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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Uunstbetrachtungen

Mutter "als Trost und Zerstreuung in ihrem hohen Alter" gewidmet. Denn
wenn Italien wieder eine Nation geworden ist, so haben daran die italienischen
Mütter einen hervorragenden Anteil,




Kunstbetrachtungen
(Schluß)

ehr lebendig und manchmal mit einer gewissen Erregung schreibt
Fritz Wolfs über "Verantwortung und Kunstkritik" (Leipzig,
Diederichs), "Noch in der Korrespondenz mit dem Verleger
nannte ich das Vorliegende ein Sendschreiben an die deutsche
Kunstkritik. An wen soll man es richten? Es gibt keine deutsche
Kunstkritik, von der zu sprechen wäre. Deutsche Kunstkritik ist ein leerer Be-
gnff, die euphemistische Bezeichnung für das wirre Gemenge einer Anzahl guter
und einer Anzahl schlechter Köpfe" usw. Wir nehmen an, daß der Verfasser
!us zu den guten rechnet. Er bekennt sich als Schüler zu Mulder und
wendet sich gegen nachahmende Nachfolger, die sich ebenfalls für dessen Schüler
ausgeben und deren Zahl unübersehbar groß sei, aber er nennt keinen Namen,
und wir sind so aufrichtig, zu bekennen, daß wir nicht wissen, gegen wen seine
Ausführungen, die übrigens viel treffendes enthalten, gerichtet sind. Ob Leistung
oder Stellung ihn zu der scharfen Tonart berechtigen, können wir ebenfalls
u>ehe sagen. Die Vorrede ist von Alt-Anssee datiert, das uns in diesem
Zusammenhang noch nicht vorgekommen ist.

Ein ungemein interessantes, ja bedeutendes kleines Buch siud die im
Verlage vou Heitz in Strnßburg erschienenen Briefe des 1896 gestorbnen
Kopenhagner Knnsthistorikers Julius Lange; sie enthalten in der schlichtesten
Form eine Menge kluger und eigentümlicher Gedanken. Was er gelegentlich
einem Freunde, der sich auf eine italienische Reise vorbereitet, schreibt: "Ein
Mann mit Ihrer lateinischen und griechischen Bildung wird zweifelsohne Recht
haben, die Dinge viel mehr nach seinem eignen Kopf zu betrachten, als er
anfänglich selbst' geneigt ist, weil es über alles gedruckte Ansichten gibt,"
das kann als seine eigne Charakteristik genommen werden. Aus deu engen
Verhältnissen seines kleinen Landes heraus hat er sich durch Reisen und
jahrelanges Nachdenken zu einer völlig selbständigen Auffassung der Kunst
durchgearbeitet, und erst ganz spät hat er einzelne reife Arbeiten veröffentlicht,
^ V. eine Kunstgeschichte der menschlichen Gestalt, im übrigen aber die Fülle
seines Wissens Freunden und Fachgenossen mündlich mitgeteilt. Ein seltner
Mann in unsrer literarisch überproduktiven Zeit. Er halt nicht viel von den
Leuten, die den spekulativ ästhetischen Weg gegangen sind, sie sind allzu künst-
uch und allzu literarisch; er ist nicht sehr geneigt, den Eindruck und die
Veobachtuugen aufzugeben, die er auf gesetzliche Art durch eine ordentliche
Betrachtung des Originals gewonnen hat, obwohl er sich natürlich überzeugen


Uunstbetrachtungen

Mutter „als Trost und Zerstreuung in ihrem hohen Alter" gewidmet. Denn
wenn Italien wieder eine Nation geworden ist, so haben daran die italienischen
Mütter einen hervorragenden Anteil,




Kunstbetrachtungen
(Schluß)

ehr lebendig und manchmal mit einer gewissen Erregung schreibt
Fritz Wolfs über „Verantwortung und Kunstkritik" (Leipzig,
Diederichs), „Noch in der Korrespondenz mit dem Verleger
nannte ich das Vorliegende ein Sendschreiben an die deutsche
Kunstkritik. An wen soll man es richten? Es gibt keine deutsche
Kunstkritik, von der zu sprechen wäre. Deutsche Kunstkritik ist ein leerer Be-
gnff, die euphemistische Bezeichnung für das wirre Gemenge einer Anzahl guter
und einer Anzahl schlechter Köpfe" usw. Wir nehmen an, daß der Verfasser
!us zu den guten rechnet. Er bekennt sich als Schüler zu Mulder und
wendet sich gegen nachahmende Nachfolger, die sich ebenfalls für dessen Schüler
ausgeben und deren Zahl unübersehbar groß sei, aber er nennt keinen Namen,
und wir sind so aufrichtig, zu bekennen, daß wir nicht wissen, gegen wen seine
Ausführungen, die übrigens viel treffendes enthalten, gerichtet sind. Ob Leistung
oder Stellung ihn zu der scharfen Tonart berechtigen, können wir ebenfalls
u>ehe sagen. Die Vorrede ist von Alt-Anssee datiert, das uns in diesem
Zusammenhang noch nicht vorgekommen ist.

