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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Der Rreuzzug gegen die Stcdinger

dem Volke sprachen, kennen wir nicht, weil keinem daran lag, sie uns anzu¬
geben. Die ganze lykurgische Verfassung ist ein Nebel von Fabeln und
Meinungen, die innere Geschichte Athens eine Sammlung von Notizen, von
einer späten Gelehrsamkeit ohne lebendige Kenntnis redigiert, die uns auf
alle wesentlichen Fragen die Antwort schuldig bleibt. Der nenaufgefundne so¬
genannte Aristoteles, an dessen Echtheit jn wohl die meisten Philologen
glauben, hat die Verwirrung uur noch größer gemacht. Die Römer hatten doch
verlMnismäßig früh wenigstens eine Annalistik der Tatsachen. Bei den Griechen
erzählt uns Thukydides mit Umständlichkeit alle Aktionen des peloponnesischen
Kriegs bis auf die kleinsten Scharmützel, über die innern Zusammenhänge und
den politischen Hintergrund des Kriegstheaters schweigt er. als ginge das keinen
etwas an. So sind wir sogar um ein getreues historisches Bild des großen
Perikles gebracht worden, der im Mittelpunkt des zweiten Bandes der
Curtiusschen Geschichte steht. Seine Konstruktion durch Curtius erfuhr wohl
die meisten Anfechtungen. "Es kann einem doch wehe tun, schreibt er 1872,
daß jetzt allerorten das Gezänke der Gelehrten wieder in voller Blüte steht;
es ist der Ärger über die in Deutschland nicht durchgcdruuguen Ansichten
Grotes, der sich bei einer Gruppe junger Gelehrter Luft macht. Zum Gluck
muß man auch des Thukydides Autorität anfechten, um mich zu widerlegen
und mich einer leichtfertigen Verunglimpfung des athenischen Volkscharakters
zu überführen." " . c ? t>> ^ (Schluß folgt)




Der Kreuzzug gegen die ^tedinger
V <L. F. Seemann on

und unsre Generation seufzt zuweilen über versuchten oder aus¬
geübten Glaubenszwang. Sie vertritt mit vollem Recht die Frei¬
heit der Überzeugung, die der Welt erobert zu haben ein ewiges
Verdienst der Reformation bleiben wird. Gegen das, was einst
an geistlicher Tyrannei ausgeübt wurde, ist alles heutige das
reine Kinderspiel. Auch die hitzigsten Vorkämpfer der katholischen Kirche würden
sich heute mit Schaudern abwenden, wenn ihnen zugemutet würde, Dinge
zu begehn, die mau im Mittelalter für gottwohlgefüllig hielt. So ändern
sich die Zeiten. Die katholische Kirche, die den großen Abfall des sechzehnten
Jahrhunderts verdammt, muß doch zugeben, daß sie sich selber seitdem zu ihrem
Vorteil reformiert hat, und daß sie das im wesentlichen Luther, Melanchthon,
Zwingli und Calvin verdankt.

Die Verfolgung der Albigenser keimt alle Welt; vou dem Kreuzzug wider
die Stediuger weiß außer den Historikern nur ein kleiner Kreis von Gebildeten.
Allerdings litten die unglücklichen Ketzer in den savoyischen Bergen wirklich
um ihres Glaubens willen, lind eine nlehrhundertjährige Geschichte ihrer Kämpfe


Der Rreuzzug gegen die Stcdinger

dem Volke sprachen, kennen wir nicht, weil keinem daran lag, sie uns anzu¬
geben. Die ganze lykurgische Verfassung ist ein Nebel von Fabeln und
Meinungen, die innere Geschichte Athens eine Sammlung von Notizen, von
einer späten Gelehrsamkeit ohne lebendige Kenntnis redigiert, die uns auf
alle wesentlichen Fragen die Antwort schuldig bleibt. Der nenaufgefundne so¬
genannte Aristoteles, an dessen Echtheit jn wohl die meisten Philologen
glauben, hat die Verwirrung uur noch größer gemacht. Die Römer hatten doch
verlMnismäßig früh wenigstens eine Annalistik der Tatsachen. Bei den Griechen
erzählt uns Thukydides mit Umständlichkeit alle Aktionen des peloponnesischen
Kriegs bis auf die kleinsten Scharmützel, über die innern Zusammenhänge und
den politischen Hintergrund des Kriegstheaters schweigt er. als ginge das keinen
etwas an. So sind wir sogar um ein getreues historisches Bild des großen
Perikles gebracht worden, der im Mittelpunkt des zweiten Bandes der
Curtiusschen Geschichte steht. Seine Konstruktion durch Curtius erfuhr wohl
die meisten Anfechtungen. „Es kann einem doch wehe tun, schreibt er 1872,
daß jetzt allerorten das Gezänke der Gelehrten wieder in voller Blüte steht;
es ist der Ärger über die in Deutschland nicht durchgcdruuguen Ansichten
Grotes, der sich bei einer Gruppe junger Gelehrter Luft macht. Zum Gluck
muß man auch des Thukydides Autorität anfechten, um mich zu widerlegen
und mich einer leichtfertigen Verunglimpfung des athenischen Volkscharakters
zu überführen." „ . c ? t>> ^ (Schluß folgt)




