Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Deutsche Rechtsaltertiuner in unsrer heutigen deutschen Sprache

Waldeck und die beiden Reuß aus ihren Wahlkreisen keinen einzigen Staats¬
angehörigen in den Reichstag. Steht da nicht das Recht der Entsendung von
wenigstens einem Abgeordneten seinein Sinne nach wirklich nur auf dem Pa¬
piere? Und weiter: die beiden Reuß, die Hansestädte Hamburg und Lübeck,
als Staaten sowohl wie auch in den besten Teilen der Bevölkerung, wurden
sie sich nicht dagegen verwahren, wenn man schließen wollte, daß sie mit ihren
sozialdemokratischen Abgeordneten die gesetzmäßige Sondervertretung im Reichs¬
tage in gebührender Weise hätten? Die Rechte der Staaten werden im Bundes¬
rat vertreten; die Rechte der Staatsbürger aber sind bei dein bestehenden Wahl¬
recht wohl schwerlich so gewahrt, daß eine Änderung des Wahlrechts in dem
angeregten Sinne einen Eingriff in die Rechte der Vnndesstcmten bedeuten
könnte. Im Gegenteil, gerade einem Staate wie Hamburg oder Lübeck würde
ein neues Wahlrecht erst die ihm gebührende Stellung im Reichstag schaffen,
und auch dann mehr als jetzt, wenn etwa einmal unter den Vertretern des
Seehandels und der Seeleute gar keine Hamburger oder Lübecker, sondern nur
Bremer oder Stettiner sein sollten.

Man wird den vorstehenden Ausführungen gewiß den Vorwurf macheu
können, daß sie eine der schwierigsten Fragen der Politik in allzu springender
Kürze abtun und eine unendliche Menge von Fragen veranlassen, ohne zu
ihrer Lösung beizutragen. Mehr war aber auch gar nicht beabsichtigt. Nicht
ein Aufsatz sollte es sein, der eine große Aufgabe erschöpfend behandelte, allen¬
falls gelesen und dann weggelegt würde; der Stoff sollte uur angeschnitten
werden, lind diese Ausführungen wollen nur zu weitern Erörterungen für und
Wider anregen. Für mehr ist es noch nicht an der Zeit. Kommt sie aber,
so mögen Berufnere die große Frage von Grund aus zum Besten Deutsch¬
R- et- v. lands lösen.




Deutsche Rechtsaltertümer in unsrer heutigen
deutschen Sprache
L. Günther vonin

> äufig ist der Wortschatz eines Volkes mit einem Spiegel verglichen
worden, worin man die ganze Geschichte seiner Kultur schauen
könne, oder auch mit einem großen Buche, worin die Entwicklung
des gesamten Volkslebens von den frühesten Anfangen bis zu
den Stufen höchster Vollendung eingetragen sei. Für kein Volk
! aber erscheinen diese Vergleiche zutreffender als für uns Deutsche.
Denn gerade in unsrer Muttersprache haben fast alle wichtigern Stadien der
Kulturentwicklung erkennbare Spuren zurückgelassen, sodaß sogar der modernste
Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts noch täglich Redewendungen gebrauchen
kann, deren -- heute freilich meist längst vergeßner -- Ursprung auf das "finstre
Mittelalter," ja vielleicht gar auf die halbmythische germanische Urzeit zurückgeht,
die uns der Römer Taeitus in seiner "Germania" schildert.

Diese große Masse alten Kulturguts, das unsre Sprache noch in der Gegen¬
wart mit sich führt, gehört sachlich fast allen Arten menschlicher Tätigkeit an, den


Grenzboten IN 1903 12
Deutsche Rechtsaltertiuner in unsrer heutigen deutschen Sprache

Waldeck und die beiden Reuß aus ihren Wahlkreisen keinen einzigen Staats¬
angehörigen in den Reichstag. Steht da nicht das Recht der Entsendung von
wenigstens einem Abgeordneten seinein Sinne nach wirklich nur auf dem Pa¬
piere? Und weiter: die beiden Reuß, die Hansestädte Hamburg und Lübeck,
als Staaten sowohl wie auch in den besten Teilen der Bevölkerung, wurden
sie sich nicht dagegen verwahren, wenn man schließen wollte, daß sie mit ihren
sozialdemokratischen Abgeordneten die gesetzmäßige Sondervertretung im Reichs¬
tage in gebührender Weise hätten? Die Rechte der Staaten werden im Bundes¬
rat vertreten; die Rechte der Staatsbürger aber sind bei dein bestehenden Wahl¬
recht wohl schwerlich so gewahrt, daß eine Änderung des Wahlrechts in dem
angeregten Sinne einen Eingriff in die Rechte der Vnndesstcmten bedeuten
könnte. Im Gegenteil, gerade einem Staate wie Hamburg oder Lübeck würde
ein neues Wahlrecht erst die ihm gebührende Stellung im Reichstag schaffen,
und auch dann mehr als jetzt, wenn etwa einmal unter den Vertretern des
Seehandels und der Seeleute gar keine Hamburger oder Lübecker, sondern nur
Bremer oder Stettiner sein sollten.

