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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Shakespeares Falstaff vom medizinischen Standpunkt aus betrachtet

zu Dänemark sind gut; aber es scheint doch vor der Hand ausgeschlossen zu
sein, daß die drei skandinavischen Reiche wieder die alte Union bilden werden,
ebenso ausgeschlossen wie die Bestrebungen, sich die Neutralität zu sichern.




Shakespeares Falstaff
vom medizinischen Standpunkt aus betrachtet
August Müller i vonn

er Theaterbesucher ist gewohnt, den Falstaff Shakespeares für
eine komische Figur zu halten, und er hat bei oberflächlicher Be¬
trachtung Ursache genug dazu. Man stelle sich nur den dicken
Ritter vor, wie er mit einem Kissen auf dem Kopfe und einem
Dolche in der Hand den König Heinrich spielt, oder man denke
an seinen Kampf in der Schlacht von Shrewsbury: Der kühne Schotte, Archibald
Douglas, greift ihn an, und er läßt sich sofort wie tot hintcnüberfallen;
Douglas und die übrigen Kämpfer entfernen sich, Falstaff hebt vorsichtig
seinen Kopf in die Hohe und sieht sich nach allen Seiten um; nachdem er sich
vergewissert hat, daß die Luft rein ist, wälzt er sich langsam auf seiue Vorder¬
seite und richtet sich mit der seinem schweren Bauch entsprechenden Mühe in
die Höhe. Die überwältigende Komik dieser Szenen ruft bei jeder Aufführung
brausendes Gelächter hervor. Und solche Züge sind nicht etwa vereinzelt, im
Gegenteil: Falstaff bietet ihrer so viele dar, daß ihm an Größe der komischen
Wirkung keine andre Bühnenfigur an die Seite gestellt werden kann.

Aber trotzdem ist Falstaff keine komische Figur, er muß vielmehr durchaus
ernst genommen werden, denn Shakespeare hat uns in ihm gewissermaßen
das typische Bild eines Kranken dargestellt. Um uns über das Wesen seines
Charakters Kar zu werden, wollen wir deshalb seine ganze Erscheinung, wie
sie uns der Dichter vorführt, von diesem Standpunkt aus untersuchen.

Werfen wir noch einen Blick auf die beiden eben angeführten Szenen,
so ist klar, daß dort die Komik in der Situation liegt, aber es ist durchaus uicht
alles Situationskomik, was uns bei Falstaff zum Lachen bringt. Er hat auch
Witz, und seine Witze sind nicht selten geistreichster Art. Man erinnere sich nur
an die Motivierung seines Benehmens in der Schlacht: "Das bessere Teil der
Tapferkeit ist Vorsicht, und mittels dieses bessern Teils habe ich mein Leben
gerettet," oder ein seine Antwort auf die Vorhaltung des Grafen Westmoreland:
"Aber mich dünkt doch, Sir John, sie (eure Truppen) sind ungemein arm¬
selig und ausgehungert, gar zu bettelhaft." Falstaff antwortet: "Mein Treu,
was ihre Armut betrifft, ich weiß nicht, woher sie die haben, und das Hungern --
ich bin gewiß, das haben sie nicht von nur gelernt." Er sprüht geradezu vou
Witzen; man kann mit vollem Recht die Spitze der Worte umkehren, mit denen
er sich selbst charakterisiert: "Er ist nicht bloß Ursache, daß andre Witz haben,
er ist auch selbst witzig."


Shakespeares Falstaff vom medizinischen Standpunkt aus betrachtet

zu Dänemark sind gut; aber es scheint doch vor der Hand ausgeschlossen zu
sein, daß die drei skandinavischen Reiche wieder die alte Union bilden werden,
ebenso ausgeschlossen wie die Bestrebungen, sich die Neutralität zu sichern.




Shakespeares Falstaff
vom medizinischen Standpunkt aus betrachtet
August Müller i vonn

er Theaterbesucher ist gewohnt, den Falstaff Shakespeares für
eine komische Figur zu halten, und er hat bei oberflächlicher Be¬
trachtung Ursache genug dazu. Man stelle sich nur den dicken
Ritter vor, wie er mit einem Kissen auf dem Kopfe und einem
Dolche in der Hand den König Heinrich spielt, oder man denke
an seinen Kampf in der Schlacht von Shrewsbury: Der kühne Schotte, Archibald
Douglas, greift ihn an, und er läßt sich sofort wie tot hintcnüberfallen;
Douglas und die übrigen Kämpfer entfernen sich, Falstaff hebt vorsichtig
seinen Kopf in die Hohe und sieht sich nach allen Seiten um; nachdem er sich
vergewissert hat, daß die Luft rein ist, wälzt er sich langsam auf seiue Vorder¬
seite und richtet sich mit der seinem schweren Bauch entsprechenden Mühe in
die Höhe. Die überwältigende Komik dieser Szenen ruft bei jeder Aufführung
brausendes Gelächter hervor. Und solche Züge sind nicht etwa vereinzelt, im
Gegenteil: Falstaff bietet ihrer so viele dar, daß ihm an Größe der komischen
Wirkung keine andre Bühnenfigur an die Seite gestellt werden kann.

