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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Zum neuen Jahre M)4

eußcrlich hat sich die politische Lage Europas und der Welt im
Jahre 1903 wenig verändert. Manche Gegensätze zwischen den
Mächten haben sich gemildert, andre verschärft, aber zu einem großen
Kriegsbrande ist es nirgends gekommen, trotz oder mich wegen
der schweren Kriegsrnstung, die heute alle Welt trägt und tragen
muß. Mehr neben als gegeneinander stehn in Europa mich heute der Drei¬
bund und der Zweibund; aber dieses Bundesverhältnis hat Italien nicht ge¬
hindert, sein altes Verhältnis zu England fortzusetzen und sich Frankreich zu
nähern, es hat Deutschland nicht gehindert, die besten Beziehungen zu Nu߬
land zu pflegen, es hat Österreich nicht abgehalten, im engsten Einvernehmen
mit dem Zarenreiche in den Wirren der Balkanhalbinsel mehr gebieterisch als
vermittelnd einzuschreiten, um der Türkei in Europa das Leben zu fristen und
ihre völlige Auflösung in halbbarbarische Kleinstaaten abzuwenden. Denn die
Erfahrung, vor allem die noch ungesühnte Belgrader Blutuacht hat eben gezeigt,
daß diese befreiten Völker, sich selbst überlassen, nnr sehr langsam zu höherer
Gesittung emporsteigen, und hat Zweifel an ihrer wirklichen Lebensfähigkeit
erweckt; der Gedanke läßt sich kaum abweisen, daß sie über kurz oder lang wieder
in einer großstaatlichen Machtbildung werden aufgehn müssen. Wären die Völker
fähig, aus der Geschichte, d. h. aus den Beispielen andrer, zu lernen, würde"
sie nicht viel mehr von Leidenschaften und Instinkten als von vernünftigen
Erwägungen beherrscht, so würden sich auch die ewig hadernden Nationalitäten
der habsburgischen Monarchie sagen müssen, daß sie, wenn sie ihre einseitigen
nationalistischen Bestrebttttgen so weiter verfolgen wie bisher, eine alte ange¬
sehene 'Großmacht in eine Anzahl ohnmächtiger Mittel- und Kleinstaaten auflösen
müssen, die ihren Hader fortsetzen und in der großen Politik nicht mehr be¬
deuten würden, als heute Serbien und Bulgarien. Auch ein selbständiges
Ungarn, dessen herrschender magyarischer Stamm noch nicht einmal die Hälfte
der Gesamtbevölkerung des Königreichs ausmacht und von den andern Stämmen
zum Teil grimmig gehaßt wird, würde nichts sein als ein starker Mittelstaat
und sich, eingekeilt zwischen Deutschen, Slawen und Rumänen, schwerlich lange
behaupten können. Gewiß ist die politische Selbständigkeit erst die Vollendung
einer nationalen Entwicklung; aber da der Staat Macht ist, so sind heute nnr


Grenzen I 1904 1


Zum neuen Jahre M)4

eußcrlich hat sich die politische Lage Europas und der Welt im
Jahre 1903 wenig verändert. Manche Gegensätze zwischen den
Mächten haben sich gemildert, andre verschärft, aber zu einem großen
Kriegsbrande ist es nirgends gekommen, trotz oder mich wegen
der schweren Kriegsrnstung, die heute alle Welt trägt und tragen
muß. Mehr neben als gegeneinander stehn in Europa mich heute der Drei¬
bund und der Zweibund; aber dieses Bundesverhältnis hat Italien nicht ge¬
hindert, sein altes Verhältnis zu England fortzusetzen und sich Frankreich zu
nähern, es hat Deutschland nicht gehindert, die besten Beziehungen zu Nu߬
land zu pflegen, es hat Österreich nicht abgehalten, im engsten Einvernehmen
mit dem Zarenreiche in den Wirren der Balkanhalbinsel mehr gebieterisch als
vermittelnd einzuschreiten, um der Türkei in Europa das Leben zu fristen und
ihre völlige Auflösung in halbbarbarische Kleinstaaten abzuwenden. Denn die
Erfahrung, vor allem die noch ungesühnte Belgrader Blutuacht hat eben gezeigt,
daß diese befreiten Völker, sich selbst überlassen, nnr sehr langsam zu höherer
Gesittung emporsteigen, und hat Zweifel an ihrer wirklichen Lebensfähigkeit
erweckt; der Gedanke läßt sich kaum abweisen, daß sie über kurz oder lang wieder
in einer großstaatlichen Machtbildung werden aufgehn müssen. Wären die Völker
fähig, aus der Geschichte, d. h. aus den Beispielen andrer, zu lernen, würde»
sie nicht viel mehr von Leidenschaften und Instinkten als von vernünftigen
Erwägungen beherrscht, so würden sich auch die ewig hadernden Nationalitäten
der habsburgischen Monarchie sagen müssen, daß sie, wenn sie ihre einseitigen
nationalistischen Bestrebttttgen so weiter verfolgen wie bisher, eine alte ange¬
sehene 'Großmacht in eine Anzahl ohnmächtiger Mittel- und Kleinstaaten auflösen
müssen, die ihren Hader fortsetzen und in der großen Politik nicht mehr be¬
deuten würden, als heute Serbien und Bulgarien. Auch ein selbständiges
Ungarn, dessen herrschender magyarischer Stamm noch nicht einmal die Hälfte
der Gesamtbevölkerung des Königreichs ausmacht und von den andern Stämmen
zum Teil grimmig gehaßt wird, würde nichts sein als ein starker Mittelstaat
und sich, eingekeilt zwischen Deutschen, Slawen und Rumänen, schwerlich lange
behaupten können. Gewiß ist die politische Selbständigkeit erst die Vollendung
einer nationalen Entwicklung; aber da der Staat Macht ist, so sind heute nnr


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/9>, abgerufen am 29.06.2024.