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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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ringsteu Teil eine Anzahl deutscher Zeitungen durch ihre Haltung wahrend des
Burenkrieges herbeigeführt hat, also, Reichstag bewillige sofort eine neue Flotten¬
vorlage, zweiunddreißig Linienschiffe und wenigstens ebensoviel Kreuzer!

Eine solche Rede würde wahrscheinlich das Erscheinen der englischen Flotte
vor der Elbe innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden zur Folge haben-
Nach der Ansicht jedes verständigen Menschen muß es doch die Pflicht des Leiters
der auswärtigen Politik sein, einem im übrigen durchaus überflüssigen Konflikt mit
einem Staate, dein wir in keiner Weise gewachsen sind, auf jede mit der Ehre und
Würde des eignen Landes verträgliche Weise vorzubeugen. Das kann aber doch
am allerbesten und wirksamsten nur durch die Aufklärung der öffentlichen Meinung
in England geschehn. Und diese hat das Bashfordsche Interview im allgemeinen
sehr gut aufgenommen. Für Deutschland war das jedenfalls nützlicher und würde¬
voller, als wenn angesehene, aber mit keiner Sorge und Verantwortlichkeit belastete
Provinzialblätter heute auf England, morgen auf Amerika, übermorgen auf Rußland
schimpfen und dabei "Weltbündnisse" verlangen. Bündnisfähig sind wir erst, wenn
wir zur See so stark sind, daß jede Macht es vorzieht, uns zum Freunde statt
zum Gegner zu haben. Solange wir dazu nicht stark genug sind -- und die
Rheinisch-Westfälische Zeitung sollte nicht vergessen, daß jedes Linienschiff vier Jahre
Bauzeit nötig hat, sodaß wenn wir 1905 wirklich zwanzig neue Linienschiffe auf
Stapel legen könnten, sie doch erst 1909 verwendbar sein würden --, so lange
und wahrscheinlich noch viel länger haben wir die Pflicht, Frieden zu halten und
das Land durch einen ungestörten wirtschaftlichen Aufschwung für spätere Zeiten
zu kräftigen. Es ist eine große Torheit, anzunehmen, daß Fürst Otto von Bismarck
anders gehandelt haben würde, und es wäre vielleicht einmal recht nützlich und
verdienstlich, gerade seine Ausfassung des Verhältnisses zu England aus den Akten
"Z" nachzuweisen



Gesellschaftliche Sklaverei.

Solange eine germanische Besiedlung des
Ostens erfolgt ist, ist sie weniger eine ideale Maßnahme der Siedler als viel¬
mehr eine Leib-, Magen- und somit Existenzfrage gewesen, und wer sich heutzutage
als Beamter aus seiner "westlichern" Heimat nach der Ostmark wendet, verfolgt
damit nur wirtschaftliche Zwecke. Es ist nur gut und billig, daß beispielsweise
einem an der Grenze seiner materiellen Leistungsfähigkeit angelangten Gerichts¬
assessor oder Hilfslehrer in der Provinz Posen die Möglichkeit geboten wird, früher
als anderswo die Bestallung als Amtsrichter oder Oberlehrer zu erlangen und ein
eignes Heim zu gründen.

Die scheinbar herzliche Aufnahme in der neuen Heimat erweckt in den An-
gekommnen freudige, angenehme Überraschung. Gar bald aber werden harte, drückende
Ansprüche an sie geltend gemacht: die übertriebne Gesellschaftlichkeit des Ostens
wirft düstre, ernüchternde Schatten in die junge Häuslichkeit. Um die Zeit des
Laubfalls ergießt sich eine immer höher anschwellende Flut von Einladungen in
den Briefkasten: für den Hausherrn zu einem Glase Bier, für die Hausfrau zu
einem Tnßchen Kaffee, oder für beide unter der bescheidnen Zweckbestimmung "zu
einem Teller Suppe." Wehe dem, der merken läßt, daß er gesonnen ist, nicht
anzutun! Er wird von befreundeter Seite oder an amtlicher Stelle daran er¬
innert, daß für Familien von Stand und Rang die gesellschaftlichen Pflichten zu¬
gleich Amtspflichten bedeuten, dann bespöttelt, über die Schulter angesehen, am
"offiziellen" Stammtische zugeknöpft behandelt, und schließlich sieht er sich verein¬
samt und gewahrt, daß er gesellschaftlich unmöglich geworden ist. Die Versetzung
in ein Weltverlornes Nest, wo Stumpfsinn blüht oder der Alkoholteufel des Ungar¬
weins lauert, pflegt der Schluß des sozialen Kleindramas zu sein.

Die Kehrseite der Falschinünze "Gesellschaftlichkeit" ist für den nicht mit
Glücksgütern Gesegneten noch trauriger. Das Anfangsgehalt der höhern Beamten
reicht zur Not für eine gut bürgerliche Haushaltung aus, vorausgesetzt, daß die


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ringsteu Teil eine Anzahl deutscher Zeitungen durch ihre Haltung wahrend des
Burenkrieges herbeigeführt hat, also, Reichstag bewillige sofort eine neue Flotten¬
vorlage, zweiunddreißig Linienschiffe und wenigstens ebensoviel Kreuzer!