Der Kreuzzug gegen die ^tedinger
V <L. F. Seemann on

und unsre Generation seufzt zuweilen über versuchten oder aus¬
geübten Glaubenszwang. Sie vertritt mit vollem Recht die Frei¬
heit der Überzeugung, die der Welt erobert zu haben ein ewiges
Verdienst der Reformation bleiben wird. Gegen das, was einst
an geistlicher Tyrannei ausgeübt wurde, ist alles heutige das
reine Kinderspiel. Auch die hitzigsten Vorkämpfer der katholischen Kirche würden
sich heute mit Schaudern abwenden, wenn ihnen zugemutet würde, Dinge
zu begehn, die mau im Mittelalter für gottwohlgefüllig hielt. So ändern
sich die Zeiten. Die katholische Kirche, die den großen Abfall des sechzehnten
Jahrhunderts verdammt, muß doch zugeben, daß sie sich selber seitdem zu ihrem
Vorteil reformiert hat, und daß sie das im wesentlichen Luther, Melanchthon,
Zwingli und Calvin verdankt.

Die Verfolgung der Albigenser keimt alle Welt; vou dem Kreuzzug wider
die Stediuger weiß außer den Historikern nur ein kleiner Kreis von Gebildeten.
Allerdings litten die unglücklichen Ketzer in den savoyischen Bergen wirklich
um ihres Glaubens willen, lind eine nlehrhundertjährige Geschichte ihrer Kämpfe


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[0597] Der Rreuzzug gegen die Stcdinger dem Volke sprachen, kennen wir nicht, weil keinem daran lag, sie uns anzu¬ geben. Die ganze lykurgische Verfassung ist ein Nebel von Fabeln und Meinungen, die innere Geschichte Athens eine Sammlung von Notizen, von einer späten Gelehrsamkeit ohne lebendige Kenntnis redigiert, die uns auf alle wesentlichen Fragen die Antwort schuldig bleibt. Der nenaufgefundne so¬ genannte Aristoteles, an dessen Echtheit jn wohl die meisten Philologen glauben, hat die Verwirrung uur noch größer gemacht. Die Römer hatten doch verlMnismäßig früh wenigstens eine Annalistik der Tatsachen. Bei den Griechen erzählt uns Thukydides mit Umständlichkeit alle Aktionen des peloponnesischen Kriegs bis auf die kleinsten Scharmützel, über die innern Zusammenhänge und den politischen Hintergrund des Kriegstheaters schweigt er. als ginge das keinen etwas an. So sind wir sogar um ein getreues historisches Bild des großen Perikles gebracht worden, der im Mittelpunkt des zweiten Bandes der Curtiusschen Geschichte steht. Seine Konstruktion durch Curtius erfuhr wohl die meisten Anfechtungen. „Es kann einem doch wehe tun, schreibt er 1872, daß jetzt allerorten das Gezänke der Gelehrten wieder in voller Blüte steht; es ist der Ärger über die in Deutschland nicht durchgcdruuguen Ansichten Grotes, der sich bei einer Gruppe junger Gelehrter Luft macht. Zum Gluck muß man auch des Thukydides Autorität anfechten, um mich zu widerlegen und mich einer leichtfertigen Verunglimpfung des athenischen Volkscharakters zu überführen." „ . c ? t>> ^ (Schluß folgt) Der Kreuzzug gegen die ^tedinger V <L. F. Seemann on und unsre Generation seufzt zuweilen über versuchten oder aus¬ geübten Glaubenszwang. Sie vertritt mit vollem Recht die Frei¬ heit der Überzeugung, die der Welt erobert zu haben ein ewiges Verdienst der Reformation bleiben wird. Gegen das, was einst an geistlicher Tyrannei ausgeübt wurde, ist alles heutige das reine Kinderspiel. Auch die hitzigsten Vorkämpfer der katholischen Kirche würden sich heute mit Schaudern abwenden, wenn ihnen zugemutet würde, Dinge zu begehn, die mau im Mittelalter für gottwohlgefüllig hielt. So ändern sich die Zeiten. Die katholische Kirche, die den großen Abfall des sechzehnten Jahrhunderts verdammt, muß doch zugeben, daß sie sich selber seitdem zu ihrem Vorteil reformiert hat, und daß sie das im wesentlichen Luther, Melanchthon, Zwingli und Calvin verdankt. Die Verfolgung der Albigenser keimt alle Welt; vou dem Kreuzzug wider die Stediuger weiß außer den Historikern nur ein kleiner Kreis von Gebildeten. Allerdings litten die unglücklichen Ketzer in den savoyischen Bergen wirklich um ihres Glaubens willen, lind eine nlehrhundertjährige Geschichte ihrer Kämpfe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/597>, abgerufen am 23.11.2024.