Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Der hundertarmige Riese. Karl der Fünfte hat angeblich einmal gesagt, Nun, es ist gut, daß wir wenigstens zwei Worte aus der Göttersprache sicher Und es wäre schade, diese beiden Götterworte zu vergessen und mit den Nor¬ Augenscheinlich hat man mit den vielen Armen ihre übermenschliche Kraft an¬ Ans dem Felsen von Gibraltar leben bekanntlich Affen, die, man weiß nicht Grcnzboten IV 1904 24
Maßgebliches und Unmaßgebliches Der hundertarmige Riese. Karl der Fünfte hat angeblich einmal gesagt, Nun, es ist gut, daß wir wenigstens zwei Worte aus der Göttersprache sicher Und es wäre schade, diese beiden Götterworte zu vergessen und mit den Nor¬ Augenscheinlich hat man mit den vielen Armen ihre übermenschliche Kraft an¬ Ans dem Felsen von Gibraltar leben bekanntlich Affen, die, man weiß nicht Grcnzboten IV 1904 24
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0183" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/295402"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> </div> <div n="2"> <head> Der hundertarmige Riese.</head> <p xml:id="ID_882"> Karl der Fünfte hat angeblich einmal gesagt,<lb/> mit Gott müsse man spanisch reden; die alten Theologen vertraten die Ansicht, daß<lb/> im Himmel nicht anders als hebräisch gesprochen werde. Ach, zu tausend Himmels¬<lb/> liedern, Judendeutsch, begeisterst du! — Es ist aber schwer, über die Himmels¬<lb/> sprache ins klare zu kommen, denn noch viele andre Idiome sind vorgeschlagen<lb/> worden. Die Benediktiner haben sich bald für das Latein, bald für das Griechische<lb/> entschieden; die türkischen Ulemas natürlich für das Arabische. Wozu nun noch<lb/> die verschiednen Engelzungen kommen. Vielleicht könnten uns die Spiritisten Aus¬<lb/> kunft geben? Leider sprechen die lieben Geister an jedem Orte anders, nämlich<lb/> immer die Landessprache, damit sie verstanden werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_883"> Nun, es ist gut, daß wir wenigstens zwei Worte aus der Göttersprache sicher<lb/> kennen, weil sie uns zufällig von den Dichtern verraten worden sind: das Wort<lb/> Bier und den Namen des hundertarmigen Riesen, den Namen Briareos. Daß<lb/> der Ausdruck Bier den Göttern angehöre und in der Walhalla gebraucht werde,<lb/> wissen wir aus der Edda; in dem sogenannten Alvismal, dem Gespräche des All¬<lb/> weisen, das von himmlischen, irdischen und unterirdischen Synonymen handelt, wird<lb/> mit dürren Worten gesagt: Bier oder Bior heiße der Gerstensaft bei den Asen,<lb/> bei den Menschen dagegen heiße er Öl oder Ale. Es läßt sichs mancher bei einem<lb/> Glas Bier nicht träumen, daß er mit den Asen rede. Von dem hundertarmigen<lb/> Riesen aber berichtet es Homer, daß er den Namen Briareos bei den Göttern<lb/> sichre; die Menschen nennten ihn Ägcion. Es sind nur zwei Worte, noch dazu<lb/> aus verschiednen Himmeln; aber es ist doch ein Anfang.