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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Vater mild Mutter

Und weil das Geistige, wenn auch unlöslich mit dem Körperlichen ver¬
flochten, etwas andres ist als dieses, darum ist auch die Menschheitsgeschichte
etwas andres als die Naturgeschichte. In dieser wirkt die Natur, oder wie wir
als Theisten sagen, Gott allein, die Menschheitsgeschichte kommt durch die
Wechselwirkung zwischen dem einen Gott und den vielen Menschen zustande.
Wir werden uns niemals dazu verstehn, die freie Willenstütigkeit der Menschen
für bloßen Schein zu erklären, was nötig ist, wenn man die Menschheits¬
geschichte für eine bloße Fortsetzung der Naturgeschichte hält. Die relative
Selbständigkeit der Menschenseele, ihre beschränkte Unabhängigkeit von Gott und
von der Natur -- man kann auch sagen von Gott oder von der Natur --
gehört zu den unergründlichen Geheimnissen, aber an ihrem Dasein zweifeln,
das hieße auf sein Menschentum verzichten und sich in die Klasse der Blatt¬
läuse und der Eingeweidewürmer versetzen. Und die beiden Geschichten unter¬
scheiden sich nicht allein dadurch, daß es verschiedne Subjekte sind, die sie
schaffen, sondern mich durch ihren Inhalt. Dieser ist in der Naturgeschichte mit
dem materiellen Geschehen erschöpft. Das Wesentliche der Menschheitsgeschichte
dagegen besteht aus Dingen, die nicht mit den Sinnen, sondern nur vou der
Vernunft wahrgenommen werden. Eine von Raubtieren zerrissene Schafherde
ist eben dieses und sonst nichts. Haben dagegen Menschen in Masse einander
getötet, so ist nicht dieses äußerliche Faktum Inhalt des Geschichtsabschnitts,
sondern ob Räuber bei der Teilung der Beute uneins geworden und überein¬
ander hergefallen sind, oder ob sich ein edles Volk eines Unterdrückers erwehrt,
oder wenn es sich um eine Revolution handelt, welche der beiden Parteien
gesiegt hat. Von Geschichtsphilosophie aber zu sprechen hat nur der Teleolvge
das Recht, denn nur wenn Zwecke verwirklicht werden, haben die Geschehnisse
einen Sinn, und mit dein Sinnlosen befaßt sich die Philosophie nicht. Selbst¬
verständlich hat gerade nach unsrer Überzeugung schon das Naturgeschehen einen
Sinn, und darum gibt es auch eine Naturphilosophie. Aber deren Inhalt
sagt der Hauptsache nach, daß die Natur der Schauplatz, die Werkstatt, die
Vorratskammer, die Daseiusbedingung der Geschichte schaffenden Menschen, die
Naturgeschichte die Vorbereitung der Menschengeschichte ist.




Vater und Mutter
Eine Variante

cis entsetzliche Unglück, das eine angesehene Familie durch die
Schuld eines entweder geistig gestörten oder tief unter dem Tiere
stehenden Unmenschen getroffen hat, ist von den verschiedensten
Seiten zum Anlaß allgemeiner sittlicher Betrachtungen genommen
worden, und es läßt sich nicht leugnen: der Gott sei Dank ver¬
einzelt dastehende Fall zeigt, mit welchen Opfern wir unter Umständen die
moderne Vielseitigkeit, die kosmopolitische Ubiquitüt, die von der Regierung


Vater mild Mutter

Und weil das Geistige, wenn auch unlöslich mit dem Körperlichen ver¬
flochten, etwas andres ist als dieses, darum ist auch die Menschheitsgeschichte
etwas andres als die Naturgeschichte. In dieser wirkt die Natur, oder wie wir
als Theisten sagen, Gott allein, die Menschheitsgeschichte kommt durch die
Wechselwirkung zwischen dem einen Gott und den vielen Menschen zustande.
Wir werden uns niemals dazu verstehn, die freie Willenstütigkeit der Menschen
für bloßen Schein zu erklären, was nötig ist, wenn man die Menschheits¬
geschichte für eine bloße Fortsetzung der Naturgeschichte hält. Die relative
Selbständigkeit der Menschenseele, ihre beschränkte Unabhängigkeit von Gott und
von der Natur — man kann auch sagen von Gott oder von der Natur —
gehört zu den unergründlichen Geheimnissen, aber an ihrem Dasein zweifeln,
das hieße auf sein Menschentum verzichten und sich in die Klasse der Blatt¬
läuse und der Eingeweidewürmer versetzen. Und die beiden Geschichten unter¬
scheiden sich nicht allein dadurch, daß es verschiedne Subjekte sind, die sie
schaffen, sondern mich durch ihren Inhalt. Dieser ist in der Naturgeschichte mit
dem materiellen Geschehen erschöpft. Das Wesentliche der Menschheitsgeschichte
dagegen besteht aus Dingen, die nicht mit den Sinnen, sondern nur vou der
Vernunft wahrgenommen werden. Eine von Raubtieren zerrissene Schafherde
ist eben dieses und sonst nichts. Haben dagegen Menschen in Masse einander
getötet, so ist nicht dieses äußerliche Faktum Inhalt des Geschichtsabschnitts,
sondern ob Räuber bei der Teilung der Beute uneins geworden und überein¬
ander hergefallen sind, oder ob sich ein edles Volk eines Unterdrückers erwehrt,
oder wenn es sich um eine Revolution handelt, welche der beiden Parteien
gesiegt hat. Von Geschichtsphilosophie aber zu sprechen hat nur der Teleolvge
das Recht, denn nur wenn Zwecke verwirklicht werden, haben die Geschehnisse
einen Sinn, und mit dein Sinnlosen befaßt sich die Philosophie nicht. Selbst¬
verständlich hat gerade nach unsrer Überzeugung schon das Naturgeschehen einen
Sinn, und darum gibt es auch eine Naturphilosophie. Aber deren Inhalt
sagt der Hauptsache nach, daß die Natur der Schauplatz, die Werkstatt, die
Vorratskammer, die Daseiusbedingung der Geschichte schaffenden Menschen, die
Naturgeschichte die Vorbereitung der Menschengeschichte ist.




