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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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vor hundert Jahren

Degen gegen seinen Hauptmann zieht. Von Feldzug zu Feldzug, sagt
Morona, nimmt der moralische Wert und die Begeisterung des Heeres ab;
der religiöse Sinn fehlte ohnehin diesen Söhnen der Revolution, und 1813
mußte man zur Erhaltung der Zucht zu Erschießen und körperlichen Strafen
greifen!


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Mit der Katastrophe Napoleons von 1813 bis 1815 befaßt sich der
achte und letzte Band des großen Werkes Albert Sorels, von dessen frühern
Bänden wir in den grünen Blättern von 1904, III, Seite 436 bis 440 berichtet
haben. Es ist bemerkenswert, daß Sorel den ganzen großen fünfundzwanzig¬
jährigen Kampf zwischen Europa und Frankreich, dessen größter Heerführer auf
französischer Seite Napoleon der Erste war, als einen "Kampf um die Grenzen"
auffaßt. Frankreich will "die Grenzen Cäsars" erobern; das ist eine Über¬
lieferung der königlichen Kanzleien, ein Lehrsatz der Gebildeten, ein Traum
der Dichter, der Ehrgeiz der Führer, Könige, Minister, Generale, Ver¬
sammlungen und Ausschüsse; seit Jahrhunderten streben alle demselben Ziel
nach, aus Interesse die Nationalökonomen, aus Staatsgründen die Politiker,
aus nationaler Utopie das gesamte Volk; man kann sagen, daß sich die ganze
französische Geschichte seit Karl dem Großen in dieser Richtung bewegt, zuerst
in dunkelm Drang, dann in planmäßiger Absicht. Die Kämpfe von 1792
bis 1815 sind gewissermaßen nur der letzte, oder wenn man 1870 in Betracht
zieht, der vorletzte Akt eines langen Trauerspiels. Mit derselben Zähigkeit
wie Frankreich dem Vergrößerungsplane nachstrebt, verfolgen die andern
Staaten Europas ihr Ziel der Zurückwerfung Frankreichs in seine "alten
Grenzen." Die Vorwünde zum Kriege wechseln, wie die Waffen der Kämpfer;
aber es ist derselbe Krieg, der in Wien 1815 zum Schluß kommt, wie der,
der 1648 in Münster und Osnabrück, 1659 in den Pyrenäen, 1679 in
Nymwegen und 1713 in Utrecht beigelegt wurde -- und der immer wieder
ausbrach. So oft sich Frankreich gegen Norden ausdehnen will, findet es
England auf seinem Wege, bei Bouviues wie bei Crecy und Waterloo;
immer ist das Rheintal das Schlachtfeld zwischen den beiden Reichen, die aus
dem Reich Karls des Großen hervorgingen; zu allen Zeiten hat Frankreich
in Italien und in Deutschland den Rhein verloren oder gewonnen. Ob die
Reformation, die Nachfolge in Neapel oder in Spanien den Anlaß bietet, ob
die Protagonisten Ludwig der Vierzehnte und Wilhelm der Dritte, Napoleon
und Wellington heißen -- im Kern ist es immer dieselbe Sache. Sorel geht
in dieser Auffassung uns fast zu weit, wenn er 1792 eigentlich jede politische
Erwägung grundsätzlicher Art bei den deutschen Mächten in Abrede stellt.
Damals waren Ludwig der Sechzehnte und das monarchische Prinzip durch die
Verfassung bedroht, die ihm die Franzosen aufgedrängt hatten; Österreich und
Preußen sprachen auch davon, ihm beizustehn; aber welche Sprache führten sie,
indem sie den Bund der Könige gegen die unruhigen Franzosen zustande zu
bringen suchten? Genau dieselbe, die achtzig Jahre früher die Verbündeten bei
den Beratungen in Gertruydenberg geführt hatten: Frankreich müsse beschnitten,
Elsaß-Lothringen ihm entrissen und es so unschädlich gemacht werden. Damals


vor hundert Jahren

Degen gegen seinen Hauptmann zieht. Von Feldzug zu Feldzug, sagt
Morona, nimmt der moralische Wert und die Begeisterung des Heeres ab;
der religiöse Sinn fehlte ohnehin diesen Söhnen der Revolution, und 1813
mußte man zur Erhaltung der Zucht zu Erschießen und körperlichen Strafen
greifen!


