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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Zwei Werke über die Sprache
(Forsetzung)

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MWun zu dein Erfreulichen! Der erfreulichen Nummer 2 nämlich;
was Nummer 1 betrifft, so kann, wer Mauthner plündern will,
ein sehr großes und schönes Bukett guter Einfälle znsnmmen-
suchen, Mauthner übt seine vernichtende Kritik anch am Materia¬
lismus, und hier mit durchschlagenden Erfolg. Er vermag zwar
über die längst erledigte Angelegenheit nichts Neues zu sagen, aber es ist doch er¬
freulich, daß er das richtige Alte seinen Brüdern im Atheismus so grob und offen
sagt. Ich kann hier natürlich nicht seine Ausführungen, sondern nur ein paar
zusammenfassende Kraftworte wiedergeben. "Der Materialismus hat das ge¬
waltige Verdienst, die theologischen Mauern eingeräumt zu haben. fDas ist nicht
ganz richtig; er hat dabei mir geholfen; die Hauptarbeit haben die idealistische
Philosophie, die Psychologie und die historische Kritik geleistet^ Dazu gehört
ein dicker Schädel, und wirklich ist die Beschränktheit des Materialismus fast
ebensogroß wie die seiner Gegner. jBitte, bedeutend größeres Als praktischer
Lebensgruudsatz ist der Materialismus eine Schlauheit, als Weltanschauung ist
er die platte Dummheit. . . . Ich möchte sagen, daß der Materialismus eine
vorpsychologische Weltanschauung ist. Und wenn -- wie ich glaube -- Kants
Kritik der reinen Vernunft nicht mehr und nicht weniger ist als die große Tat,
die alle Metaphysik und Begriffsphilosophie vom Throne stürzte, um Erkenntnis-
theorie, das heißt Psychologie an ihre Stelle zu setzen, so sollte der Materialis¬
mus nach Kant nicht mehr ernst zu nehmen sein." Die Streitigkeiten gewisser
Neuscholastiker "um die toten Begriffe des Aristoteles und um die schlechtesten
Begriffe von Kant" erinnern ihn an die Schmerzen, die der Operierte in dem
amputierten Beine empfindet; so quäle sich die Menschheit mit den Schmerzen
ihrer amputierten Vergangenheit. Unsre philosophierenden Naturforscher trieben
es nicht besser; darum sollte man weder Schelling noch Hegel, noch Schopen¬
hauer, noch Nietzsche jnoch Haeckels den großen Philosophen des neunzehnten
Jahrhunderts nennen, sondern Darwin, "der die letzte Abstraktion wenigstens
aus dem Sprachschatze seiner Gegenwart schöpfte. Wenn aber kleine Gesellen
wie Moleschott oder gar Büchner mit den toten Begriffen Atom und Stoff
einen neuen Handel beginnen wollen, so war ihr Treiben für die kritische Be¬
trachtung widerwärtig. Nur als Kanonenfutter im Kampfe gegen das Dogma
sind solche Rekruten zu brauchen." Auch dazu nicht einmal. Den Glauben an
das Dogma können sie wohl verärgerten Proletariern und gelehrt scheinen
wollenden oder ohne Gewissensbisse genießen wollenden Halbgebildeten rauben,
aber zur wissenschaftlichen Kritik der Dogmen haben sie keinerlei Beitrüge ge¬
liefert. Vom letzten Stoffklötzchen hat Lotze die Atome dnrch eine einfache




Zwei Werke über die Sprache
(Forsetzung)

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MWun zu dein Erfreulichen! Der erfreulichen Nummer 2 nämlich;
was Nummer 1 betrifft, so kann, wer Mauthner plündern will,
ein sehr großes und schönes Bukett guter Einfälle znsnmmen-
suchen, Mauthner übt seine vernichtende Kritik anch am Materia¬
lismus, und hier mit durchschlagenden Erfolg. Er vermag zwar
über die längst erledigte Angelegenheit nichts Neues zu sagen, aber es ist doch er¬
freulich, daß er das richtige Alte seinen Brüdern im Atheismus so grob und offen
sagt. Ich kann hier natürlich nicht seine Ausführungen, sondern nur ein paar
zusammenfassende Kraftworte wiedergeben. „Der Materialismus hat das ge¬
waltige Verdienst, die theologischen Mauern eingeräumt zu haben. fDas ist nicht
ganz richtig; er hat dabei mir geholfen; die Hauptarbeit haben die idealistische
Philosophie, die Psychologie und die historische Kritik geleistet^ Dazu gehört
ein dicker Schädel, und wirklich ist die Beschränktheit des Materialismus fast
ebensogroß wie die seiner Gegner. jBitte, bedeutend größeres Als praktischer
Lebensgruudsatz ist der Materialismus eine Schlauheit, als Weltanschauung ist
er die platte Dummheit. . . . Ich möchte sagen, daß der Materialismus eine
vorpsychologische Weltanschauung ist. Und wenn — wie ich glaube — Kants
Kritik der reinen Vernunft nicht mehr und nicht weniger ist als die große Tat,
die alle Metaphysik und Begriffsphilosophie vom Throne stürzte, um Erkenntnis-
theorie, das heißt Psychologie an ihre Stelle zu setzen, so sollte der Materialis¬
mus nach Kant nicht mehr ernst zu nehmen sein." Die Streitigkeiten gewisser
Neuscholastiker „um die toten Begriffe des Aristoteles und um die schlechtesten
Begriffe von Kant" erinnern ihn an die Schmerzen, die der Operierte in dem
amputierten Beine empfindet; so quäle sich die Menschheit mit den Schmerzen
ihrer amputierten Vergangenheit. Unsre philosophierenden Naturforscher trieben
es nicht besser; darum sollte man weder Schelling noch Hegel, noch Schopen¬
hauer, noch Nietzsche jnoch Haeckels den großen Philosophen des neunzehnten
Jahrhunderts nennen, sondern Darwin, „der die letzte Abstraktion wenigstens
aus dem Sprachschatze seiner Gegenwart schöpfte. Wenn aber kleine Gesellen
wie Moleschott oder gar Büchner mit den toten Begriffen Atom und Stoff
einen neuen Handel beginnen wollen, so war ihr Treiben für die kritische Be¬
trachtung widerwärtig. Nur als Kanonenfutter im Kampfe gegen das Dogma
sind solche Rekruten zu brauchen." Auch dazu nicht einmal. Den Glauben an
das Dogma können sie wohl verärgerten Proletariern und gelehrt scheinen
wollenden oder ohne Gewissensbisse genießen wollenden Halbgebildeten rauben,
aber zur wissenschaftlichen Kritik der Dogmen haben sie keinerlei Beitrüge ge¬
liefert. Vom letzten Stoffklötzchen hat Lotze die Atome dnrch eine einfache


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/320>, abgerufen am 26.06.2024.