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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Zwei Seelen

die ich kannte, und von der ich doch nicht wußte, wo ich sie hintun sollte, und die
von einem Lichte umflossen war, von dem ich nicht wußte, woher es kam. Ich
wunderte mich, daß die Hand, die auf mir ruhte, nicht vor den Lumpen. womit
ich bedeckt war, zurückschrak, und als diese Hand die meine ergriff, stand ich fröhlich
auf und ging nur mit neuer Kraft und überglücklich an seiner Seite. Sogleich
sah ich in der Ferne unter einem glänzenden Abendrot unser Haus liegen, und die
Fenster schimmerten weithin in einem freundlichen Licht. Die Gestalt, die mich
noch immer an der Hand hielt, stand still und wies darauf hin. Ich überlegte,
ob ich thu mitnehmen sollte, entschied mich aber dahin, es sei besser, ich ginge zuerst
allein nach Hause, und ich könne ihn ein anders mal auffordern. Wie er nun vou
mir schied, versank alsbald alles Licht, das Abendrot verschwand, und dunkle Nacht
war um mich her, auch meine Augen fielen wieder müde zu. Ich tastete mich
jedoch weiter und gelaugte an einen Bretterzaun, an dem ich immerfort hinging,
ohne daß er ein Ende nahm. Da dachte ich endlich, als mir jeder Mut entfallen
war, ich hätte die Hand, die mich vorhin geführt hatte, doch lieber nicht loslassen
sollen. Wie ich das bedachte, gingen mir die Augen wieder auf, und ich sah
nun, daß das Häuschen mit seinem freundlichen Schein dicht vor mir lag, und daß
der Bretterzaun ueben der Bahn hinführte. Jetzt kam auch mein Vater, der sein
Stelzbein losgeworden war, vou der Strecke und sah mich zitternd um Wege stehn.
Er nahm mich unter den Arm und führte mich in die Stube hinein. Wie ich aus
der bittern Kälte in die wohlige Wärme und aus der Nacht in das freundliche
Licht kam, atmete ich tief auf und sagte: Ich dachte, ich käme nie mehr nach
Hause. Und als ich warm zugedeckt in meinem Bett lag, rieselten nur die Tränen
über das Gesicht, und ich sagte: Nun will ich aber schlafen.

In diesem Augenblick regte sich etwas neben mir, und ich fuhr empor. Es
dauerte geraume Zeit, ehe ich mich zurechtfand und wieder wußte, wo ich war.
Die lichte, freundliche Erscheinung war versunken, und verzweiflungsvoll ging es
mir durch das Herz, daß meine Träume mich immerfort in die alte Heimat zurück¬
brachten, während ich mich in der Wirklichkeit immer weiter von ihr entfernte.
Und darauf dachte ich darau, daß der Unbekannte und doch so Bekannte, von dem
ich im Traume geführt worden war, derselbe sei, der auch an einem von Wunden
entstellten und vom Elend verwilderten Tier noch ein letztes Gutes und eine letzte
Schönheit herausgefunden hatte.

24

An einem der folgenden Nachmittage sahen wir vor uns auf der Straße eine"
Menschen zwischen den Pappelbäumen hin und her schwanken und endlich zu Boden
sinken. Wir wollten ihm zuerst ausweichen, da er sich aber gnr nicht wieder erhob,
gingen wir auf ihn los und hatten nun ein ärmliches Menschenwesen vor uns, das
lang ausgestreckt im Schnee lag und mit der Hand ein geringes Bündel festhielt.
Roter stieß ihn in der Meinung, es mit einem Betrunknen zu tun zu hoben, mit
dem Fuße an und sagte: Aufgewacht, Brüderchen, hier steht kein Bett! Es kam
keine Antwort, so kehrten wir ihn um und sahen nun in das blasse Antlitz eines
mit dem Tode ringenden Menschen, in ein verhungertes und vergrämtes Geficht,
worin die Augen geschlossen waren. Wir flößten ihm etwas Branntwein ein,
rieben ihm Gesicht und Hände, bis er unter diesen kräftigen und rauhen Belebungs¬
versuchen wieder erwachte, und nachdem er noch einmal getrunken hatte, uns mit¬
teilte, daß er ein Schneidergeselle wäre und, krank geworden, das Waisenhaus
aufzusuchen gehe, worin er ehemals erzogen worden war. Wir waren nun in Ver¬
legenheit, was wir mit diesem Höufcheu Unglück anfangen sollten. Uns seiner so
anzunehmen, wie es sein Zustand nötig machte, erlaubte unsre eigne Bedrängnis
nicht, und ihn so liegen zu lassen, brachten wir nicht übers Herz. So beratschlagten
wir, was wir in dieser schwierigen Lage tun könnten, und beschlossen, ihn bis in
die Nahe eines Dörfchens, dessen erste Häuser nicht weit entfernt waren, zubringen,
wo wir ihn dann seinem guten Glücke überlassen mußten, was freilich nach seinen