Ein ungemein interessantes, ja bedeutendes kleines Buch siud die im
Verlage vou Heitz in Strnßburg erschienenen Briefe des 1896 gestorbnen
Kopenhagner Knnsthistorikers Julius Lange; sie enthalten in der schlichtesten
Form eine Menge kluger und eigentümlicher Gedanken. Was er gelegentlich
einem Freunde, der sich auf eine italienische Reise vorbereitet, schreibt: „Ein
Mann mit Ihrer lateinischen und griechischen Bildung wird zweifelsohne Recht
haben, die Dinge viel mehr nach seinem eignen Kopf zu betrachten, als er
anfänglich selbst' geneigt ist, weil es über alles gedruckte Ansichten gibt,"
das kann als seine eigne Charakteristik genommen werden. Aus deu engen
Verhältnissen seines kleinen Landes heraus hat er sich durch Reisen und
jahrelanges Nachdenken zu einer völlig selbständigen Auffassung der Kunst
durchgearbeitet, und erst ganz spät hat er einzelne reife Arbeiten veröffentlicht,
^ V. eine Kunstgeschichte der menschlichen Gestalt, im übrigen aber die Fülle
seines Wissens Freunden und Fachgenossen mündlich mitgeteilt. Ein seltner
Mann in unsrer literarisch überproduktiven Zeit. Er halt nicht viel von den
Leuten, die den spekulativ ästhetischen Weg gegangen sind, sie sind allzu künst-
uch und allzu literarisch; er ist nicht sehr geneigt, den Eindruck und die
Veobachtuugen aufzugeben, die er auf gesetzliche Art durch eine ordentliche
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[0789] Uunstbetrachtungen Mutter „als Trost und Zerstreuung in ihrem hohen Alter" gewidmet. Denn wenn Italien wieder eine Nation geworden ist, so haben daran die italienischen Mütter einen hervorragenden Anteil, Kunstbetrachtungen (Schluß) ehr lebendig und manchmal mit einer gewissen Erregung schreibt Fritz Wolfs über „Verantwortung und Kunstkritik" (Leipzig, Diederichs), „Noch in der Korrespondenz mit dem Verleger nannte ich das Vorliegende ein Sendschreiben an die deutsche Kunstkritik. An wen soll man es richten? Es gibt keine deutsche Kunstkritik, von der zu sprechen wäre. Deutsche Kunstkritik ist ein leerer Be- gnff, die euphemistische Bezeichnung für das wirre Gemenge einer Anzahl guter und einer Anzahl schlechter Köpfe" usw. Wir nehmen an, daß der Verfasser !us zu den guten rechnet. Er bekennt sich als Schüler zu Mulder und wendet sich gegen nachahmende Nachfolger, die sich ebenfalls für dessen Schüler ausgeben und deren Zahl unübersehbar groß sei, aber er nennt keinen Namen, und wir sind so aufrichtig, zu bekennen, daß wir nicht wissen, gegen wen seine Ausführungen, die übrigens viel treffendes enthalten, gerichtet sind. Ob Leistung oder Stellung ihn zu der scharfen Tonart berechtigen, können wir ebenfalls u>ehe sagen. Die Vorrede ist von Alt-Anssee datiert, das uns in diesem Zusammenhang noch nicht vorgekommen ist. Ein ungemein interessantes, ja bedeutendes kleines Buch siud die im Verlage vou Heitz in Strnßburg erschienenen Briefe des 1896 gestorbnen Kopenhagner Knnsthistorikers Julius Lange; sie enthalten in der schlichtesten Form eine Menge kluger und eigentümlicher Gedanken. Was er gelegentlich einem Freunde, der sich auf eine italienische Reise vorbereitet, schreibt: „Ein Mann mit Ihrer lateinischen und griechischen Bildung wird zweifelsohne Recht haben, die Dinge viel mehr nach seinem eignen Kopf zu betrachten, als er anfänglich selbst' geneigt ist, weil es über alles gedruckte Ansichten gibt," das kann als seine eigne Charakteristik genommen werden. Aus deu engen Verhältnissen seines kleinen Landes heraus hat er sich durch Reisen und jahrelanges Nachdenken zu einer völlig selbständigen Auffassung der Kunst durchgearbeitet, und erst ganz spät hat er einzelne reife Arbeiten veröffentlicht, ^ V. eine Kunstgeschichte der menschlichen Gestalt, im übrigen aber die Fülle seines Wissens Freunden und Fachgenossen mündlich mitgeteilt. Ein seltner Mann in unsrer literarisch überproduktiven Zeit. Er halt nicht viel von den Leuten, die den spekulativ ästhetischen Weg gegangen sind, sie sind allzu künst- uch und allzu literarisch; er ist nicht sehr geneigt, den Eindruck und die Veobachtuugen aufzugeben, die er auf gesetzliche Art durch eine ordentliche Betrachtung des Originals gewonnen hat, obwohl er sich natürlich überzeugen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/789>, abgerufen am 24.08.2024.