Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Die Entlassung des bayrischen Ministerpräsidenten Grafen Crails- heim. Dieses politische Ereignis hat eine Anzahl von Gerüchten über Intriguen Die neue Politik, die Graf Crailsheim einleiten wollte, litt an einem großen Maßgebliches und Unmaßgebliches Die Entlassung des bayrischen Ministerpräsidenten Grafen Crails- heim. Dieses politische Ereignis hat eine Anzahl von Gerüchten über Intriguen Die neue Politik, die Graf Crailsheim einleiten wollte, litt an einem großen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0628" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/240184"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> </div> <div n="2"> <head> Die Entlassung des bayrischen Ministerpräsidenten Grafen Crails-</head><lb/> </div> <div n="2"> <head> heim.</head> <p xml:id="ID_3432"> Dieses politische Ereignis hat eine Anzahl von Gerüchten über Intriguen<lb/> und den Einfluß fürstlicher Damen gezeitigt. Einer solchen Mythenbildung muß<lb/> aber beizeiten vorgebeugt werden, denn Graf Crailsheim ist aus eignem Ver¬<lb/> schulden gefallen. Er hatte seit geraumer Zeit nicht mehr das volle Vertrauen<lb/> des Prinzregenten. Persönlich beliebt, wie der nunmehrige Ministerpräsident Baron<lb/> Podewils, war der kühle Graf Crailsheim bei Hofe wohl nie, aber der Regent<lb/> hat die Verdienste des Grafen immer in der wärmsten Weise anerkannt, die<lb/> dieser sich in zweiundzwauzigjtthriger Ministcrschaft erworben hatte, und die ritter¬<lb/> liche Natur des Regenten hat dem Grafen bet dessen Scheiden aus dem Staats¬<lb/> dienste noch besondre Auszeichnungen verliehen. Nun war der Wille des Regenten<lb/> jederzeit auf ein friedliches, einträchtiges Zusammenwirken der Landesangehörigen<lb/> ohne Unterschied der Konfession gerichtet. Diesem Grundsatz entsprechend lenkte<lb/> auch Graf Crailsheim die innere bayrische Politik, seitdem er das Ministerprttsidinm<lb/> führte, aber in der Nachgiebigkeit gegen das Landtagszentrnm mag er im einzelnen<lb/> im Laufe der Jahre zu weit gegangen sein; das Zentrum fühlte keine energische<lb/> Hand mehr, sondern sah nur die stete Nachgiebigkeit, und so wurden seine Forde¬<lb/> rungen immer größer; schließlich erreichte es auch ein in seinem Sinne zngeschnittnes<lb/> Schulgesetz. "Auch dieses Schulgesetz deckte Graf Crailsheim noch; seine anpassungs¬<lb/> fähige Politik, sein Lavieren mit den kleinen Zügen und den großen Konzessionen<lb/> und sein Bestreben, mit dem Zentrum trotz aller Angriffe dieser Partei einen<lb/> nroclus vivsucU herzustellen, reichten bis zum Eintritt der Krise heran. Als die<lb/> erregten Debatten über das Schulgesetz im vorjährigen Landtage stattfanden, der<lb/> Kultusminister v. Landmann fiel, und das Zentrum die Knnstvvrlage ablehnte,<lb/> hatte es der Ministerpräsident noch einmal in der Hand, durch die Auflösung des<lb/> Landtags die Politik in seinem Sinne zu leiten. Die Beseitigung der Zentrnms-<lb/> majorität und die Bildung einer neuen Majorität aus Liberale», Bauerubündlcrn<lb/> und Sozialdemokraten wäre damals möglich gewesen. Heute ist eine solche Majorität<lb/> wohl kaum mehr zu erreichen. Graf Crailsheim hat damals den Ausweg der<lb/> Landtagsanflösung nicht gewählt, jetzt war die