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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Bau sind, kommen dafür kaum in Betracht, denn auch die japanischen Werften werden
inzwischen nicht müßig sein. Jedenfalls werden die Japaner alles tun, die Vereinigung
der russischen Geschwader zu verhindern, und schon jetzt erscheint es ungewiß, ob
Noschdjestwenskij die Weiterfahrt überhaupt noch wagen kann. Muß er dnranf ver¬
zichten, dann verzichten die Russen vorläufig ans die Seeherrschaft in Ostasien.

So hängt die Entscheidung des ganzen Krieges an der Seeherrschaft, und diese
Entscheidung wird von weltgeschichtlicher Bedeutung sein. Siege Rußland nicht durch¬
schlagend, vollständig, behaupten sich die Japaner auch nur auf dem ostasiatischen
Festlande, dann ist das russische Prestige in Asien erschüttert, und damit das Prestige
der Weißen Rasse überhaupt, was auch England in Ostindien alsbald spüren würde;
dann steigt eine gewaltige asiatische Kriegsmacht empor, die für die gesamte gelbe
Rasse das Haupt sein wird, die an der Herrschaft über den Großen Ozean ihren
Anteil nehmen wird und auch den Ansprüchen der nordamerikanischen Union gefährlich
* werden kann.


Zur Reichsarbeit im neuen Jahre.

Seit Mitte der siebziger Jahre des
vergangnen Jahrhunderts habe ich an der Spitze erst kleinerer, dann größerer patrio¬
tischer Vereinigungen gestanden, damals einer der jüngsten Schutzzöllner und Agrarier,
seit 1878 in den Reichstag gewählt, fünfundzwanzig Jahre lang von einem und dem¬
selben treugesinnten Wahlkreis (Borna-Rochlitz). Bald war ich in den Kommissionen,
die die verschiednen Sozialistengesetze und deren Fortdauer, den Zolltarif und seine
Novellen in den achtziger Jahren und die alljährlichen Budgets berieten, als Schrift¬
führer oder auch später als Vertreter des Vorsitzenden bis Mitte der neunziger
Jahre beteiligt. Als die wiederholten Versuche einer Reichsfinanzreform am Wider¬
stand der Parteien scheiterten, schied ich aus der Budgetkommission ans -- war
doch meines Erachtens die erste Lex Lieber schon ein Eingriff in die verfassungs¬
mäßigen Rechte der Einzelstaaten --, an den sozialpolitischen Gesetzesvorlagen habe
ich jedoch freudig mitgearbeitet bis zur Wahl zum ersten Vizepräsidenten i. I. 1898,
wodurch man dann von der Kommissionsarbeit leider scheiden muß. Im Jahre 1901
trat ich vom politischen Leben zurück, weil die Mehrheitsparteien im Gegensatz zu
ihrer frühern Stellung ablehnten, die wirtschaftlichen Fragen außerhalb der engen
Fraktionsgrenzen zu fördern, und auch die extremen Agrarier den guten Willen
der Verbündeten Regierungen verkannten, die Sessionen zu zwecklosen Monologen
der Parteiführer herabsanken, vor allem aber meine Gesundheit durch Schicksalsschläge
in meiner Familie schwer erschüttert war. Die Durchschnittserfahrung eines alten
politischen Unteroffiziers nach sieben Wahlkampagnen in fast dreißig Kriegs- und
Friedensjahren kann ich wohl für mich geltend machen."

Von diesem Standpunkt eines Parlamentsinvaliden -- ohne "Pension, wie
leider mancher im Vaterland, der sie hundertmal eher verdient hätte als wir Ab¬
geordneten a. D. -- habe ich nach vielen Jahren der Enttäuschung über die Art,
wie die grundlegenden Fragen der Politik publizistisch behandelt werden, wiederholt
in den "Grenzboten" im Maßgeblichen und Unmaßgeblichen Gest 50 ff.) eine Auf¬
fassung gefunden, der ich aufrichtig, um das so abgenutzte "voll und ganz" zu
vermeiden, zustimmen kann. Die zwingende Notwendigkeit einer organischen Neichs-
finanzreform hatte ich wiederholt in Etatsreden hervorgehoben, fand damals aber
auch beim hohen Bundesrat nur platonische Gegenliebe; für die "wiedergewahlt-
seinwollenden" Herren Kollegen waren ja indirekte Steuern allezeit Pentagramme,
und entsprechende Vorschläge wurden, weil schwer angreifbar, totgeschwiegen -- die
Korrekturen der stenographischen Berichte sind ja unter die diskretionäre Macht
des Vizepräsidenten gestellt! -- So begrüße ich doppelt freudig deu Mut der Grenz¬
boten, die Wunden unsrer Zeit offen zu zeigen, und jeder, der auch nur einen
politischen Samariterkursus durchgemacht hat, sollte solche Wahrheiten überall in
Deutschland verbreiten.

