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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Leuer!

deren Lieblichkeit gar zu sehr überwog. Da unausgesetzt, auch ohne daß gegen
den einen oder den andern ein eigentliches Verfahren eingeleitet worden wäre, zu
Gericht gesessen wurde, so hatte man recht den Eindruck, es könne freilich am Ende
aller Dinge auch zu nichts anderen kommen als zu einem Gericht. Nach einem
Sonntagnnchmittag, den ich in der schönen Villa verbracht hatte, und in dessen
Verlaufe den Anwesenden ohne Unterlaß zu verstehn gegeben worden war, daß
man nicht wert sei, der besonders erwählten und erleuchteten Familie die Schuh¬
riemen zu lösen, wonach man -- bei Lichte gesehen -- eigentlich nicht einmal
geizte, wurde mir der Wunsch klar, es möge, wenn das einzurichten ging, zwei
und zwar gründlich getrennte Paradiese geben, das eine für die besonders er¬
wählten und erleuchteten Familien, das andre für das unverdiente Pack, denn ich
konnte mir nicht anders vorstellen, als daß auch im verklärten Leibe das unaus¬
gesetzte Anstaunen selbstbewußter fremder Vollkommenheit Übersättigung erregen müsse.

Von dem Oheim mit einem Bande Reuter und einer milchweißen Bernstein¬
spitze, die des Großherrn würdig gewesen wäre, freigebig beschenkt und von den
Segenswünschen beider Nadiegedas und der übrigen Familie begleitet, reiste ich
wieder über Stettin ab, und als es mir bei meinem Eintreffen in D......ge¬
lungen war, meine Eltern durch Überreichung meiner Paßkarte davon zu überzeugen,
daß der behäbige rotbäckige Jüngling derselbe Sohn war, den sie blaß und hohl¬
wangig auf die Weide geschickt hatten, beugte ich willig den Nacken von neuem
unter das nicht immer leichte Joch der Wegebau- und andern Administrativjustiz¬
streitigkeiten.




Feuer!
Erinnerung aus dem russischen polizeileben
Alexander Andreas von(Fortsetzung)
14

es hatte noch nicht ausgeschlafen, als der Aufseher schon nach mir
schickte. Ich nahm mir trotzdem die Zeit, mich besuchmäßig anzu¬
kleiden, um auf alle Fälle gerüstet und nicht genötigt zu sein, erst
in meine Wohnung zurückzukehren. Auch gab ich Gercissim Ver¬
haltungsmaßregeln für den ganzen Tag.

Vor der Tür des Stadtteilhauses begegnete ich Jemeljan Afanas-
jewitsch, der eilig wegging. Der Polizeinieistcr habe eben nach ihm geschickt, rief
er mir zu; ich solle auf ihn warten, er komme gleich zurück.

Meine Kollegen waren vollzählig versammelt. Ich sah Prorwin und Ncmirow
heute rin ganz andern Augen an als bisher und drückte ihnen herzlich und auf¬
richtig die Hand. Ich kam mir diesen jungen Leuten gegenüber nach dem, was
ich gestern gesehen hatte, ordentlich klein und erbärmlich vor. Sie hatten sich als
gewaltige Arbeitskräfte erwiesen und waren gewiß auch welche. Sie hätten Be¬
deutendes in der Welt werden und leisten können, wenn -- sie anders erzogen,
in andrer Gesellschaft aufgewachsen und in andre Verhältnisse gesetzt gewesen wären.
Der Kern, der in ihnen steckte, war gut und tüchtig, und wenn aus dem Kerne
kein fruchttragender Baum entstand, sondern eine verkrüppelte, unnütze Pflanze, die
das Auge des Vorübergehenden beleidigte -- o, es wäre eine lange Geschichte,
das Forschen nach den Ursachen, die Tausende und wieder Tausende von herrlich
angelegten jungen Leuten dazu bringen, als Lumpen zu enden! Die Umgebung
hat sie aufgezehrt, sagt ein bekannter Schriftsteller. Nemirvw war heute wieder


Leuer!

