der
Drähte nach Rußland" begangen habe, mußte das Gefühl von einem russischen
Übergewicht noch immer mehr steigern. Frankreich folgte jedem Winke der
russischen Diplomatie. England wurde sehr vorsichtig; in seiner Presse entstand
sogar eine Schule, die eine Verständigung mit Rußland um jeden Preis, sogar
um den der Auslieferung Persiens an die Moskowiter, predigte: sie wollte
statt dessen Altengland gegen Deutschland auf die Beine bringen.

So war die Situation vor dem ostasiatischen Kriege. Nur in einem
Punkte hatte sich doch allmählich eine folgenschwere Veränderung vollzogen.
Der Nihilismus war wieder zu Kräften gekommen und erhob sein Haupt höher
als je. Mordtaten an einer ganzen Anzahl hochstehender Beamten bewiesen


Grenzbot-n 1 1905 76


Ostasien

er Koloß mit den tönernen Füßen — so nannte man Nußland,
als es im Krimkriege besiegt worden war. An der einen Wunde
von Sebaftopol verblutete sich seine Widerstandskraft. Auch jetzt
hat sich gezeigt, daß die angestaunte östliche Großmacht nicht auf
! einem soliden Fundament stand. Aus dem Krimkriege entsprangen
außerordentlich wichtige Folgen: der Groll Alexanders des Zweiten gegen
Frankreich und gegen das undankbare Österreich, während Preußen in hoher
Gunst stand, die durch sein Verhalten beim polnischen Aufstand, wo Österreich
sich törichterweise den Westmünster und ihrer „identischen Note" angeschlossen
hatte, noch gesteigert wurde. Preußen konnte seine Abrechnung mit Österreich,
Deutschland die seinige mit Frankreich ungestört vollziehn. Europa war von
1856 bis 1876, ja bis zur Thronbesteigung Alexanders des Dritten 1881,
von dem russischen Alp befreit. Unter diesem Herrscher bildete er sich aufs
neue. Der Zar machte sich die Bekämpfung der Mißbräuche in der Armee,
die im Balkankriege in erschreckender Weise zutage getreten waren, zur be¬
sondern Aufgabe. Er hatte auch Erfolg damit, wenigstens schien es so. Und
durch sein kraftvolles Regiment im Innern gelang es, den Nihilismus, dem
sein Vater zum Opfer gefallen war, von der Oberfläche verschwinden zu machen.
Viele Beobachter hielten ihn für ausgestorben. Als Rußland das Bündnis mit
Frankreich schloß und sich immer abgeneigter gegen Deutschland verhielt, kam
es immer mehr in eine Art von Hegemoniestellung. Die Art, wie der grollende
Bismarck die „Fehler" besprach, die sein Nachfolger durch „Abschneidung der
Drähte nach Rußland" begangen habe, mußte das Gefühl von einem russischen
Übergewicht noch immer mehr steigern. Frankreich folgte jedem Winke der
russischen Diplomatie. England wurde sehr vorsichtig; in seiner Presse entstand
sogar eine Schule, die eine Verständigung mit Rußland um jeden Preis, sogar
um den der Auslieferung Persiens an die Moskowiter, predigte: sie wollte
statt dessen Altengland gegen Deutschland auf die Beine bringen.

So war die Situation vor dem ostasiatischen Kriege. Nur in einem
Punkte hatte sich doch allmählich eine folgenschwere Veränderung vollzogen.
Der Nihilismus war wieder zu Kräften gekommen und erhob sein Haupt höher
als je. Mordtaten an einer ganzen Anzahl hochstehender Beamten bewiesen


Grenzbot-n 1 1905 76
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[0585] [Abbildung] Ostasien er Koloß mit den tönernen Füßen — so nannte man Nußland, als es im Krimkriege besiegt worden war. An der einen Wunde von Sebaftopol verblutete sich seine Widerstandskraft. Auch jetzt hat sich gezeigt, daß die angestaunte östliche Großmacht nicht auf ! einem soliden Fundament stand. Aus dem Krimkriege entsprangen außerordentlich wichtige Folgen: der Groll Alexanders des Zweiten gegen Frankreich und gegen das undankbare Österreich, während Preußen in hoher Gunst stand, die durch sein Verhalten beim polnischen Aufstand, wo Österreich sich törichterweise den Westmünster und ihrer „identischen Note" angeschlossen hatte, noch gesteigert wurde. Preußen konnte seine Abrechnung mit Österreich, Deutschland die seinige mit Frankreich ungestört vollziehn. Europa war von 1856 bis 1876, ja bis zur Thronbesteigung Alexanders des Dritten 1881, von dem russischen Alp befreit. Unter diesem Herrscher bildete er sich aufs neue. Der Zar machte sich die Bekämpfung der Mißbräuche in der Armee, die im Balkankriege in erschreckender Weise zutage getreten waren, zur be¬ sondern Aufgabe. Er hatte auch Erfolg damit, wenigstens schien es so. Und durch sein kraftvolles Regiment im Innern gelang es, den Nihilismus, dem sein Vater zum Opfer gefallen war, von der Oberfläche verschwinden zu machen. Viele Beobachter hielten ihn für ausgestorben. Als Rußland das Bündnis mit Frankreich schloß und sich immer abgeneigter gegen Deutschland verhielt, kam es immer mehr in eine Art von Hegemoniestellung. Die Art, wie der grollende Bismarck die „Fehler" besprach, die sein Nachfolger durch „Abschneidung der Drähte nach Rußland" begangen habe, mußte das Gefühl von einem russischen Übergewicht noch immer mehr steigern. Frankreich folgte jedem Winke der russischen Diplomatie. England wurde sehr vorsichtig; in seiner Presse entstand sogar eine Schule, die eine Verständigung mit Rußland um jeden Preis, sogar um den der Auslieferung Persiens an die Moskowiter, predigte: sie wollte statt dessen Altengland gegen Deutschland auf die Beine bringen. So war die Situation vor dem ostasiatischen Kriege. Nur in einem Punkte hatte sich doch allmählich eine folgenschwere Veränderung vollzogen. Der Nihilismus war wieder zu Kräften gekommen und erhob sein Haupt höher als je. Mordtaten an einer ganzen Anzahl hochstehender Beamten bewiesen Grenzbot-n 1 1905 76

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/585>, abgerufen am 23.07.2024.