Eine solche Rede würde wahrscheinlich das Erscheinen der englischen Flotte
vor der Elbe innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden zur Folge haben-
Nach der Ansicht jedes verständigen Menschen muß es doch die Pflicht des Leiters
der auswärtigen Politik sein, einem im übrigen durchaus überflüssigen Konflikt mit
einem Staate, dein wir in keiner Weise gewachsen sind, auf jede mit der Ehre und
Würde des eignen Landes verträgliche Weise vorzubeugen. Das kann aber doch
am allerbesten und wirksamsten nur durch die Aufklärung der öffentlichen Meinung
in England geschehn. Und diese hat das Bashfordsche Interview im allgemeinen
sehr gut aufgenommen. Für Deutschland war das jedenfalls nützlicher und würde¬
voller, als wenn angesehene, aber mit keiner Sorge und Verantwortlichkeit belastete
Provinzialblätter heute auf England, morgen auf Amerika, übermorgen auf Rußland
schimpfen und dabei „Weltbündnisse" verlangen. Bündnisfähig sind wir erst, wenn
wir zur See so stark sind, daß jede Macht es vorzieht, uns zum Freunde statt
zum Gegner zu haben. Solange wir dazu nicht stark genug sind — und die
Rheinisch-Westfälische Zeitung sollte nicht vergessen, daß jedes Linienschiff vier Jahre
Bauzeit nötig hat, sodaß wenn wir 1905 wirklich zwanzig neue Linienschiffe auf
Stapel legen könnten, sie doch erst 1909 verwendbar sein würden —, so lange
und wahrscheinlich noch viel länger haben wir die Pflicht, Frieden zu halten und
das Land durch einen ungestörten wirtschaftlichen Aufschwung für spätere Zeiten
zu kräftigen. Es ist eine große Torheit, anzunehmen, daß Fürst Otto von Bismarck
anders gehandelt haben würde, und es wäre vielleicht einmal recht nützlich und
verdienstlich, gerade seine Ausfassung des Verhältnisses zu England aus den Akten
»Z» nachzuweisen



Gesellschaftliche Sklaverei.

Solange eine germanische Besiedlung des
Ostens erfolgt ist, ist sie weniger eine ideale Maßnahme der Siedler als viel¬
mehr eine Leib-, Magen- und somit Existenzfrage gewesen, und wer sich heutzutage
als Beamter aus seiner „westlichern" Heimat nach der Ostmark wendet, verfolgt
damit nur wirtschaftliche Zwecke. Es ist nur gut und billig, daß beispielsweise
einem an der Grenze seiner materiellen Leistungsfähigkeit angelangten Gerichts¬
assessor oder Hilfslehrer in der Provinz Posen die Möglichkeit geboten wird, früher
als anderswo die Bestallung als Amtsrichter oder Oberlehrer zu erlangen und ein
eignes Heim zu gründen.

Die scheinbar herzliche Aufnahme in der neuen Heimat erweckt in den An-
gekommnen freudige, angenehme Überraschung. Gar bald aber werden harte, drückende
Ansprüche an sie geltend gemacht: die übertriebne Gesellschaftlichkeit des Ostens
wirft düstre, ernüchternde Schatten in die junge Häuslichkeit. Um die Zeit des
Laubfalls ergießt sich eine immer höher anschwellende Flut von Einladungen in
den Briefkasten: für den Hausherrn zu einem Glase Bier, für die Hausfrau zu
einem Tnßchen Kaffee, oder für beide unter der bescheidnen Zweckbestimmung „zu
einem Teller Suppe." Wehe dem, der merken läßt, daß er gesonnen ist, nicht
anzutun! Er wird von befreundeter Seite oder an amtlicher Stelle daran er¬
innert, daß für Familien von Stand und Rang die gesellschaftlichen Pflichten zu¬
gleich Amtspflichten bedeuten, dann bespöttelt, über die Schulter angesehen, am
„offiziellen" Stammtische zugeknöpft behandelt, und schließlich sieht er sich verein¬
samt und gewahrt, daß er gesellschaftlich unmöglich geworden ist. Die Versetzung
in ein Weltverlornes Nest, wo Stumpfsinn blüht oder der Alkoholteufel des Ungar¬
weins lauert, pflegt der Schluß des sozialen Kleindramas zu sein.

Die Kehrseite der Falschinünze „Gesellschaftlichkeit" ist für den nicht mit
Glücksgütern Gesegneten noch trauriger. Das Anfangsgehalt der höhern Beamten
reicht zur Not für eine gut bürgerliche Haushaltung aus, vorausgesetzt, daß die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/718>, abgerufen am 26.06.2024.