deren Lieblichkeit gar zu sehr überwog. Da unausgesetzt, auch ohne daß gegen
den einen oder den andern ein eigentliches Verfahren eingeleitet worden wäre, zu
Gericht gesessen wurde, so hatte man recht den Eindruck, es könne freilich am Ende
aller Dinge auch zu nichts anderen kommen als zu einem Gericht. Nach einem
Sonntagnnchmittag, den ich in der schönen Villa verbracht hatte, und in dessen
Verlaufe den Anwesenden ohne Unterlaß zu verstehn gegeben worden war, daß
man nicht wert sei, der besonders erwählten und erleuchteten Familie die Schuh¬
riemen zu lösen, wonach man — bei Lichte gesehen — eigentlich nicht einmal
geizte, wurde mir der Wunsch klar, es möge, wenn das einzurichten ging, zwei
und zwar gründlich getrennte Paradiese geben, das eine für die besonders er¬
wählten und erleuchteten Familien, das andre für das unverdiente Pack, denn ich
konnte mir nicht anders vorstellen, als daß auch im verklärten Leibe das unaus¬
gesetzte Anstaunen selbstbewußter fremder Vollkommenheit Übersättigung erregen müsse.

Von dem Oheim mit einem Bande Reuter und einer milchweißen Bernstein¬
spitze, die des Großherrn würdig gewesen wäre, freigebig beschenkt und von den
Segenswünschen beider Nadiegedas und der übrigen Familie begleitet, reiste ich
wieder über Stettin ab, und als es mir bei meinem Eintreffen in D......ge¬
lungen war, meine Eltern durch Überreichung meiner Paßkarte davon zu überzeugen,
daß der behäbige rotbäckige Jüngling derselbe Sohn war, den sie blaß und hohl¬
wangig auf die Weide geschickt hatten, beugte ich willig den Nacken von neuem
unter das nicht immer leichte Joch der Wegebau- und andern Administrativjustiz¬
streitigkeiten.




Feuer!
Erinnerung aus dem russischen polizeileben
Alexander Andreas von(Fortsetzung)
14

es hatte noch nicht ausgeschlafen, als der Aufseher schon nach mir
schickte. Ich nahm mir trotzdem die Zeit, mich besuchmäßig anzu¬
kleiden, um auf alle Fälle gerüstet und nicht genötigt zu sein, erst
in meine Wohnung zurückzukehren. Auch gab ich Gercissim Ver¬
haltungsmaßregeln für den ganzen Tag.

Vor der Tür des Stadtteilhauses begegnete ich Jemeljan Afanas-
jewitsch, der eilig wegging. Der Polizeinieistcr habe eben nach ihm geschickt, rief
er mir zu; ich solle auf ihn warten, er komme gleich zurück.

Meine Kollegen waren vollzählig versammelt. Ich sah Prorwin und Ncmirow
heute rin ganz andern Augen an als bisher und drückte ihnen herzlich und auf¬
richtig die Hand. Ich kam mir diesen jungen Leuten gegenüber nach dem, was
ich gestern gesehen hatte, ordentlich klein und erbärmlich vor. Sie hatten sich als
gewaltige Arbeitskräfte erwiesen und waren gewiß auch welche. Sie hätten Be¬
deutendes in der Welt werden und leisten können, wenn — sie anders erzogen,
in andrer Gesellschaft aufgewachsen und in andre Verhältnisse gesetzt gewesen wären.
Der Kern, der in ihnen steckte, war gut und tüchtig, und wenn aus dem Kerne
kein fruchttragender Baum entstand, sondern eine verkrüppelte, unnütze Pflanze, die
das Auge des Vorübergehenden beleidigte — o, es wäre eine lange Geschichte,
das Forschen nach den Ursachen, die Tausende und wieder Tausende von herrlich
angelegten jungen Leuten dazu bringen, als Lumpen zu enden! Die Umgebung
hat sie aufgezehrt, sagt ein bekannter Schriftsteller. Nemirvw war heute wieder


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/740>, abgerufen am 23.11.2024.