</p><lb/> <p xml:id="ID_884"> Und es wäre schade, diese beiden Götterworte zu vergessen und mit den Nor¬<lb/> wegern Öl und mit den Gelehrten Ägäon oder gar Aigaion zu sagen — den<lb/> hundertarmigen, fünfzigköpfigen Briareos, der den gefangnen Kronos in Thule be¬<lb/> wachen mußte, kennt man doch von langer Hand her. Er ist von jeher sprich¬<lb/> wörtlich für alles Gewaltige und alles Ungeheure, sogar in der Beredsamkeit;<lb/> Lord Byron hat zum Beispiel den vielzüngigen, achtundfunfzig Sprachen sprechenden<lb/> Kardinal Mezzofanti tue Lrieu-sus ok I^uAnaAS« getauft. Ob der Sprachenkönig<lb/> auch die Sprache der Götter verstanden hat? Übrigens sind eben diese heidnischen<lb/> Götter selbst sehr häufig mit vielen Armen und mehreren Köpfen abgebildet worden;<lb/> in Ostindien und anderswo.</p><lb/> <p xml:id="ID_885"> Augenscheinlich hat man mit den vielen Armen ihre übermenschliche Kraft an¬<lb/> deuten wollen. Der Hundertarm oder der Hekatoncheiren waren in der griechischen<lb/> Mythologie drei, drei Brüder, alle drei Söhne des Uranos und der Gäa: Kottos,<lb/> Briareos und Gyges. Ungeheure Riesen, die die Kraft und anscheinend auch den<lb/> Verstand von fünfzig Männern in sich vereinigten, wie es in den deutschen Helden¬<lb/> sagen heißt, daß dem Zwerge Laurin ein Gürtel Zwölfmännerkraft verleihe, und<lb/> daß der Zwerg Alberich von seiner Tarnkappe die Kraft von zwölf Männern habe.<lb/> Diese Vervielfachung ist charakteristisch für eine Zeit, wo man noch keine oder noch<lb/> keine andern als die einfachsten Waffen hatte, der Mensch also vor allem noch auf<lb/> seiue eignen, schwachen Organe angewiesen war. Denn an sich wiegen hundert Hände<lb/> nicht einmal einen Kieselstein auf, den ein Gassenjunge in die Hand nimmt, um ihn<lb/> dem Riesen an den Kopf zu werfen, geschweige denn unsre Bomben und Granaten;<lb/> und erst wenn sich die Hekatoncheiren in der Titanenschlacht mit Steinen bewaffnen<lb/> und dem Feinde einen Hagel von hundert Felsstücken versetzen, werden sie ernst<lb/> genommen. Solange sie nichts als ihre bloßen Fäuste haben, werden sie ausgelacht.</p><lb/> <p xml:id="ID_886" next="#ID_887"> Ans dem Felsen von Gibraltar leben bekanntlich Affen, die, man weiß nicht<lb/> wie, hierher gekommen sind; sie fallen den Anwohnern oft lästig. Sie kommen<lb/> in die Gärten, plündern die Obstbäume und beschädigen die Weinberge. Die<lb/> Gärtner hassen sie und machen ihnen drohend eine Faust — mehr dürfen sie nicht,<lb/> denn die zudringlichen Gesellen werden von den Engländern geschützt. Die Affen<lb/> antworten damit, daß sie Steine umwälzen und den Berg hinabrollen, wohl auch<lb/> hinunterwerfen. Es ist, als wollten sie den Spaniern eine Vorlesung über Kultur-</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grcnzboten IV 1904 24</fw><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0183]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Der hundertarmige Riese. Karl der Fünfte hat angeblich einmal gesagt,
mit Gott müsse man spanisch reden; die alten Theologen vertraten die Ansicht, daß
im Himmel nicht anders als hebräisch gesprochen werde. Ach, zu tausend Himmels¬
liedern, Judendeutsch, begeisterst du! — Es ist aber schwer, über die Himmels¬
sprache ins klare zu kommen, denn noch viele andre Idiome sind vorgeschlagen
worden. Die Benediktiner haben sich bald für das Latein, bald für das Griechische
entschieden; die türkischen Ulemas natürlich für das Arabische. Wozu nun noch
die verschiednen Engelzungen kommen. Vielleicht könnten uns die Spiritisten Aus¬
kunft geben? Leider sprechen die lieben Geister an jedem Orte anders, nämlich
immer die Landessprache, damit sie verstanden werden.