Vater und Mutter
Eine Variante

cis entsetzliche Unglück, das eine angesehene Familie durch die
Schuld eines entweder geistig gestörten oder tief unter dem Tiere
stehenden Unmenschen getroffen hat, ist von den verschiedensten
Seiten zum Anlaß allgemeiner sittlicher Betrachtungen genommen
worden, und es läßt sich nicht leugnen: der Gott sei Dank ver¬
einzelt dastehende Fall zeigt, mit welchen Opfern wir unter Umständen die
moderne Vielseitigkeit, die kosmopolitische Ubiquitüt, die von der Regierung


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[0638] Vater mild Mutter Und weil das Geistige, wenn auch unlöslich mit dem Körperlichen ver¬ flochten, etwas andres ist als dieses, darum ist auch die Menschheitsgeschichte etwas andres als die Naturgeschichte. In dieser wirkt die Natur, oder wie wir als Theisten sagen, Gott allein, die Menschheitsgeschichte kommt durch die Wechselwirkung zwischen dem einen Gott und den vielen Menschen zustande. Wir werden uns niemals dazu verstehn, die freie Willenstütigkeit der Menschen für bloßen Schein zu erklären, was nötig ist, wenn man die Menschheits¬ geschichte für eine bloße Fortsetzung der Naturgeschichte hält. Die relative Selbständigkeit der Menschenseele, ihre beschränkte Unabhängigkeit von Gott und von der Natur — man kann auch sagen von Gott oder von der Natur — gehört zu den unergründlichen Geheimnissen, aber an ihrem Dasein zweifeln, das hieße auf sein Menschentum verzichten und sich in die Klasse der Blatt¬ läuse und der Eingeweidewürmer versetzen. Und die beiden Geschichten unter¬ scheiden sich nicht allein dadurch, daß es verschiedne Subjekte sind, die sie schaffen, sondern mich durch ihren Inhalt. Dieser ist in der Naturgeschichte mit dem materiellen Geschehen erschöpft. Das Wesentliche der Menschheitsgeschichte dagegen besteht aus Dingen, die nicht mit den Sinnen, sondern nur vou der Vernunft wahrgenommen werden. Eine von Raubtieren zerrissene Schafherde ist eben dieses und sonst nichts. Haben dagegen Menschen in Masse einander getötet, so ist nicht dieses äußerliche Faktum Inhalt des Geschichtsabschnitts, sondern ob Räuber bei der Teilung der Beute uneins geworden und überein¬ ander hergefallen sind, oder ob sich ein edles Volk eines Unterdrückers erwehrt, oder wenn es sich um eine Revolution handelt, welche der beiden Parteien gesiegt hat. Von Geschichtsphilosophie aber zu sprechen hat nur der Teleolvge das Recht, denn nur wenn Zwecke verwirklicht werden, haben die Geschehnisse einen Sinn, und mit dein Sinnlosen befaßt sich die Philosophie nicht. Selbst¬ verständlich hat gerade nach unsrer Überzeugung schon das Naturgeschehen einen Sinn, und darum gibt es auch eine Naturphilosophie. Aber deren Inhalt sagt der Hauptsache nach, daß die Natur der Schauplatz, die Werkstatt, die Vorratskammer, die Daseiusbedingung der Geschichte schaffenden Menschen, die Naturgeschichte die Vorbereitung der Menschengeschichte ist. Vater und Mutter Eine Variante cis entsetzliche Unglück, das eine angesehene Familie durch die Schuld eines entweder geistig gestörten oder tief unter dem Tiere stehenden Unmenschen getroffen hat, ist von den verschiedensten Seiten zum Anlaß allgemeiner sittlicher Betrachtungen genommen worden, und es läßt sich nicht leugnen: der Gott sei Dank ver¬ einzelt dastehende Fall zeigt, mit welchen Opfern wir unter Umständen die moderne Vielseitigkeit, die kosmopolitische Ubiquitüt, die von der Regierung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/638>, abgerufen am 29.06.2024.