Man wird den vorstehenden Ausführungen gewiß den Vorwurf macheu
können, daß sie eine der schwierigsten Fragen der Politik in allzu springender
Kürze abtun und eine unendliche Menge von Fragen veranlassen, ohne zu
ihrer Lösung beizutragen. Mehr war aber auch gar nicht beabsichtigt. Nicht
ein Aufsatz sollte es sein, der eine große Aufgabe erschöpfend behandelte, allen¬
falls gelesen und dann weggelegt würde; der Stoff sollte uur angeschnitten
werden, lind diese Ausführungen wollen nur zu weitern Erörterungen für und
Wider anregen. Für mehr ist es noch nicht an der Zeit. Kommt sie aber,
so mögen Berufnere die große Frage von Grund aus zum Besten Deutsch¬
R- et- v. lands lösen.




Deutsche Rechtsaltertümer in unsrer heutigen
deutschen Sprache
L. Günther vonin

> äufig ist der Wortschatz eines Volkes mit einem Spiegel verglichen
worden, worin man die ganze Geschichte seiner Kultur schauen
könne, oder auch mit einem großen Buche, worin die Entwicklung
des gesamten Volkslebens von den frühesten Anfangen bis zu
den Stufen höchster Vollendung eingetragen sei. Für kein Volk
! aber erscheinen diese Vergleiche zutreffender als für uns Deutsche.
Denn gerade in unsrer Muttersprache haben fast alle wichtigern Stadien der
Kulturentwicklung erkennbare Spuren zurückgelassen, sodaß sogar der modernste
Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts noch täglich Redewendungen gebrauchen
kann, deren — heute freilich meist längst vergeßner — Ursprung auf das „finstre
Mittelalter," ja vielleicht gar auf die halbmythische germanische Urzeit zurückgeht,
die uns der Römer Taeitus in seiner „Germania" schildert.

Diese große Masse alten Kulturguts, das unsre Sprache noch in der Gegen¬
wart mit sich führt, gehört sachlich fast allen Arten menschlicher Tätigkeit an, den