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Mit der Katastrophe Napoleons von 1813 bis 1815 befaßt sich der
achte und letzte Band des großen Werkes Albert Sorels, von dessen frühern
Bänden wir in den grünen Blättern von 1904, III, Seite 436 bis 440 berichtet
haben. Es ist bemerkenswert, daß Sorel den ganzen großen fünfundzwanzig¬
jährigen Kampf zwischen Europa und Frankreich, dessen größter Heerführer auf
französischer Seite Napoleon der Erste war, als einen „Kampf um die Grenzen"
auffaßt. Frankreich will „die Grenzen Cäsars" erobern; das ist eine Über¬
lieferung der königlichen Kanzleien, ein Lehrsatz der Gebildeten, ein Traum
der Dichter, der Ehrgeiz der Führer, Könige, Minister, Generale, Ver¬
sammlungen und Ausschüsse; seit Jahrhunderten streben alle demselben Ziel
nach, aus Interesse die Nationalökonomen, aus Staatsgründen die Politiker,
aus nationaler Utopie das gesamte Volk; man kann sagen, daß sich die ganze
französische Geschichte seit Karl dem Großen in dieser Richtung bewegt, zuerst
in dunkelm Drang, dann in planmäßiger Absicht. Die Kämpfe von 1792
bis 1815 sind gewissermaßen nur der letzte, oder wenn man 1870 in Betracht
zieht, der vorletzte Akt eines langen Trauerspiels. Mit derselben Zähigkeit
wie Frankreich dem Vergrößerungsplane nachstrebt, verfolgen die andern
Staaten Europas ihr Ziel der Zurückwerfung Frankreichs in seine „alten
Grenzen." Die Vorwünde zum Kriege wechseln, wie die Waffen der Kämpfer;
aber es ist derselbe Krieg, der in Wien 1815 zum Schluß kommt, wie der,
der 1648 in Münster und Osnabrück, 1659 in den Pyrenäen, 1679 in
Nymwegen und 1713 in Utrecht beigelegt wurde — und der immer wieder
ausbrach. So oft sich Frankreich gegen Norden ausdehnen will, findet es
England auf seinem Wege, bei Bouviues wie bei Crecy und Waterloo;
immer ist das Rheintal das Schlachtfeld zwischen den beiden Reichen, die aus
dem Reich Karls des Großen hervorgingen; zu allen Zeiten hat Frankreich
in Italien und in Deutschland den Rhein verloren oder gewonnen. Ob die
Reformation, die Nachfolge in Neapel oder in Spanien den Anlaß bietet, ob
die Protagonisten Ludwig der Vierzehnte und Wilhelm der Dritte, Napoleon
und Wellington heißen — im Kern ist es immer dieselbe Sache. Sorel geht
in dieser Auffassung uns fast zu weit, wenn er 1792 eigentlich jede politische
Erwägung grundsätzlicher Art bei den deutschen Mächten in Abrede stellt.
Damals waren Ludwig der Sechzehnte und das monarchische Prinzip durch die
Verfassung bedroht, die ihm die Franzosen aufgedrängt hatten; Österreich und
Preußen sprachen auch davon, ihm beizustehn; aber welche Sprache führten sie,
indem sie den Bund der Könige gegen die unruhigen Franzosen zustande zu
bringen suchten? Genau dieselbe, die achtzig Jahre früher die Verbündeten bei
den Beratungen in Gertruydenberg geführt hatten: Frankreich müsse beschnitten,
Elsaß-Lothringen ihm entrissen und es so unschädlich gemacht werden. Damals