Mit billiger oder beißender Kritik -- beides finden wir in der Tagespresse,
von den Kraftleistungen sozialdemokratischer Journalistik ganz abgesehen, denn


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Bau sind, kommen dafür kaum in Betracht, denn auch die japanischen Werften werden
inzwischen nicht müßig sein. Jedenfalls werden die Japaner alles tun, die Vereinigung
der russischen Geschwader zu verhindern, und schon jetzt erscheint es ungewiß, ob
Noschdjestwenskij die Weiterfahrt überhaupt noch wagen kann. Muß er dnranf ver¬
zichten, dann verzichten die Russen vorläufig ans die Seeherrschaft in Ostasien.

So hängt die Entscheidung des ganzen Krieges an der Seeherrschaft, und diese
Entscheidung wird von weltgeschichtlicher Bedeutung sein. Siege Rußland nicht durch¬
schlagend, vollständig, behaupten sich die Japaner auch nur auf dem ostasiatischen
Festlande, dann ist das russische Prestige in Asien erschüttert, und damit das Prestige
der Weißen Rasse überhaupt, was auch England in Ostindien alsbald spüren würde;
dann steigt eine gewaltige asiatische Kriegsmacht empor, die für die gesamte gelbe
Rasse das Haupt sein wird, die an der Herrschaft über den Großen Ozean ihren
Anteil nehmen wird und auch den Ansprüchen der nordamerikanischen Union gefährlich
* werden kann.


Zur Reichsarbeit im neuen Jahre.

Seit Mitte der siebziger Jahre des
vergangnen Jahrhunderts habe ich an der Spitze erst kleinerer, dann größerer patrio¬
tischer Vereinigungen gestanden, damals einer der jüngsten Schutzzöllner und Agrarier,
seit 1878 in den Reichstag gewählt, fünfundzwanzig Jahre lang von einem und dem¬
selben treugesinnten Wahlkreis (Borna-Rochlitz). Bald war ich in den Kommissionen,
die die verschiednen Sozialistengesetze und deren Fortdauer, den Zolltarif und seine
Novellen in den achtziger Jahren und die alljährlichen Budgets berieten, als Schrift¬
führer oder auch später als Vertreter des Vorsitzenden bis Mitte der neunziger
Jahre beteiligt. Als die wiederholten Versuche einer Reichsfinanzreform am Wider¬
stand der Parteien scheiterten, schied ich aus der Budgetkommission ans — war
doch meines Erachtens die erste Lex Lieber schon ein Eingriff in die verfassungs¬
mäßigen Rechte der Einzelstaaten —, an den sozialpolitischen Gesetzesvorlagen habe
ich jedoch freudig mitgearbeitet bis zur Wahl zum ersten Vizepräsidenten i. I. 1898,
wodurch man dann von der Kommissionsarbeit leider scheiden muß. Im Jahre 1901
trat ich vom politischen Leben zurück, weil die Mehrheitsparteien im Gegensatz zu
ihrer frühern Stellung ablehnten, die wirtschaftlichen Fragen außerhalb der engen
Fraktionsgrenzen zu fördern, und auch die extremen Agrarier den guten Willen
der Verbündeten Regierungen verkannten, die Sessionen zu zwecklosen Monologen
der Parteiführer herabsanken, vor allem aber meine Gesundheit durch Schicksalsschläge
in meiner Familie schwer erschüttert war. Die Durchschnittserfahrung eines alten
politischen Unteroffiziers nach sieben Wahlkampagnen in fast dreißig Kriegs- und
Friedensjahren kann ich wohl für mich geltend machen."

Von diesem Standpunkt eines Parlamentsinvaliden — ohne „Pension, wie
leider mancher im Vaterland, der sie hundertmal eher verdient hätte als wir Ab¬
geordneten a. D. — habe ich nach vielen Jahren der Enttäuschung über die Art,
wie die grundlegenden Fragen der Politik publizistisch behandelt werden, wiederholt
in den „Grenzboten" im Maßgeblichen und Unmaßgeblichen Gest 50 ff.) eine Auf¬
fassung gefunden, der ich aufrichtig, um das so abgenutzte „voll und ganz" zu
vermeiden, zustimmen kann. Die zwingende Notwendigkeit einer organischen Neichs-
finanzreform hatte ich wiederholt in Etatsreden hervorgehoben, fand damals aber
auch beim hohen Bundesrat nur platonische Gegenliebe; für die „wiedergewahlt-
seinwollenden" Herren Kollegen waren ja indirekte Steuern allezeit Pentagramme,
und entsprechende Vorschläge wurden, weil schwer angreifbar, totgeschwiegen — die
Korrekturen der stenographischen Berichte sind ja unter die diskretionäre Macht
des Vizepräsidenten gestellt! — So begrüße ich doppelt freudig deu Mut der Grenz¬
boten, die Wunden unsrer Zeit offen zu zeigen, und jeder, der auch nur einen
politischen Samariterkursus durchgemacht hat, sollte solche Wahrheiten überall in
Deutschland verbreiten.