Zwei Seelen

die ich kannte, und von der ich doch nicht wußte, wo ich sie hintun sollte, und die
von einem Lichte umflossen war, von dem ich nicht wußte, woher es kam. Ich
wunderte mich, daß die Hand, die auf mir ruhte, nicht vor den Lumpen. womit
ich bedeckt war, zurückschrak, und als diese Hand die meine ergriff, stand ich fröhlich
auf und ging nur mit neuer Kraft und überglücklich an seiner Seite. Sogleich
sah ich in der Ferne unter einem glänzenden Abendrot unser Haus liegen, und die
Fenster schimmerten weithin in einem freundlichen Licht. Die Gestalt, die mich
noch immer an der Hand hielt, stand still und wies darauf hin. Ich überlegte,
ob ich thu mitnehmen sollte, entschied mich aber dahin, es sei besser, ich ginge zuerst
allein nach Hause, und ich könne ihn ein anders mal auffordern. Wie er nun vou
mir schied, versank alsbald alles Licht, das Abendrot verschwand, und dunkle Nacht
war um mich her, auch meine Augen fielen wieder müde zu. Ich tastete mich
jedoch weiter und gelaugte an einen Bretterzaun, an dem ich immerfort hinging,
ohne daß er ein Ende nahm. Da dachte ich endlich, als mir jeder Mut entfallen
war, ich hätte die Hand, die mich vorhin geführt hatte, doch lieber nicht loslassen
sollen. Wie ich das bedachte, gingen mir die Augen wieder auf, und ich sah
nun, daß das Häuschen mit seinem freundlichen Schein dicht vor mir lag, und daß
der Bretterzaun ueben der Bahn hinführte. Jetzt kam auch mein Vater, der sein
Stelzbein losgeworden war, vou der Strecke und sah mich zitternd um Wege stehn.
Er nahm mich unter den Arm und führte mich in die Stube hinein. Wie ich aus
der bittern Kälte in die wohlige Wärme und aus der Nacht in das freundliche
Licht kam, atmete ich tief auf und sagte: Ich dachte, ich käme nie mehr nach
Hause. Und als ich warm zugedeckt in meinem Bett lag, rieselten nur die Tränen
über das Gesicht, und ich sagte: Nun will ich aber schlafen.

In diesem Augenblick regte sich etwas neben mir, und ich fuhr empor. Es
dauerte geraume Zeit, ehe ich mich zurechtfand und wieder wußte, wo ich war.
Die lichte, freundliche Erscheinung war versunken, und verzweiflungsvoll ging es
mir durch das Herz, daß meine Träume mich immerfort in die alte Heimat zurück¬
brachten, während ich mich in der Wirklichkeit immer weiter von ihr entfernte.
Und darauf dachte ich darau, daß der Unbekannte und doch so Bekannte, von dem
ich im Traume geführt worden war, derselbe sei, der auch an einem von Wunden
entstellten und vom Elend verwilderten Tier noch ein letztes Gutes und eine letzte
Schönheit herausgefunden hatte.

24

An einem der folgenden Nachmittage sahen wir vor uns auf der Straße eine»
Menschen zwischen den Pappelbäumen hin und her schwanken und endlich zu Boden
sinken. Wir wollten ihm zuerst ausweichen, da er sich aber gnr nicht wieder erhob,
gingen wir auf ihn los und hatten nun ein ärmliches Menschenwesen vor uns, das
lang ausgestreckt im Schnee lag und mit der Hand ein geringes Bündel festhielt.
Roter stieß ihn in der Meinung, es mit einem Betrunknen zu tun zu hoben, mit
dem Fuße an und sagte: Aufgewacht, Brüderchen, hier steht kein Bett! Es kam
keine Antwort, so kehrten wir ihn um und sahen nun in das blasse Antlitz eines
mit dem Tode ringenden Menschen, in ein verhungertes und vergrämtes Geficht,
worin die Augen geschlossen waren. Wir flößten ihm etwas Branntwein ein,
rieben ihm Gesicht und Hände, bis er unter diesen kräftigen und rauhen Belebungs¬
versuchen wieder erwachte, und nachdem er noch einmal getrunken hatte, uns mit¬
teilte, daß er ein Schneidergeselle wäre und, krank geworden, das Waisenhaus
aufzusuchen gehe, worin er ehemals erzogen worden war. Wir waren nun in Ver¬
legenheit, was wir mit diesem Höufcheu Unglück anfangen sollten. Uns seiner so
anzunehmen, wie es sein Zustand nötig machte, erlaubte unsre eigne Bedrängnis
nicht, und ihn so liegen zu lassen, brachten wir nicht übers Herz. So beratschlagten
wir, was wir in dieser schwierigen Lage tun könnten, und beschlossen, ihn bis in
die Nahe eines Dörfchens, dessen erste Häuser nicht weit entfernt waren, zubringen,
wo wir ihn dann seinem guten Glücke überlassen mußten, was freilich nach seinen