Aber trotzdem ist Falstaff keine komische Figur, er muß vielmehr durchaus
ernst genommen werden, denn Shakespeare hat uns in ihm gewissermaßen
das typische Bild eines Kranken dargestellt. Um uns über das Wesen seines
Charakters Kar zu werden, wollen wir deshalb seine ganze Erscheinung, wie
sie uns der Dichter vorführt, von diesem Standpunkt aus untersuchen.

Werfen wir noch einen Blick auf die beiden eben angeführten Szenen,
so ist klar, daß dort die Komik in der Situation liegt, aber es ist durchaus uicht
alles Situationskomik, was uns bei Falstaff zum Lachen bringt. Er hat auch
Witz, und seine Witze sind nicht selten geistreichster Art. Man erinnere sich nur
an die Motivierung seines Benehmens in der Schlacht: „Das bessere Teil der
Tapferkeit ist Vorsicht, und mittels dieses bessern Teils habe ich mein Leben
gerettet," oder ein seine Antwort auf die Vorhaltung des Grafen Westmoreland:
„Aber mich dünkt doch, Sir John, sie (eure Truppen) sind ungemein arm¬
selig und ausgehungert, gar zu bettelhaft." Falstaff antwortet: „Mein Treu,
was ihre Armut betrifft, ich weiß nicht, woher sie die haben, und das Hungern —
ich bin gewiß, das haben sie nicht von nur gelernt." Er sprüht geradezu vou
Witzen; man kann mit vollem Recht die Spitze der Worte umkehren, mit denen
er sich selbst charakterisiert: „Er ist nicht bloß Ursache, daß andre Witz haben,
er ist auch selbst witzig."


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[0409] Shakespeares Falstaff vom medizinischen Standpunkt aus betrachtet zu Dänemark sind gut; aber es scheint doch vor der Hand ausgeschlossen zu sein, daß die drei skandinavischen Reiche wieder die alte Union bilden werden, ebenso ausgeschlossen wie die Bestrebungen, sich die Neutralität zu sichern. Shakespeares Falstaff vom medizinischen Standpunkt aus betrachtet August Müller i vonn er Theaterbesucher ist gewohnt, den Falstaff Shakespeares für eine komische Figur zu halten, und er hat bei oberflächlicher Be¬ trachtung Ursache genug dazu. Man stelle sich nur den dicken Ritter vor, wie er mit einem Kissen auf dem Kopfe und einem Dolche in der Hand den König Heinrich spielt, oder man denke an seinen Kampf in der Schlacht von Shrewsbury: Der kühne Schotte, Archibald Douglas, greift ihn an, und er läßt sich sofort wie tot hintcnüberfallen; Douglas und die übrigen Kämpfer entfernen sich, Falstaff hebt vorsichtig seinen Kopf in die Hohe und sieht sich nach allen Seiten um; nachdem er sich vergewissert hat, daß die Luft rein ist, wälzt er sich langsam auf seiue Vorder¬ seite und richtet sich mit der seinem schweren Bauch entsprechenden Mühe in die Höhe. Die überwältigende Komik dieser Szenen ruft bei jeder Aufführung brausendes Gelächter hervor. Und solche Züge sind nicht etwa vereinzelt, im Gegenteil: Falstaff bietet ihrer so viele dar, daß ihm an Größe der komischen Wirkung keine andre Bühnenfigur an die Seite gestellt werden kann. Aber trotzdem ist Falstaff keine komische Figur, er muß vielmehr durchaus ernst genommen werden, denn Shakespeare hat uns in ihm gewissermaßen das typische Bild eines Kranken dargestellt. Um uns über das Wesen seines Charakters Kar zu werden, wollen wir deshalb seine ganze Erscheinung, wie sie uns der Dichter vorführt, von diesem Standpunkt aus untersuchen. Werfen wir noch einen Blick auf die beiden eben angeführten Szenen, so ist klar, daß dort die Komik in der Situation liegt, aber es ist durchaus uicht alles Situationskomik, was uns bei Falstaff zum Lachen bringt. Er hat auch Witz, und seine Witze sind nicht selten geistreichster Art. Man erinnere sich nur an die Motivierung seines Benehmens in der Schlacht: „Das bessere Teil der Tapferkeit ist Vorsicht, und mittels dieses bessern Teils habe ich mein Leben gerettet," oder ein seine Antwort auf die Vorhaltung des Grafen Westmoreland: „Aber mich dünkt doch, Sir John, sie (eure Truppen) sind ungemein arm¬ selig und ausgehungert, gar zu bettelhaft." Falstaff antwortet: „Mein Treu, was ihre Armut betrifft, ich weiß nicht, woher sie die haben, und das Hungern — ich bin gewiß, das haben sie nicht von nur gelernt." Er sprüht geradezu vou Witzen; man kann mit vollem Recht die Spitze der Worte umkehren, mit denen er sich selbst charakterisiert: „Er ist nicht bloß Ursache, daß andre Witz haben, er ist auch selbst witzig."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/409>, abgerufen am 23.11.2024.