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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Soziologie, Politik, Moral, Religion und nicht am wenigsten über die Dichtung.
War es früher so gewesen, daß die Forscher Dichter waren, so wurde es nun
umgekehrt so, daß die Dichter Forscher wurden.

Björnstjerne Björnson fühlte schon als zwciundzwanzigjnhriger Student
den Zeitgeist, als er 1855 in einer norwegischen Zeitung schrieb: "Von allen
Seiten dringt man tiefer in die Natur ein, von der Wissenschaft wie von der
Kunst: man sucht ihre kleinste" Züge auf, man zergliedert und untersucht und
beschreibt und porträtiert die kleinste Blume, deu kleinsten Wurm. Es ist die
Aufgabe unsrer Zeit hervorzusuchen, es wird die einer andern sein zu ordnen.
Und in der Kunst zeigt sich dieser Naturalismus des Zeitgeistes darin, daß
man mehr nach Wahrheit als nach Schönheit strebt."

"Es ist die Aufgabe unsrer Zeit hervorzusuchen, es wird die einer andern
sein zu ordnen." Man sieht, wir stoßen wieder auf den Lumpensammler, dieses-
mal bei einem Poeten. Und ans spätern Zeiten, als das Wort Naturalismus ein
europäisches Schlagwort geworden war, kann man ohne Schwierigkeit Bände
von Äußerungen anführen, die mehr oder weniger deutlich von der Neigung
der Literatur zu wissenschaftlicher Exaktheit Zeugnis ablegen. Nous autre8
Ul>.or!>,1i8t<Z8, nous nommös 6<z Miönvö, sagt Zola ohne Umschweif von sich und
andern Schriftstellern. Man kann keinen Roman, kein Drama aus der Zeit
von 18"0 bis 1890 lesen, ohne auf diese Tendenz zu stoßen, und man kann
sich keine Vorstellung von dem Wesen der europäischen Literatur in dieser Zeit
machen, ohne mit ihr zu rechnen; ich meine selbstverständlich nicht, daß sie der
einzige Zug wäre -- und ich weiß uicht einmal, ob sie der wichtigste ist; aber
sie ist jedenfalls einer unter vielen andern und ohne Zweifel so wesentlich,
daß sie eine spezielle Untersuchung verdient. Ich will mich hier hauptsächlich
auf allgemeine Betrachtungen beschränken über die verschiednen Wege, auf denen
die Wissenschaft in dein erwähnten Zeitraum die Literatur beeinflußt hat. Die Bei¬
spiele werde ich fast ausschließlich aus der französischen Literatur nehmen, teils
damit die Darstellung nicht zu zerstreut werde, teils auch weil die Richtung
hier ihre deutlichsten Formen gefunden hat.

1

Am auffallendsten erscheint der Einfluß der Wissenschaft auf die Literatur
in der Stoffwahl der Schriftsteller. Überall finden wir hier denselben cutis
co kind wie in der Wissenschaft wieder. Während der Romantiker sowohl in
der Wahl wie in der Behandlung der Stoffe kraft seiner Phantasie souverän
ist. ist der naturalistische Dichter dagegen ganz und gar an die Tatsachen ge¬
bunden. Friedrich Schlegel hatte als Lehre aufgestellt, die Willkür sei das
einzige Gesetz des Dichters, und die Romantiker schufen danach ihre Helden,
die ihren Ursprung in dem Gehirn der Dichter hatten, und die sich an Orten
und in Zeiten bewegten, die es nicht gab; es konnte ziemlich gleichgiltig sein,
"b sie von Persien oder von Arabien, vom Mittelalter oder vom Altertum
sprachen; denn es war in der Tat immer wie in der Hamadryade des dänischen
Dichters C. Hauch, wo die Szeueuaugabc einfach lautet: "Zeit und Ort un¬
bestimmt." Ganz folgerichtig nach der Schlegelschcn Maxime meinte denn auch


Soziologie, Politik, Moral, Religion und nicht am wenigsten über die Dichtung.
War es früher so gewesen, daß die Forscher Dichter waren, so wurde es nun
umgekehrt so, daß die Dichter Forscher wurden.

Björnstjerne Björnson fühlte schon als zwciundzwanzigjnhriger Student
den Zeitgeist, als er 1855 in einer norwegischen Zeitung schrieb: „Von allen
Seiten dringt man tiefer in die Natur ein, von der Wissenschaft wie von der
Kunst: man sucht ihre kleinste» Züge auf, man zergliedert und untersucht und
beschreibt und porträtiert die kleinste Blume, deu kleinsten Wurm. Es ist die
Aufgabe unsrer Zeit hervorzusuchen, es wird die einer andern sein zu ordnen.
Und in der Kunst zeigt sich dieser Naturalismus des Zeitgeistes darin, daß
man mehr nach Wahrheit als nach Schönheit strebt."

„Es ist die Aufgabe unsrer Zeit hervorzusuchen, es wird die einer andern
sein zu ordnen." Man sieht, wir stoßen wieder auf den Lumpensammler, dieses-
mal bei einem Poeten. Und ans spätern Zeiten, als das Wort Naturalismus ein
europäisches Schlagwort geworden war, kann man ohne Schwierigkeit Bände
von Äußerungen anführen, die mehr oder weniger deutlich von der Neigung
der Literatur zu wissenschaftlicher Exaktheit Zeugnis ablegen. Nous autre8
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andern Schriftstellern. Man kann keinen Roman, kein Drama aus der Zeit
von 18«0 bis 1890 lesen, ohne auf diese Tendenz zu stoßen, und man kann
sich keine Vorstellung von dem Wesen der europäischen Literatur in dieser Zeit
machen, ohne mit ihr zu rechnen; ich meine selbstverständlich nicht, daß sie der
einzige Zug wäre — und ich weiß uicht einmal, ob sie der wichtigste ist; aber
sie ist jedenfalls einer unter vielen andern und ohne Zweifel so wesentlich,
daß sie eine spezielle Untersuchung verdient. Ich will mich hier hauptsächlich
auf allgemeine Betrachtungen beschränken über die verschiednen Wege, auf denen
die Wissenschaft in dein erwähnten Zeitraum die Literatur beeinflußt hat. Die Bei¬
spiele werde ich fast ausschließlich aus der französischen Literatur nehmen, teils
damit die Darstellung nicht zu zerstreut werde, teils auch weil die Richtung
hier ihre deutlichsten Formen gefunden hat.