Grenzboten IN 1903 12
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0097" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/241311"/>
          <fw type="header" place="top"> Deutsche Rechtsaltertiuner in unsrer heutigen deutschen Sprache</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_418" prev="#ID_417"> Waldeck und die beiden Reuß aus ihren Wahlkreisen keinen einzigen Staats¬<lb/>
angehörigen in den Reichstag. Steht da nicht das Recht der Entsendung von<lb/>
wenigstens einem Abgeordneten seinein Sinne nach wirklich nur auf dem Pa¬<lb/>
piere? Und weiter: die beiden Reuß, die Hansestädte Hamburg und Lübeck,<lb/>
als Staaten sowohl wie auch in den besten Teilen der Bevölkerung, wurden<lb/>
sie sich nicht dagegen verwahren, wenn man schließen wollte, daß sie mit ihren<lb/>
sozialdemokratischen Abgeordneten die gesetzmäßige Sondervertretung im Reichs¬<lb/>
tage in gebührender Weise hätten? Die Rechte der Staaten werden im Bundes¬<lb/>
rat vertreten; die Rechte der Staatsbürger aber sind bei dein bestehenden Wahl¬<lb/>
recht wohl schwerlich so gewahrt, daß eine Änderung des Wahlrechts in dem<lb/>
angeregten Sinne einen Eingriff in die Rechte der Vnndesstcmten bedeuten<lb/>
könnte. Im Gegenteil, gerade einem Staate wie Hamburg oder Lübeck würde<lb/>
ein neues Wahlrecht erst die ihm gebührende Stellung im Reichstag schaffen,<lb/>
und auch dann mehr als jetzt, wenn etwa einmal unter den Vertretern des<lb/>
Seehandels und der Seeleute gar keine Hamburger oder Lübecker, sondern nur<lb/>
Bremer oder Stettiner sein sollten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_419"> Man wird den vorstehenden Ausführungen gewiß den Vorwurf macheu<lb/>
können, daß sie eine der schwierigsten Fragen der Politik in allzu springender<lb/>
Kürze abtun und eine unendliche Menge von Fragen veranlassen, ohne zu<lb/>
ihrer Lösung beizutragen. Mehr war aber auch gar nicht beabsichtigt. Nicht<lb/>
ein Aufsatz sollte es sein, der eine große Aufgabe erschöpfend behandelte, allen¬<lb/>
falls gelesen und dann weggelegt würde; der Stoff sollte uur angeschnitten<lb/>
werden, lind diese Ausführungen wollen nur zu weitern Erörterungen für und<lb/>
Wider anregen. Für mehr ist es noch nicht an der Zeit. Kommt sie aber,<lb/>
so mögen Berufnere die große Frage von Grund aus zum Besten Deutsch¬<lb/><note type="byline"> R- et- v.</note> lands lösen. </p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Deutsche Rechtsaltertümer in unsrer heutigen<lb/>
deutschen Sprache<lb/><note type="byline"> L. Günther </note> vonin</head><lb/>
          <p xml:id="ID_420"> &gt; äufig ist der Wortschatz eines Volkes mit einem Spiegel verglichen<lb/>
worden, worin man die ganze Geschichte seiner Kultur schauen<lb/>
könne, oder auch mit einem großen Buche, worin die Entwicklung<lb/>
des gesamten Volkslebens von den frühesten Anfangen bis zu<lb/>
den Stufen höchster Vollendung eingetragen sei. Für kein Volk<lb/>
! aber erscheinen diese Vergleiche zutreffender als für uns Deutsche.<lb/>
Denn gerade in unsrer Muttersprache haben fast alle wichtigern Stadien der<lb/>
Kulturentwicklung erkennbare Spuren zurückgelassen, sodaß sogar der modernste<lb/>
Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts noch täglich Redewendungen gebrauchen<lb/>
kann, deren &#x2014; heute freilich meist längst vergeßner &#x2014; Ursprung auf das &#x201E;finstre<lb/>
Mittelalter," ja vielleicht gar auf die halbmythische germanische Urzeit zurückgeht,<lb/>
die uns der Römer Taeitus in seiner &#x201E;Germania" schildert.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_421" next="#ID_422"> Diese große Masse alten Kulturguts, das unsre Sprache noch in der Gegen¬<lb/>
wart mit sich führt, gehört sachlich fast allen Arten menschlicher Tätigkeit an, den</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IN 1903 12</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0097] Deutsche Rechtsaltertiuner in unsrer heutigen deutschen Sprache Waldeck und die beiden Reuß aus ihren Wahlkreisen keinen einzigen Staats¬ angehörigen in den Reichstag. Steht da nicht das Recht der Entsendung von wenigstens einem Abgeordneten seinein Sinne nach wirklich nur auf dem Pa¬ piere? Und weiter: die beiden Reuß, die Hansestädte Hamburg und Lübeck, als Staaten sowohl wie auch in den besten Teilen der Bevölkerung, wurden sie sich nicht dagegen verwahren, wenn man schließen wollte, daß sie mit ihren sozialdemokratischen Abgeordneten die gesetzmäßige Sondervertretung im Reichs¬ tage in gebührender Weise hätten? Die Rechte der Staaten werden im Bundes¬ rat vertreten; die Rechte der Staatsbürger aber sind bei dein bestehenden Wahl¬ recht wohl schwerlich so gewahrt, daß eine Änderung des Wahlrechts in dem angeregten Sinne einen Eingriff in die Rechte der Vnndesstcmten bedeuten könnte. Im Gegenteil, gerade einem Staate wie Hamburg oder Lübeck würde ein neues Wahlrecht erst die ihm gebührende Stellung im Reichstag schaffen, und auch dann mehr als jetzt, wenn etwa einmal unter den Vertretern des Seehandels und der Seeleute gar keine Hamburger oder Lübecker, sondern nur Bremer oder Stettiner sein sollten. Man wird den vorstehenden Ausführungen gewiß den Vorwurf macheu können, daß sie eine der schwierigsten Fragen der Politik in allzu springender Kürze abtun und eine unendliche Menge von Fragen veranlassen, ohne zu ihrer Lösung beizutragen. Mehr war aber auch gar nicht beabsichtigt. Nicht ein Aufsatz sollte es sein, der eine große Aufgabe erschöpfend behandelte, allen¬ falls gelesen und dann weggelegt würde; der Stoff sollte uur angeschnitten werden, lind diese Ausführungen wollen nur zu weitern Erörterungen für und Wider anregen. Für mehr ist es noch nicht an der Zeit. Kommt sie aber, so mögen Berufnere die große Frage von Grund aus zum Besten Deutsch¬ R- et- v. lands lösen. Deutsche Rechtsaltertümer in unsrer heutigen deutschen Sprache L. Günther vonin > äufig ist der Wortschatz eines Volkes mit einem Spiegel verglichen worden, worin man die ganze Geschichte seiner Kultur schauen könne, oder auch mit einem großen Buche, worin die Entwicklung des gesamten Volkslebens von den frühesten Anfangen bis zu den Stufen höchster Vollendung eingetragen sei. Für kein Volk ! aber erscheinen diese Vergleiche zutreffender als für uns Deutsche. Denn gerade in unsrer Muttersprache haben fast alle wichtigern Stadien der Kulturentwicklung erkennbare Spuren zurückgelassen, sodaß sogar der modernste Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts noch täglich Redewendungen gebrauchen kann, deren — heute freilich meist längst vergeßner — Ursprung auf das „finstre Mittelalter," ja vielleicht gar auf die halbmythische germanische Urzeit zurückgeht, die uns der Römer Taeitus in seiner „Germania" schildert. Diese große Masse alten Kulturguts, das unsre Sprache noch in der Gegen¬ wart mit sich führt, gehört sachlich fast allen Arten menschlicher Tätigkeit an, den Grenzboten IN 1903 12

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/97
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/97>, abgerufen am 31.08.2024.