Position des Zentrums nach der<lb/> Ablehnung der Kunstvorlage, auch bei Hofe, keineswegs günstig, aber es gewann<lb/> neuen Agitationsstoff durch das Swinemünder Telegramm, und nun wurden die<lb/> Vorstöße gegen das Ministerium Crailsheim fortgesetzt. Der letzte Vorstoß war<lb/> der Parteitag des Zentrums im heurigen Januar. Und nnn machte der bisher<lb/> immer nachgiebige Ministerpräsident eine Schwenkung und verlangte schärfere Ma߬<lb/> nahmen gegen das Zentrum. Auf seine Anregung hin wurde auch in der „Süddeutschen<lb/> Neichskorrespondenz" ein Artikel veröffentlicht, der dem Zentrum ein Halt zurief,<lb/> und wie es heißt, sollte auch gegen Zcntrumsführer, die in ihren Reden zu scharf<lb/> geworden waren, vorgegangen werden. Das war ein taktischer Fehler, denn auf eine<lb/> langjährige Politik des Zcmderns und des Nachgebens setzt man nicht plötzlich eine<lb/> Kampfespolitik. Graf Crailsheim fand also keine Zustimmung, weder bei seinen<lb/> Kollegen im Ministerrate noch beim Hofe. Hier war er auch, seitdem Baron<lb/> Podewils als Nachfolger des Herrn v. Landmann ins Ministerium getreten war,<lb/> langsam in die zweite Reihe gerückt.</p><lb/> <p xml:id="ID_3433" next="#ID_3434"> Die neue Politik, die Graf Crailsheim einleiten wollte, litt an einem großen<lb/> Fehler, weil in Bayern augenblicklich gegen das innerlich außerordentlich erstarkte<lb/> Zentrum gar nicht regiert werden kann. Der Liberalismus in der bayrischen<lb/> Abgeordnetenkammer ist tot, und die wenigen Führer haben, wenn nicht eine<lb/> kräftige Agitation im Lande anhebt, keine Leute mehr hinter sich. Das zeigt<lb/> sich jetzt wieder bei der Entlassung des Grafen Crailsheim, die in liberalen<lb/> Wahlbezirken keine nennenswerte Bewegung hervorgerufen hat. Nun hätte ein<lb/> Kampf der Regierung gegen das Zentrum in den altbayrischen Provinzen zwar<lb/> nicht „die Volksseele" zum Kochen gebracht, aber eine Reaktion von solcher Stärke<lb/> hervorgerufen, wie sie im Interesse eines geordneten Staatswesens gewiß nicht<lb/> wünschenswert gewesen wäre. Mit dieser Reaktion wäre aber das Ministerium</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0628]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Die Entlassung des bayrischen Ministerpräsidenten Grafen Crails-
heim. Dieses politische Ereignis hat eine Anzahl von Gerüchten über Intriguen
und den Einfluß fürstlicher Damen gezeitigt. Einer solchen Mythenbildung muß
aber beizeiten vorgebeugt werden, denn Graf Crailsheim ist aus eignem Ver¬
schulden gefallen. Er hatte seit geraumer Zeit nicht mehr das volle Vertrauen
des Prinzregenten. Persönlich beliebt, wie der nunmehrige Ministerpräsident Baron
Podewils, war der kühle Graf Crailsheim bei Hofe wohl nie, aber der Regent
hat die Verdienste des Grafen immer in der wärmsten Weise anerkannt, die
dieser sich in zweiundzwauzigjtthriger Ministcrschaft erworben hatte, und die ritter¬
liche Natur des Regenten hat dem Grafen bet dessen Scheiden aus dem Staats¬
dienste noch besondre Auszeichnungen verliehen. Nun war der Wille des Regenten
jederzeit auf ein friedliches, einträchtiges Zusammenwirken der Landesangehörigen
ohne Unterschied der Konfession gerichtet. Diesem Grundsatz entsprechend lenkte
auch Graf Crailsheim die innere bayrische Politik, seitdem er das Ministerprttsidinm
