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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Die Grenzen des amerikanischen Aufschwungs
Wilhelm von Po lenz von

cum man in Deutschland eine Enquete veranstalten wollte über
die Gefahren, von denen das Vaterland gegenwärtig am meisten
zu befürchten habe, so würde der einzelne Befragte je nach Stand,
Temperament, Partei, Konfession etwa antworten: am geführ-
lichsten seien die Sozialdemokraten, die Jesuiten, die Kapitalisten,
Agrarier, oder als die brennendste Frage erscheine ihm die Judenfrage,
die Mittelstandsfrage, die Frauenfrage, die innere Kolonisation, die Ostmarken-
l^age, die Strafrechtsreform, oder auch die Kanalfrage und der Zolltarif.

Wahrscheinlich würde eine solche Enquete noch viel mehr Antworten
bringen. Die Buntheit dieses Resultats wäre für unsre verwickelten Ver¬
hältnisse charakteristisch. Die Neue Welt keunt nicht annähernd so viele
Fragen, die die Gemüter der Volksfreunde ernsthaft beschäftigen könnten,
^eder sogenannten Frage liegt doch eben eine eingebildete oder eine wirkliche
Gefahr zu Grunde. In Nordamerika nun sind die allgemeinen der ganzen
^ation drohenden Gefahren vielleicht geringer an Zahl, aber sie sind auch
^el wilder und gewaltiger als die bei uns. Es sind keine Schreckgespenster,
le durch Besonnenheit gebannt werden konnten, sondern wirklich brennende
^gegenwärtige Nöte.

>ich meine vor allem die Rassenfrage und sodann die Einwandrerfrage,
^nde stehn miteinander in enger Verbindung. Ihnen gesellt sich der Kinder-
wangel in den höhern Ständen gefahrdrohend für die Rassenqualität hinzu,
nie Stellung für sich haben, obgleich auch sie sich untereinander beeinflussen,
'e Arbeiterfrage, die Agrarfrage, das Anwachsen der Industriezentren und
^ Zusammenballung ungeheurer Vermögen in wenig Händen.

. Das Rassenproblem hat Friedrich Ratzel in seiner "Politischen und Wirt-
^^tsgeographie der Vereinigten Staaten von Amerika" in unübertrefflicher
^else behandelt, und er hat damit eine Lücke, die der Engländer James
<M)ce in seinem großen Werke IKs ^insrioan OvNuuonvöaltu offen gelassen
hatte, glücklich ausgefüllt.

Ratzel sah vor zehn Jahren in dem Vorhandensein von sieben und einer


Grenzvoten I 1903 80


Die Grenzen des amerikanischen Aufschwungs
Wilhelm von Po lenz von

cum man in Deutschland eine Enquete veranstalten wollte über
die Gefahren, von denen das Vaterland gegenwärtig am meisten
zu befürchten habe, so würde der einzelne Befragte je nach Stand,
Temperament, Partei, Konfession etwa antworten: am geführ-
lichsten seien die Sozialdemokraten, die Jesuiten, die Kapitalisten,
Agrarier, oder als die brennendste Frage erscheine ihm die Judenfrage,
die Mittelstandsfrage, die Frauenfrage, die innere Kolonisation, die Ostmarken-
l^age, die Strafrechtsreform, oder auch die Kanalfrage und der Zolltarif.

Wahrscheinlich würde eine solche Enquete noch viel mehr Antworten
bringen. Die Buntheit dieses Resultats wäre für unsre verwickelten Ver¬
hältnisse charakteristisch. Die Neue Welt keunt nicht annähernd so viele
Fragen, die die Gemüter der Volksfreunde ernsthaft beschäftigen könnten,
^eder sogenannten Frage liegt doch eben eine eingebildete oder eine wirkliche
Gefahr zu Grunde. In Nordamerika nun sind die allgemeinen der ganzen
^ation drohenden Gefahren vielleicht geringer an Zahl, aber sie sind auch
^el wilder und gewaltiger als die bei uns. Es sind keine Schreckgespenster,
le durch Besonnenheit gebannt werden konnten, sondern wirklich brennende
^gegenwärtige Nöte.