Nun, es ist gut, daß wir wenigstens zwei Worte aus der Göttersprache sicher
kennen, weil sie uns zufällig von den Dichtern verraten worden sind: das Wort
Bier und den Namen des hundertarmigen Riesen, den Namen Briareos. Daß
der Ausdruck Bier den Göttern angehöre und in der Walhalla gebraucht werde,
wissen wir aus der Edda; in dem sogenannten Alvismal, dem Gespräche des All¬
weisen, das von himmlischen, irdischen und unterirdischen Synonymen handelt, wird
mit dürren Worten gesagt: Bier oder Bior heiße der Gerstensaft bei den Asen,
bei den Menschen dagegen heiße er Öl oder Ale. Es läßt sichs mancher bei einem
Glas Bier nicht träumen, daß er mit den Asen rede. Von dem hundertarmigen
Riesen aber berichtet es Homer, daß er den Namen Briareos bei den Göttern
sichre; die Menschen nennten ihn Ägcion. Es sind nur zwei Worte, noch dazu
aus verschiednen Himmeln; aber es ist doch ein Anfang.
Und es wäre schade, diese beiden Götterworte zu vergessen und mit den Nor¬
wegern Öl und mit den Gelehrten Ägäon oder gar Aigaion zu sagen — den
hundertarmigen, fünfzigköpfigen Briareos, der den gefangnen Kronos in Thule be¬
wachen mußte, kennt man doch von langer Hand her. Er ist von jeher sprich¬
wörtlich für alles Gewaltige und alles Ungeheure, sogar in der Beredsamkeit;
Lord Byron hat zum Beispiel den vielzüngigen, achtundfunfzig Sprachen sprechenden
Kardinal Mezzofanti tue Lrieu-sus ok I^uAnaAS« getauft. Ob der Sprachenkönig
auch die Sprache der Götter verstanden hat? Übrigens sind eben diese heidnischen
Götter selbst sehr häufig mit vielen Armen und mehreren Köpfen abgebildet worden;
in Ostindien und anderswo.
Augenscheinlich hat man mit den vielen Armen ihre übermenschliche Kraft an¬
deuten wollen. Der Hundertarm oder der Hekatoncheiren waren in der griechischen
Mythologie drei, drei Brüder, alle drei Söhne des Uranos und der Gäa: Kottos,
Briareos und Gyges. Ungeheure Riesen, die die Kraft und anscheinend auch den
Verstand von fünfzig Männern in sich vereinigten, wie es in den deutschen Helden¬
sagen heißt, daß dem Zwerge Laurin ein Gürtel Zwölfmännerkraft verleihe, und
daß der Zwerg Alberich von seiner Tarnkappe die Kraft von zwölf Männern habe.
Diese Vervielfachung ist charakteristisch für eine Zeit, wo man noch keine oder noch
keine andern als die einfachsten Waffen hatte, der Mensch also vor allem noch auf
seiue eignen, schwachen Organe angewiesen war. Denn an sich wiegen hundert Hände
nicht einmal einen Kieselstein auf, den ein Gassenjunge in die Hand nimmt, um ihn
dem Riesen an den Kopf zu werfen, geschweige denn unsre Bomben und Granaten;
und erst wenn sich die Hekatoncheiren in der Titanenschlacht mit Steinen bewaffnen
und dem Feinde einen Hagel von hundert Felsstücken versetzen, werden sie ernst
genommen. Solange sie nichts als ihre bloßen Fäuste haben, werden sie ausgelacht.
Ans dem Felsen von Gibraltar leben bekanntlich Affen, die, man weiß nicht
wie, hierher gekommen sind; sie fallen den Anwohnern oft lästig. Sie kommen
in die Gärten, plündern die Obstbäume und beschädigen die Weinberge. Die
Gärtner hassen sie und machen ihnen drohend eine Faust — mehr dürfen sie nicht,
denn die zudringlichen Gesellen werden von den Engländern geschützt. Die Affen
antworten damit, daß sie Steine umwälzen und den Berg hinabrollen, wohl auch
hinunterwerfen. Es ist, als wollten sie den Spaniern eine Vorlesung über Kultur-
Grcnzboten IV 1904 24
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |