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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Häckel auch blamiert, aber er schreibe wenigstens sauber, "besonders solange er sich
auf dem festen Boden der Naturwissenschaft befindet." In der dritten "Fragen"
überschriebnen Gruppe werden u. a. die Judenfrage und der heutige Größenwahn
behandelt. "Die Träume moderner Techniker grenzen ans Irrsinnige, und die
Unternehmungen der Kapitalisten scheuen vor keinem Verbrechen mehr zurück."


Tramps.

Philanthropen, Juristen, Polizeibeamte, Psychologen, Physiologen,
Volkswirte, Patrioten und -- spekulative Literaten haben in den letzten Jahrzehnten
den Vagabunden und den Verbrechern so eingehende Studien gewidmet, daß man
kaum erwarten darf, über den Gegenstand noch etwas Neues zu erfahren. Wenn
wir trotzdem von einem neuen Buche dieser Gattung Notiz nehmen (Auf der
Fahrt mit Landstreichern. Aus dem englischen IiamxinA vnd. Ir^mxs von
Josias Flynt von Lili du Bois-Reymond. Berlin, I. Guttentag, 1904), so
geschieht es, weil der Verfasser eine von der herrschenden abweichende Ansicht von
den Verbrechern gewonnen hat, weil das amerikanische Vagabundenleben einige von
dem europäischen abweichende interessante Züge aufweist, und weil die Sache ein
wenig mit der Politik zusammenhängt. Der Verfasser hat nämlich seine Arbeiten
dem Gesandten der Vereinigten Staaten in Berlin übersandt, und dieser hat ihm
in einem Briefe gedankt, worin die ungehinderte Zunahme der Verbrechen in
Amerika beklagt und dann bemerkt wird: "Dieser Zustand ist den verbrecherischen
Klassen von Europa so wohlbekannt, daß sie die Vereinigten Staaten als einen
guten Jagdgrund betrachten und immer zahlreicher dorthin gehn, zum Schaden
unsers Landes und all dessen, was uns darin am teuersten ist." Die Einwcmdrung
ist ja aus diesem Grunde schon längst stark eingeschränkt worden, aber es könnte
Wohl sein, daß Flynts Buch zur Begründung weiterer Einschränkungen benutzt
würde, und daß sich auch die englische Bewegung für eine Grenzsperre darauf
stützte. Flynt will als Berliner Student durch das Studium der Parasiten in
den wissenschaftlichen Laboratorien auf den Gedanken verfallen sein, das Verbrechen
und das Stromerleben auf der Walze zu studieren. Aber wenn es wahr ist, was
die Übersetzerin schreibt, daß er zehn Jahre lang als Tramp gelebt hat (größten¬
teils in Nordamerika, doch hat er auch Studienfahrten in Deutschland, England
und Rußland unternommen), und wenn man in der Beschreibung seiner Fahrten
vernimmt, wie vertraut er mit den Pennbrüdern gelebt hat, in ganz Nordamerika
als Zig (Zigarette war sein Trampname) bekannt, wie er es zur Virtuosität im
Betteln und im schwindeln gebracht hat und lügen kann, daß sich die Balken
biegen, so kann man sich des Verdachts nicht erwehren, daß es nicht reiner Wissens¬
durst, mit Patriotismus verbunden, gewesen ist, was ihn auf die Landstraße geführt
hat, sondern daß einige Tropfen Vagabundenblut in seinen Adern einen kräftigen
Zug ausgeübt haben.

Von den Eigentümlichkeiten des amerikanischen Stromerlebens wollen wir nur
zwei erwähnen. Der Prozentsatz der Knaben vom zehnten Lebensjahr aufwärts ist
drüben unter den Stromern bedeutend. Das ließ sich bei der Ungebundenheit des
amerikanischen Lebens, bei der Weiträumigkeit des Landes, bei der Mangelhaftigkeit
der Polizei und dem Selbstbewußtsein und der Selbständigkeit der dortigen Jugend
von vornherein vermuten. Flynt unterscheidet drei Hauptklassen der vagabundierenden
Jungen. Die auf der Landstraße gebornen Kinder verfallen selbstverständlich
rettungslos dem Stromertum, dem Laster und dem Verbrechen, wenn sie nicht ein
früher Tod davor bewahrt, was ja glücklicherweise bei den meisten der Fall ist.
Andre werden durch die häusliche Not auf die Straße getrieben oder wohl anch
von den Eltern gezwungen, durch Hausierer, Betteln oder Stehlen Geld zu er¬
werben. Die Zahl dieser Unglücklichen ist nach Flynts Wahrnehmung nicht so groß,
als die Philanthropen anzunehmen geneigt sind, und wo der Fall vorkommt, trägt
gewöhnlich ein Trunkenbold von Vater die Schuld. Viel größer ist die Zahl der
Verlockten, und die Verlockung wird systematisch betrieben. Der Tramp verschafft
sich gern einen Sklaven, indem er in einer großen Stadt, am liebsten in Newyork,


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Häckel auch blamiert, aber er schreibe wenigstens sauber, „besonders solange er sich
auf dem festen Boden der Naturwissenschaft befindet." In der dritten „Fragen"
überschriebnen Gruppe werden u. a. die Judenfrage und der heutige Größenwahn
behandelt. „Die Träume moderner Techniker grenzen ans Irrsinnige, und die
Unternehmungen der Kapitalisten scheuen vor keinem Verbrechen mehr zurück."


Tramps.

Philanthropen, Juristen, Polizeibeamte, Psychologen, Physiologen,
Volkswirte, Patrioten und — spekulative Literaten haben in den letzten Jahrzehnten
den Vagabunden und den Verbrechern so eingehende Studien gewidmet, daß man
kaum erwarten darf, über den Gegenstand noch etwas Neues zu erfahren. Wenn
wir trotzdem von einem neuen Buche dieser Gattung Notiz nehmen (Auf der
Fahrt mit Landstreichern. Aus dem englischen IiamxinA vnd. Ir^mxs von
Josias Flynt von Lili du Bois-Reymond. Berlin, I. Guttentag, 1904), so
geschieht es, weil der Verfasser eine von der herrschenden abweichende Ansicht von
den Verbrechern gewonnen hat, weil das amerikanische Vagabundenleben einige von
dem europäischen abweichende interessante Züge aufweist, und weil die Sache ein
wenig mit der Politik zusammenhängt. Der Verfasser hat nämlich seine Arbeiten
dem Gesandten der Vereinigten Staaten in Berlin übersandt, und dieser hat ihm
in einem Briefe gedankt, worin die ungehinderte Zunahme der Verbrechen in
Amerika beklagt und dann bemerkt wird: „Dieser Zustand ist den verbrecherischen
Klassen von Europa so wohlbekannt, daß sie die Vereinigten Staaten als einen
guten Jagdgrund betrachten und immer zahlreicher dorthin gehn, zum Schaden
unsers Landes und all dessen, was uns darin am teuersten ist." Die Einwcmdrung
ist ja aus diesem Grunde schon längst stark eingeschränkt worden, aber es könnte
Wohl sein, daß Flynts Buch zur Begründung weiterer Einschränkungen benutzt
würde, und daß sich auch die englische Bewegung für eine Grenzsperre darauf
stützte. Flynt will als Berliner Student durch das Studium der Parasiten in
den wissenschaftlichen Laboratorien auf den Gedanken verfallen sein, das Verbrechen
und das Stromerleben auf der Walze zu studieren. Aber wenn es wahr ist, was
die Übersetzerin schreibt, daß er zehn Jahre lang als Tramp gelebt hat (größten¬
teils in Nordamerika, doch hat er auch Studienfahrten in Deutschland, England
und Rußland unternommen), und wenn man in der Beschreibung seiner Fahrten
vernimmt, wie vertraut er mit den Pennbrüdern gelebt hat, in ganz Nordamerika
als Zig (Zigarette war sein Trampname) bekannt, wie er es zur Virtuosität im
Betteln und im schwindeln gebracht hat und lügen kann, daß sich die Balken
biegen, so kann man sich des Verdachts nicht erwehren, daß es nicht reiner Wissens¬
durst, mit Patriotismus verbunden, gewesen ist, was ihn auf die Landstraße geführt
hat, sondern daß einige Tropfen Vagabundenblut in seinen Adern einen kräftigen
Zug ausgeübt haben.

Von den Eigentümlichkeiten des amerikanischen Stromerlebens wollen wir nur
zwei erwähnen. Der Prozentsatz der Knaben vom zehnten Lebensjahr aufwärts ist
drüben unter den Stromern bedeutend. Das ließ sich bei der Ungebundenheit des
amerikanischen Lebens, bei der Weiträumigkeit des Landes, bei der Mangelhaftigkeit
der Polizei und dem Selbstbewußtsein und der Selbständigkeit der dortigen Jugend
von vornherein vermuten. Flynt unterscheidet drei Hauptklassen der vagabundierenden
Jungen. Die auf der Landstraße gebornen Kinder verfallen selbstverständlich
rettungslos dem Stromertum, dem Laster und dem Verbrechen, wenn sie nicht ein
früher Tod davor bewahrt, was ja glücklicherweise bei den meisten der Fall ist.
Andre werden durch die häusliche Not auf die Straße getrieben oder wohl anch
von den Eltern gezwungen, durch Hausierer, Betteln oder Stehlen Geld zu er¬
werben. Die Zahl dieser Unglücklichen ist nach Flynts Wahrnehmung nicht so groß,
als die Philanthropen anzunehmen geneigt sind, und wo der Fall vorkommt, trägt
gewöhnlich ein Trunkenbold von Vater die Schuld. Viel größer ist die Zahl der
Verlockten, und die Verlockung wird systematisch betrieben. Der Tramp verschafft
sich gern einen Sklaven, indem er in einer großen Stadt, am liebsten in Newyork,


