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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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einen so lebhaften Meinungsstreit, wie ihn die materielle Gegenwart sonst nur
noch auf den Kampfplätzen der wirtschaftlichen Interessen entbrennen sieht.
Mit Kopfschütteln gewahrte der nachdenkende Betrachter, welchen trüben
Schaum auf beiden Seiten die hochgehenden Wogen der Erregung aufspritzten.
Wenn damals die Widersacher des Nackten von einem "Entrüstungsrummel"
seiner Verteidiger sprachen, so war daran sicher so viel richtig, daß der un¬
verständige, much der knnstunverständige Hause am lautesten lärmte. Der
echte Kern der Bewegung lag -- wie immer bei solchen Bewegungen -- mehr
in einem richtigen Gefühl als in einem richtigen Urteil. Die Künstler und
ihre Freunde hatten den Eindruck, daß Männer, die aller Kunst fern standen,
mit Polizeivorschriften in das Gebiet des Kunstschaffens übergreifen wollten;
dagegen lehnten sie sich auf. Sie wehrten einem Einbruch in die Grenzen
ihres Landes, das allen edeln Geistern aller Zeiten als heiliger Boden galt,
den ungeweihte Füße nicht betreten sollen.

Wenn sie aber Schaden für die Kunst befürchteten, so verfielen sie einem
groben Irrtum. Die leidet unter solchen Übergriffen nicht; die folgt unauf¬
haltsam den Gesetzen ihrer Entwicklung: aufwärts, so lange sie es vermag/
abwärts, wenn ihr Höhepunkt erreicht ist.




Aus der Jugendzeit
v. t)r. Robert Bosse Erinnerungmi von
(Fortsetzung)
l!.. Das Gymnasium (Fortsetzung)

on Tertia an wurden wir Jungen in der Schule von den Lehrern
mit Sie angeredet. Viel zu früh für Jungen, wie ich, der ich
uoch nicht dreizehn Jahre alt war. In Tertia saßen freilich auch
ältere Jungen. Denn hier blieben die unbegabten und faulen Schüler
zurück. Die meisten wurden aus Tertia konfirmiert. Es waren
aber auch uoch ältere in der Klasse. Denn von Tertia an be¬
gegnete man auch Jungen, die schon auf einem andern Gymnasium gewesen und
dort nicht vorwärts gekommen waren oder sonst nicht gut getan hatten, Gro߬
städtern, die zur bessern Überwachung ihrer Erziehung in die kleine Stadt gebracht
wurden, weil da ein letzter Versuch mit ihnen gemacht werden sollte. Namentlich
das Kloster Unsrer lieben Frauen in Magdeburg lieferte damals jahrelang eine
Reihe solcher schiffbrüchigen Jungen auf unsre Anstalt. Sie waren unter uns ein
überaus schädliches Element. Sie wußten Dinge, von denen wir jungem Pro¬
vinzler noch keine Ahnung hatten, und renommierten mit Ansprüchen und auch mit
Geldausgaben, an die wir Quedlinburger Jungen vorher noch nie gedacht hatten.
Sie rauchten heimlich, tranken bayrisches Bier in allerhand Winkelkneipen und bei
den Ausflügen in den Harz und machten Stimmung dafür, daß man sich vou den
Lehrern nichts gefallen lassen dürfe. So kam man in der Tertia unvermerkt in
eine Atmosphäre sittlicher Gefahren hinein. Wunderbar genug, daß wir noch so
leidlich und mit einigen im Grunde ziemlich harmlosen Dummheiten durchgekommen
sind. Unsre Lehrer waren gegen diese Gefahren wie mit Blindheit geschlagen.
Wir arbeiteten allerdings für die Klasse fleißig und hatten auch im ganzen Lust


Grenzboten IV 1903

einen so lebhaften Meinungsstreit, wie ihn die materielle Gegenwart sonst nur
noch auf den Kampfplätzen der wirtschaftlichen Interessen entbrennen sieht.
Mit Kopfschütteln gewahrte der nachdenkende Betrachter, welchen trüben
Schaum auf beiden Seiten die hochgehenden Wogen der Erregung aufspritzten.
Wenn damals die Widersacher des Nackten von einem „Entrüstungsrummel"
seiner Verteidiger sprachen, so war daran sicher so viel richtig, daß der un¬
verständige, much der knnstunverständige Hause am lautesten lärmte. Der
echte Kern der Bewegung lag — wie immer bei solchen Bewegungen — mehr
in einem richtigen Gefühl als in einem richtigen Urteil. Die Künstler und
ihre Freunde hatten den Eindruck, daß Männer, die aller Kunst fern standen,
mit Polizeivorschriften in das Gebiet des Kunstschaffens übergreifen wollten;
dagegen lehnten sie sich auf. Sie wehrten einem Einbruch in die Grenzen
ihres Landes, das allen edeln Geistern aller Zeiten als heiliger Boden galt,
den ungeweihte Füße nicht betreten sollen.

Wenn sie aber Schaden für die Kunst befürchteten, so verfielen sie einem
groben Irrtum. Die leidet unter solchen Übergriffen nicht; die folgt unauf¬
haltsam den Gesetzen ihrer Entwicklung: aufwärts, so lange sie es vermag/
abwärts, wenn ihr Höhepunkt erreicht ist.




Aus der Jugendzeit
v. t)r. Robert Bosse Erinnerungmi von
(Fortsetzung)
l!.. Das Gymnasium (Fortsetzung)

on Tertia an wurden wir Jungen in der Schule von den Lehrern
mit Sie angeredet. Viel zu früh für Jungen, wie ich, der ich
uoch nicht dreizehn Jahre alt war. In Tertia saßen freilich auch
ältere Jungen. Denn hier blieben die unbegabten und faulen Schüler
zurück. Die meisten wurden aus Tertia konfirmiert. Es waren
aber auch uoch ältere in der Klasse. Denn von Tertia an be¬
gegnete man auch Jungen, die schon auf einem andern Gymnasium gewesen und
dort nicht vorwärts gekommen waren oder sonst nicht gut getan hatten, Gro߬
städtern, die zur bessern Überwachung ihrer Erziehung in die kleine Stadt gebracht
wurden, weil da ein letzter Versuch mit ihnen gemacht werden sollte. Namentlich
das Kloster Unsrer lieben Frauen in Magdeburg lieferte damals jahrelang eine
Reihe solcher schiffbrüchigen Jungen auf unsre Anstalt. Sie waren unter uns ein
überaus schädliches Element. Sie wußten Dinge, von denen wir jungem Pro¬
vinzler noch keine Ahnung hatten, und renommierten mit Ansprüchen und auch mit
Geldausgaben, an die wir Quedlinburger Jungen vorher noch nie gedacht hatten.
Sie rauchten heimlich, tranken bayrisches Bier in allerhand Winkelkneipen und bei
den Ausflügen in den Harz und machten Stimmung dafür, daß man sich vou den
Lehrern nichts gefallen lassen dürfe. So kam man in der Tertia unvermerkt in
eine Atmosphäre sittlicher Gefahren hinein. Wunderbar genug, daß wir noch so
leidlich und mit einigen im Grunde ziemlich harmlosen Dummheiten durchgekommen
sind. Unsre Lehrer waren gegen diese Gefahren wie mit Blindheit geschlagen.
Wir arbeiteten allerdings für die Klasse fleißig und hatten auch im ganzen Lust


Grenzboten IV 1903
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/385>, abgerufen am 29.06.2024.