1

Am auffallendsten erscheint der Einfluß der Wissenschaft auf die Literatur
in der Stoffwahl der Schriftsteller. Überall finden wir hier denselben cutis
co kind wie in der Wissenschaft wieder. Während der Romantiker sowohl in
der Wahl wie in der Behandlung der Stoffe kraft seiner Phantasie souverän
ist. ist der naturalistische Dichter dagegen ganz und gar an die Tatsachen ge¬
bunden. Friedrich Schlegel hatte als Lehre aufgestellt, die Willkür sei das
einzige Gesetz des Dichters, und die Romantiker schufen danach ihre Helden,
die ihren Ursprung in dem Gehirn der Dichter hatten, und die sich an Orten
und in Zeiten bewegten, die es nicht gab; es konnte ziemlich gleichgiltig sein,
"b sie von Persien oder von Arabien, vom Mittelalter oder vom Altertum
sprachen; denn es war in der Tat immer wie in der Hamadryade des dänischen
Dichters C. Hauch, wo die Szeueuaugabc einfach lautet: „Zeit und Ort un¬
bestimmt." Ganz folgerichtig nach der Schlegelschcn Maxime meinte denn auch


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[0211] Soziologie, Politik, Moral, Religion und nicht am wenigsten über die Dichtung. War es früher so gewesen, daß die Forscher Dichter waren, so wurde es nun umgekehrt so, daß die Dichter Forscher wurden. Björnstjerne Björnson fühlte schon als zwciundzwanzigjnhriger Student den Zeitgeist, als er 1855 in einer norwegischen Zeitung schrieb: „Von allen Seiten dringt man tiefer in die Natur ein, von der Wissenschaft wie von der Kunst: man sucht ihre kleinste» Züge auf, man zergliedert und untersucht und beschreibt und porträtiert die kleinste Blume, deu kleinsten Wurm. Es ist die Aufgabe unsrer Zeit hervorzusuchen, es wird die einer andern sein zu ordnen. Und in der Kunst zeigt sich dieser Naturalismus des Zeitgeistes darin, daß man mehr nach Wahrheit als nach Schönheit strebt." „Es ist die Aufgabe unsrer Zeit hervorzusuchen, es wird die einer andern sein zu ordnen." Man sieht, wir stoßen wieder auf den Lumpensammler, dieses- mal bei einem Poeten. Und ans spätern Zeiten, als das Wort Naturalismus ein europäisches Schlagwort geworden war, kann man ohne Schwierigkeit Bände von Äußerungen anführen, die mehr oder weniger deutlich von der Neigung der Literatur zu wissenschaftlicher Exaktheit Zeugnis ablegen. Nous autre8 Ul>.or!>,1i8t<Z8, nous nommös 6<z Miönvö, sagt Zola ohne Umschweif von sich und andern Schriftstellern. Man kann keinen Roman, kein Drama aus der Zeit von 18«0 bis 1890 lesen, ohne auf diese Tendenz zu stoßen, und man kann sich keine Vorstellung von dem Wesen der europäischen Literatur in dieser Zeit machen, ohne mit ihr zu rechnen; ich meine selbstverständlich nicht, daß sie der einzige Zug wäre — und ich weiß uicht einmal, ob sie der wichtigste ist; aber sie ist jedenfalls einer unter vielen andern und ohne Zweifel so wesentlich, daß sie eine spezielle Untersuchung verdient. Ich will mich hier hauptsächlich auf allgemeine Betrachtungen beschränken über die verschiednen Wege, auf denen die Wissenschaft in dein erwähnten Zeitraum die Literatur beeinflußt hat. Die Bei¬ spiele werde ich fast ausschließlich aus der französischen Literatur nehmen, teils damit die Darstellung nicht zu zerstreut werde, teils auch weil die Richtung hier ihre deutlichsten Formen gefunden hat. 1 Am auffallendsten erscheint der Einfluß der Wissenschaft auf die Literatur in der Stoffwahl der Schriftsteller. Überall finden wir hier denselben cutis co kind wie in der Wissenschaft wieder. Während der Romantiker sowohl in der Wahl wie in der Behandlung der Stoffe kraft seiner Phantasie souverän ist. ist der naturalistische Dichter dagegen ganz und gar an die Tatsachen ge¬ bunden. Friedrich Schlegel hatte als Lehre aufgestellt, die Willkür sei das einzige Gesetz des Dichters, und die Romantiker schufen danach ihre Helden, die ihren Ursprung in dem Gehirn der Dichter hatten, und die sich an Orten und in Zeiten bewegten, die es nicht gab; es konnte ziemlich gleichgiltig sein, "b sie von Persien oder von Arabien, vom Mittelalter oder vom Altertum sprachen; denn es war in der Tat immer wie in der Hamadryade des dänischen Dichters C. Hauch, wo die Szeueuaugabc einfach lautet: „Zeit und Ort un¬ bestimmt." Ganz folgerichtig nach der Schlegelschcn Maxime meinte denn auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/211>, abgerufen am 22.07.2024.