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[0339] Maßgebliches und Unmaßgebliches Häckel auch blamiert, aber er schreibe wenigstens sauber, „besonders solange er sich auf dem festen Boden der Naturwissenschaft befindet." In der dritten „Fragen" überschriebnen Gruppe werden u. a. die Judenfrage und der heutige Größenwahn behandelt. „Die Träume moderner Techniker grenzen ans Irrsinnige, und die Unternehmungen der Kapitalisten scheuen vor keinem Verbrechen mehr zurück." Tramps. Philanthropen, Juristen, Polizeibeamte, Psychologen, Physiologen, Volkswirte, Patrioten und — spekulative Literaten haben in den letzten Jahrzehnten den Vagabunden und den Verbrechern so eingehende Studien gewidmet, daß man kaum erwarten darf, über den Gegenstand noch etwas Neues zu erfahren. Wenn wir trotzdem von einem neuen Buche dieser Gattung Notiz nehmen (Auf der Fahrt mit Landstreichern. Aus dem englischen IiamxinA vnd. Ir^mxs von Josias Flynt von Lili du Bois-Reymond. Berlin, I. Guttentag, 1904), so geschieht es, weil der Verfasser eine von der herrschenden abweichende Ansicht von den Verbrechern gewonnen hat, weil das amerikanische Vagabundenleben einige von dem europäischen abweichende interessante Züge aufweist, und weil die Sache ein wenig mit der Politik zusammenhängt. Der Verfasser hat nämlich seine Arbeiten dem Gesandten der Vereinigten Staaten in Berlin übersandt, und dieser hat ihm in einem Briefe gedankt, worin die ungehinderte Zunahme der Verbrechen in Amerika beklagt und dann bemerkt wird: „Dieser Zustand ist den verbrecherischen Klassen von Europa so wohlbekannt, daß sie die Vereinigten Staaten als einen guten Jagdgrund betrachten und immer zahlreicher dorthin gehn, zum Schaden unsers Landes und all dessen, was uns darin am teuersten ist." Die Einwcmdrung ist ja aus diesem Grunde schon längst stark eingeschränkt worden, aber es könnte Wohl sein, daß Flynts Buch zur Begründung weiterer Einschränkungen benutzt würde, und daß sich auch die englische Bewegung für eine Grenzsperre darauf stützte. Flynt will als Berliner Student durch das Studium der Parasiten in den wissenschaftlichen Laboratorien auf den Gedanken verfallen sein, das Verbrechen und das Stromerleben auf der Walze zu studieren. Aber wenn es wahr ist, was die Übersetzerin schreibt, daß er zehn Jahre lang als Tramp gelebt hat (größten¬ teils in Nordamerika, doch hat er auch Studienfahrten in Deutschland, England und Rußland unternommen), und wenn man in der Beschreibung seiner Fahrten vernimmt, wie vertraut er mit den Pennbrüdern gelebt hat, in ganz Nordamerika als Zig (Zigarette war sein Trampname) bekannt, wie er es zur Virtuosität im Betteln und im schwindeln gebracht hat und lügen kann, daß sich die Balken biegen, so kann man sich des Verdachts nicht erwehren, daß es nicht reiner Wissens¬ durst, mit Patriotismus verbunden, gewesen ist, was ihn auf die Landstraße geführt hat, sondern daß einige Tropfen Vagabundenblut in seinen Adern einen kräftigen Zug ausgeübt haben. Von den Eigentümlichkeiten des amerikanischen Stromerlebens wollen wir nur zwei erwähnen. Der Prozentsatz der Knaben vom zehnten Lebensjahr aufwärts ist drüben unter den Stromern bedeutend. Das ließ sich bei der Ungebundenheit des amerikanischen Lebens, bei der Weiträumigkeit des Landes, bei der Mangelhaftigkeit der Polizei und dem Selbstbewußtsein und der Selbständigkeit der dortigen Jugend von vornherein vermuten. Flynt unterscheidet drei Hauptklassen der vagabundierenden Jungen. Die auf der Landstraße gebornen Kinder verfallen selbstverständlich rettungslos dem Stromertum, dem Laster und dem Verbrechen, wenn sie nicht ein früher Tod davor bewahrt, was ja glücklicherweise bei den meisten der Fall ist. Andre werden durch die häusliche Not auf die Straße getrieben oder wohl anch von den Eltern gezwungen, durch Hausierer, Betteln oder Stehlen Geld zu er¬ werben. Die Zahl dieser Unglücklichen ist nach Flynts Wahrnehmung nicht so groß, als die Philanthropen anzunehmen geneigt sind, und wo der Fall vorkommt, trägt gewöhnlich ein Trunkenbold von Vater die Schuld. Viel größer ist die Zahl der Verlockten, und die Verlockung wird systematisch betrieben. Der Tramp verschafft sich gern einen Sklaven, indem er in einer großen Stadt, am liebsten in Newyork,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/339>, abgerufen am 19.10.2024.