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[0497] vor hundert Jahren Degen gegen seinen Hauptmann zieht. Von Feldzug zu Feldzug, sagt Morona, nimmt der moralische Wert und die Begeisterung des Heeres ab; der religiöse Sinn fehlte ohnehin diesen Söhnen der Revolution, und 1813 mußte man zur Erhaltung der Zucht zu Erschießen und körperlichen Strafen greifen! 3 Mit der Katastrophe Napoleons von 1813 bis 1815 befaßt sich der achte und letzte Band des großen Werkes Albert Sorels, von dessen frühern Bänden wir in den grünen Blättern von 1904, III, Seite 436 bis 440 berichtet haben. Es ist bemerkenswert, daß Sorel den ganzen großen fünfundzwanzig¬ jährigen Kampf zwischen Europa und Frankreich, dessen größter Heerführer auf französischer Seite Napoleon der Erste war, als einen „Kampf um die Grenzen" auffaßt. Frankreich will „die Grenzen Cäsars" erobern; das ist eine Über¬ lieferung der königlichen Kanzleien, ein Lehrsatz der Gebildeten, ein Traum der Dichter, der Ehrgeiz der Führer, Könige, Minister, Generale, Ver¬ sammlungen und Ausschüsse; seit Jahrhunderten streben alle demselben Ziel nach, aus Interesse die Nationalökonomen, aus Staatsgründen die Politiker, aus nationaler Utopie das gesamte Volk; man kann sagen, daß sich die ganze französische Geschichte seit Karl dem Großen in dieser Richtung bewegt, zuerst in dunkelm Drang, dann in planmäßiger Absicht. Die Kämpfe von 1792 bis 1815 sind gewissermaßen nur der letzte, oder wenn man 1870 in Betracht zieht, der vorletzte Akt eines langen Trauerspiels. Mit derselben Zähigkeit wie Frankreich dem Vergrößerungsplane nachstrebt, verfolgen die andern Staaten Europas ihr Ziel der Zurückwerfung Frankreichs in seine „alten Grenzen." Die Vorwünde zum Kriege wechseln, wie die Waffen der Kämpfer; aber es ist derselbe Krieg, der in Wien 1815 zum Schluß kommt, wie der, der 1648 in Münster und Osnabrück, 1659 in den Pyrenäen, 1679 in Nymwegen und 1713 in Utrecht beigelegt wurde — und der immer wieder ausbrach. So oft sich Frankreich gegen Norden ausdehnen will, findet es England auf seinem Wege, bei Bouviues wie bei Crecy und Waterloo; immer ist das Rheintal das Schlachtfeld zwischen den beiden Reichen, die aus dem Reich Karls des Großen hervorgingen; zu allen Zeiten hat Frankreich in Italien und in Deutschland den Rhein verloren oder gewonnen. Ob die Reformation, die Nachfolge in Neapel oder in Spanien den Anlaß bietet, ob die Protagonisten Ludwig der Vierzehnte und Wilhelm der Dritte, Napoleon und Wellington heißen — im Kern ist es immer dieselbe Sache. Sorel geht in dieser Auffassung uns fast zu weit, wenn er 1792 eigentlich jede politische Erwägung grundsätzlicher Art bei den deutschen Mächten in Abrede stellt. Damals waren Ludwig der Sechzehnte und das monarchische Prinzip durch die Verfassung bedroht, die ihm die Franzosen aufgedrängt hatten; Österreich und Preußen sprachen auch davon, ihm beizustehn; aber welche Sprache führten sie, indem sie den Bund der Könige gegen die unruhigen Franzosen zustande zu bringen suchten? Genau dieselbe, die achtzig Jahre früher die Verbündeten bei den Beratungen in Gertruydenberg geführt hatten: Frankreich müsse beschnitten, Elsaß-Lothringen ihm entrissen und es so unschädlich gemacht werden. Damals

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/497>, abgerufen am 22.12.2024.