Mit billiger oder beißender Kritik — beides finden wir in der Tagespresse,
von den Kraftleistungen sozialdemokratischer Journalistik ganz abgesehen, denn


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[0126] Maßgebliches und Unmaßgebliches Bau sind, kommen dafür kaum in Betracht, denn auch die japanischen Werften werden inzwischen nicht müßig sein. Jedenfalls werden die Japaner alles tun, die Vereinigung der russischen Geschwader zu verhindern, und schon jetzt erscheint es ungewiß, ob Noschdjestwenskij die Weiterfahrt überhaupt noch wagen kann. Muß er dnranf ver¬ zichten, dann verzichten die Russen vorläufig ans die Seeherrschaft in Ostasien. So hängt die Entscheidung des ganzen Krieges an der Seeherrschaft, und diese Entscheidung wird von weltgeschichtlicher Bedeutung sein. Siege Rußland nicht durch¬ schlagend, vollständig, behaupten sich die Japaner auch nur auf dem ostasiatischen Festlande, dann ist das russische Prestige in Asien erschüttert, und damit das Prestige der Weißen Rasse überhaupt, was auch England in Ostindien alsbald spüren würde; dann steigt eine gewaltige asiatische Kriegsmacht empor, die für die gesamte gelbe Rasse das Haupt sein wird, die an der Herrschaft über den Großen Ozean ihren Anteil nehmen wird und auch den Ansprüchen der nordamerikanischen Union gefährlich * werden kann. Zur Reichsarbeit im neuen Jahre. Seit Mitte der siebziger Jahre des vergangnen Jahrhunderts habe ich an der Spitze erst kleinerer, dann größerer patrio¬ tischer Vereinigungen gestanden, damals einer der jüngsten Schutzzöllner und Agrarier, seit 1878 in den Reichstag gewählt, fünfundzwanzig Jahre lang von einem und dem¬ selben treugesinnten Wahlkreis (Borna-Rochlitz). Bald war ich in den Kommissionen, die die verschiednen Sozialistengesetze und deren Fortdauer, den Zolltarif und seine Novellen in den achtziger Jahren und die alljährlichen Budgets berieten, als Schrift¬ führer oder auch später als Vertreter des Vorsitzenden bis Mitte der neunziger Jahre beteiligt. Als die wiederholten Versuche einer Reichsfinanzreform am Wider¬ stand der Parteien scheiterten, schied ich aus der Budgetkommission ans — war doch meines Erachtens die erste Lex Lieber schon ein Eingriff in die verfassungs¬ mäßigen Rechte der Einzelstaaten —, an den sozialpolitischen Gesetzesvorlagen habe ich jedoch freudig mitgearbeitet bis zur Wahl zum ersten Vizepräsidenten i. I. 1898, wodurch man dann von der Kommissionsarbeit leider scheiden muß. Im Jahre 1901 trat ich vom politischen Leben zurück, weil die Mehrheitsparteien im Gegensatz zu ihrer frühern Stellung ablehnten, die wirtschaftlichen Fragen außerhalb der engen Fraktionsgrenzen zu fördern, und auch die extremen Agrarier den guten Willen der Verbündeten Regierungen verkannten, die Sessionen zu zwecklosen Monologen der Parteiführer herabsanken, vor allem aber meine Gesundheit durch Schicksalsschläge in meiner Familie schwer erschüttert war. Die Durchschnittserfahrung eines alten politischen Unteroffiziers nach sieben Wahlkampagnen in fast dreißig Kriegs- und Friedensjahren kann ich wohl für mich geltend machen." Von diesem Standpunkt eines Parlamentsinvaliden — ohne „Pension, wie leider mancher im Vaterland, der sie hundertmal eher verdient hätte als wir Ab¬ geordneten a. D. — habe ich nach vielen Jahren der Enttäuschung über die Art, wie die grundlegenden Fragen der Politik publizistisch behandelt werden, wiederholt in den „Grenzboten" im Maßgeblichen und Unmaßgeblichen Gest 50 ff.) eine Auf¬ fassung gefunden, der ich aufrichtig, um das so abgenutzte „voll und ganz" zu vermeiden, zustimmen kann. Die zwingende Notwendigkeit einer organischen Neichs- finanzreform hatte ich wiederholt in Etatsreden hervorgehoben, fand damals aber auch beim hohen Bundesrat nur platonische Gegenliebe; für die „wiedergewahlt- seinwollenden" Herren Kollegen waren ja indirekte Steuern allezeit Pentagramme, und entsprechende Vorschläge wurden, weil schwer angreifbar, totgeschwiegen — die Korrekturen der stenographischen Berichte sind ja unter die diskretionäre Macht des Vizepräsidenten gestellt! — So begrüße ich doppelt freudig deu Mut der Grenz¬ boten, die Wunden unsrer Zeit offen zu zeigen, und jeder, der auch nur einen politischen Samariterkursus durchgemacht hat, sollte solche Wahrheiten überall in Deutschland verbreiten. Mit billiger oder beißender Kritik — beides finden wir in der Tagespresse, von den Kraftleistungen sozialdemokratischer Journalistik ganz abgesehen, denn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/126>, abgerufen am 22.12.2024.