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[0662] Zwei Seelen die ich kannte, und von der ich doch nicht wußte, wo ich sie hintun sollte, und die von einem Lichte umflossen war, von dem ich nicht wußte, woher es kam. Ich wunderte mich, daß die Hand, die auf mir ruhte, nicht vor den Lumpen. womit ich bedeckt war, zurückschrak, und als diese Hand die meine ergriff, stand ich fröhlich auf und ging nur mit neuer Kraft und überglücklich an seiner Seite. Sogleich sah ich in der Ferne unter einem glänzenden Abendrot unser Haus liegen, und die Fenster schimmerten weithin in einem freundlichen Licht. Die Gestalt, die mich noch immer an der Hand hielt, stand still und wies darauf hin. Ich überlegte, ob ich thu mitnehmen sollte, entschied mich aber dahin, es sei besser, ich ginge zuerst allein nach Hause, und ich könne ihn ein anders mal auffordern. Wie er nun vou mir schied, versank alsbald alles Licht, das Abendrot verschwand, und dunkle Nacht war um mich her, auch meine Augen fielen wieder müde zu. Ich tastete mich jedoch weiter und gelaugte an einen Bretterzaun, an dem ich immerfort hinging, ohne daß er ein Ende nahm. Da dachte ich endlich, als mir jeder Mut entfallen war, ich hätte die Hand, die mich vorhin geführt hatte, doch lieber nicht loslassen sollen. Wie ich das bedachte, gingen mir die Augen wieder auf, und ich sah nun, daß das Häuschen mit seinem freundlichen Schein dicht vor mir lag, und daß der Bretterzaun ueben der Bahn hinführte. Jetzt kam auch mein Vater, der sein Stelzbein losgeworden war, vou der Strecke und sah mich zitternd um Wege stehn. Er nahm mich unter den Arm und führte mich in die Stube hinein. Wie ich aus der bittern Kälte in die wohlige Wärme und aus der Nacht in das freundliche Licht kam, atmete ich tief auf und sagte: Ich dachte, ich käme nie mehr nach Hause. Und als ich warm zugedeckt in meinem Bett lag, rieselten nur die Tränen über das Gesicht, und ich sagte: Nun will ich aber schlafen. In diesem Augenblick regte sich etwas neben mir, und ich fuhr empor. Es dauerte geraume Zeit, ehe ich mich zurechtfand und wieder wußte, wo ich war. Die lichte, freundliche Erscheinung war versunken, und verzweiflungsvoll ging es mir durch das Herz, daß meine Träume mich immerfort in die alte Heimat zurück¬ brachten, während ich mich in der Wirklichkeit immer weiter von ihr entfernte. Und darauf dachte ich darau, daß der Unbekannte und doch so Bekannte, von dem ich im Traume geführt worden war, derselbe sei, der auch an einem von Wunden entstellten und vom Elend verwilderten Tier noch ein letztes Gutes und eine letzte Schönheit herausgefunden hatte. 24 An einem der folgenden Nachmittage sahen wir vor uns auf der Straße eine» Menschen zwischen den Pappelbäumen hin und her schwanken und endlich zu Boden sinken. Wir wollten ihm zuerst ausweichen, da er sich aber gnr nicht wieder erhob, gingen wir auf ihn los und hatten nun ein ärmliches Menschenwesen vor uns, das lang ausgestreckt im Schnee lag und mit der Hand ein geringes Bündel festhielt. Roter stieß ihn in der Meinung, es mit einem Betrunknen zu tun zu hoben, mit dem Fuße an und sagte: Aufgewacht, Brüderchen, hier steht kein Bett! Es kam keine Antwort, so kehrten wir ihn um und sahen nun in das blasse Antlitz eines mit dem Tode ringenden Menschen, in ein verhungertes und vergrämtes Geficht, worin die Augen geschlossen waren. Wir flößten ihm etwas Branntwein ein, rieben ihm Gesicht und Hände, bis er unter diesen kräftigen und rauhen Belebungs¬ versuchen wieder erwachte, und nachdem er noch einmal getrunken hatte, uns mit¬ teilte, daß er ein Schneidergeselle wäre und, krank geworden, das Waisenhaus aufzusuchen gehe, worin er ehemals erzogen worden war. Wir waren nun in Ver¬ legenheit, was wir mit diesem Höufcheu Unglück anfangen sollten. Uns seiner so anzunehmen, wie es sein Zustand nötig machte, erlaubte unsre eigne Bedrängnis nicht, und ihn so liegen zu lassen, brachten wir nicht übers Herz. So beratschlagten wir, was wir in dieser schwierigen Lage tun könnten, und beschlossen, ihn bis in die Nahe eines Dörfchens, dessen erste Häuser nicht weit entfernt waren, zubringen, wo wir ihn dann seinem guten Glücke überlassen mußten, was freilich nach seinen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/662>, abgerufen am 22.07.2024.