führte, aber in der Nachgiebigkeit gegen das Landtagszentrnm mag er im einzelnen
im Laufe der Jahre zu weit gegangen sein; das Zentrum fühlte keine energische
Hand mehr, sondern sah nur die stete Nachgiebigkeit, und so wurden seine Forde¬
rungen immer größer; schließlich erreichte es auch ein in seinem Sinne zngeschnittnes
Schulgesetz. "Auch dieses Schulgesetz deckte Graf Crailsheim noch; seine anpassungs¬
fähige Politik, sein Lavieren mit den kleinen Zügen und den großen Konzessionen
und sein Bestreben, mit dem Zentrum trotz aller Angriffe dieser Partei einen
nroclus vivsucU herzustellen, reichten bis zum Eintritt der Krise heran. Als die
erregten Debatten über das Schulgesetz im vorjährigen Landtage stattfanden, der
Kultusminister v. Landmann fiel, und das Zentrum die Knnstvvrlage ablehnte,
hatte es der Ministerpräsident noch einmal in der Hand, durch die Auflösung des
Landtags die Politik in seinem Sinne zu leiten. Die Beseitigung der Zentrnms-
majorität und die Bildung einer neuen Majorität aus Liberale», Bauerubündlcrn
und Sozialdemokraten wäre damals möglich gewesen. Heute ist eine solche Majorität
wohl kaum mehr zu erreichen. Graf Crailsheim hat damals den Ausweg der
Landtagsanflösung nicht gewählt, jetzt war die Position des Zentrums nach der
Ablehnung der Kunstvorlage, auch bei Hofe, keineswegs günstig, aber es gewann
neuen Agitationsstoff durch das Swinemünder Telegramm, und nun wurden die
Vorstöße gegen das Ministerium Crailsheim fortgesetzt. Der letzte Vorstoß war
der Parteitag des Zentrums im heurigen Januar. Und nnn machte der bisher
immer nachgiebige Ministerpräsident eine Schwenkung und verlangte schärfere Ma߬
nahmen gegen das Zentrum. Auf seine Anregung hin wurde auch in der „Süddeutschen
Neichskorrespondenz" ein Artikel veröffentlicht, der dem Zentrum ein Halt zurief,
und wie es heißt, sollte auch gegen Zcntrumsführer, die in ihren Reden zu scharf
geworden waren, vorgegangen werden. Das war ein taktischer Fehler, denn auf eine
langjährige Politik des Zcmderns und des Nachgebens setzt man nicht plötzlich eine
Kampfespolitik. Graf Crailsheim fand also keine Zustimmung, weder bei seinen
Kollegen im Ministerrate noch beim Hofe. Hier war er auch, seitdem Baron
Podewils als Nachfolger des Herrn v. Landmann ins Ministerium getreten war,
langsam in die zweite Reihe gerückt.
Die neue Politik, die Graf Crailsheim einleiten wollte, litt an einem großen
Fehler, weil in Bayern augenblicklich gegen das innerlich außerordentlich erstarkte
Zentrum gar nicht regiert werden kann. Der Liberalismus in der bayrischen
Abgeordnetenkammer ist tot, und die wenigen Führer haben, wenn nicht eine
kräftige Agitation im Lande anhebt, keine Leute mehr hinter sich. Das zeigt
sich jetzt wieder bei der Entlassung des Grafen Crailsheim, die in liberalen
Wahlbezirken keine nennenswerte Bewegung hervorgerufen hat. Nun hätte ein
Kampf der Regierung gegen das Zentrum in den altbayrischen Provinzen zwar
nicht „die Volksseele" zum Kochen gebracht, aber eine Reaktion von solcher Stärke
hervorgerufen, wie sie im Interesse eines geordneten Staatswesens gewiß nicht
wünschenswert gewesen wäre. Mit dieser Reaktion wäre aber das Ministerium
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