>ich meine vor allem die Rassenfrage und sodann die Einwandrerfrage,
^nde stehn miteinander in enger Verbindung. Ihnen gesellt sich der Kinder-
wangel in den höhern Ständen gefahrdrohend für die Rassenqualität hinzu,
nie Stellung für sich haben, obgleich auch sie sich untereinander beeinflussen,
'e Arbeiterfrage, die Agrarfrage, das Anwachsen der Industriezentren und
^ Zusammenballung ungeheurer Vermögen in wenig Händen.

. Das Rassenproblem hat Friedrich Ratzel in seiner „Politischen und Wirt-
^^tsgeographie der Vereinigten Staaten von Amerika" in unübertrefflicher
^else behandelt, und er hat damit eine Lücke, die der Engländer James
<M)ce in seinem großen Werke IKs ^insrioan OvNuuonvöaltu offen gelassen
hatte, glücklich ausgefüllt.

Ratzel sah vor zehn Jahren in dem Vorhandensein von sieben und einer


Grenzvoten I 1903 80
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[0633] [Abbildung] Die Grenzen des amerikanischen Aufschwungs Wilhelm von Po lenz von cum man in Deutschland eine Enquete veranstalten wollte über die Gefahren, von denen das Vaterland gegenwärtig am meisten zu befürchten habe, so würde der einzelne Befragte je nach Stand, Temperament, Partei, Konfession etwa antworten: am geführ- lichsten seien die Sozialdemokraten, die Jesuiten, die Kapitalisten, Agrarier, oder als die brennendste Frage erscheine ihm die Judenfrage, die Mittelstandsfrage, die Frauenfrage, die innere Kolonisation, die Ostmarken- l^age, die Strafrechtsreform, oder auch die Kanalfrage und der Zolltarif. Wahrscheinlich würde eine solche Enquete noch viel mehr Antworten bringen. Die Buntheit dieses Resultats wäre für unsre verwickelten Ver¬ hältnisse charakteristisch. Die Neue Welt keunt nicht annähernd so viele Fragen, die die Gemüter der Volksfreunde ernsthaft beschäftigen könnten, ^eder sogenannten Frage liegt doch eben eine eingebildete oder eine wirkliche Gefahr zu Grunde. In Nordamerika nun sind die allgemeinen der ganzen ^ation drohenden Gefahren vielleicht geringer an Zahl, aber sie sind auch ^el wilder und gewaltiger als die bei uns. Es sind keine Schreckgespenster, le durch Besonnenheit gebannt werden konnten, sondern wirklich brennende ^gegenwärtige Nöte. >ich meine vor allem die Rassenfrage und sodann die Einwandrerfrage, ^nde stehn miteinander in enger Verbindung. Ihnen gesellt sich der Kinder- wangel in den höhern Ständen gefahrdrohend für die Rassenqualität hinzu, nie Stellung für sich haben, obgleich auch sie sich untereinander beeinflussen, 'e Arbeiterfrage, die Agrarfrage, das Anwachsen der Industriezentren und ^ Zusammenballung ungeheurer Vermögen in wenig Händen. . Das Rassenproblem hat Friedrich Ratzel in seiner „Politischen und Wirt- ^^tsgeographie der Vereinigten Staaten von Amerika" in unübertrefflicher ^else behandelt, und er hat damit eine Lücke, die der Engländer James <M)ce in seinem großen Werke IKs ^insrioan OvNuuonvöaltu offen gelassen hatte, glücklich ausgefüllt. Ratzel sah vor zehn Jahren in dem Vorhandensein von sieben und einer Grenzvoten I 1903 80

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/633>, abgerufen am 01.09.2024.