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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Die Verhandlung ist geschlossen.

Euer Hochgeboren, beeilte sich Timofejcw zu sagen, der Herr Oberst bittet
noch das Fräulein Ssawinskt und den. , ,

Sie schweigen! brüllte ihn der Richter an. Wie wagen Sie es noch, ein Wort
zu reden, nachdem ich die Verhandlung für geschlossen erklärt habe?

Timofejew machte eine Bewegung, die ausdrücken sollte, er gebe alles verloren.
Von den Damen aber, die unmittelbar hinter dem Stuhle des Fräulein Schtschcpin
saßen, erhob sich eine, als der Name Ssawinski genannt wurde, und schien im Be¬
griffe zu sein, vorzutreten. Als der Richter jedoch den Schwarzen zur Ruhe ver¬
wies und nochmals den Schluß der Verhandlung betonte, sah sie um sich lind setzte
sich rasch. Ich sah ihr Gesicht nur den kleinsten Bruchteil einer Sekunde, aber
noch jetzt -- es sind seitdem viele, viele Jahre vergangen -- könnte ich das Gesicht
malen, wenn ich ein sehr kunstreicher Porträtmaler wäre. Ein uicht vollendeter
Künstler hätte nicht wagen dürfen, sich an die Darstellung des lieblichen Anblicks
zu machen, den das Gesicht in dem Augenblicke bot.

Wie regelmäßig, wie edel geformt waren diese Züge! Freilich, das feine Näschen
zeigte einen leisen Anflug von Abstumpfung. Doch gerade diese kaum merkliche
Abweichung stimmte prächtig zu dem herausfordernd üppig geschulteren Mündchen
und zu der Stirn, die zur Hälfte unter einem ganzen Walde unendlich kleiner
aschblonder Söckchen verschwand. Die grauen Angen schauten entschlossen und dabei
doch so mädchenhaft unschuldig und bittend, daß sie dem ganzen Gesicht einen ge¬
radezu bezaubernden Reiz verliehen. Zu andrer Zeit, wenn die Besitzerin dieser
Augen nicht in der Erwartung stand, vor dein Richter Zeugnis ablegen zu müssen,
mochte der sanfte, bittende Ausdruck nicht vorhanden sein -- er war es auch für ge¬
wöhnlich nicht, wie ich dreist behaupten darf, denn ich habe ja oft genug Gelegenheit
gehabt, mich davon zu überzeugen --, in diesem Augenblick aber kam er voll zur
Geltung, und er war es hauptsächlich, der mir zum Herzen draug, mich plötzlich
so gewaltig zu dem Mädchen zog, daß ich mich uicht bedacht hätte, ihr zu Hilfe zu
eilen, falls sie in dem Falle gewesen wäre, Hilfe oder Beistand nötig zu haben.

Ich bin durch die Aussagen der Befragten zu der Überzeugung gekommen,
ertönte der Baß des Richters, daß die Beschuldigung des Händlers Abramow seitens
des Obersten Przebucki nicht genügend begründet ist, und darum erkläre ich die
Aicklage des dimittierten Obersten Przebucki, ich sage, ich erkläre kraft der mir zu¬
stehenden Befugnis die Klage wegen ungenügenden Beweises für abgewiesen und
die Sache für erledigt.

Die Sitzung ist für heute geschlossen, fügte er hinzu, indem er aufstand und
die Kette abnahm.

(Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Eine geographische Fabel.

Seit länger als einem halben Jahrhundert
spielt sich im zentralen und im nördlichen Asien ein weltgeschichtlicher Prozeß von
gewaltiger Bedeutung ab. In Mittelasien haben sich zwei Jahrtausende lang zwei
Welten gegenübergestanden, deren Scheidelinie etwa über Taschkend und Samarkand
länft, und die durch geographische Verhältnisse und durch ihre Kultur voneinander
getrennt find. Auf der einen Seite steht der Westen, zuerst mit ägyptisch-assyrischer,
später mit arisch-germanischer Kultur, ans der andern die chinesisch-mongolische, die
turanische Welt des Ostens. Früher lag der Schwerpunkt immer im Osten, und


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Die Verhandlung ist geschlossen.

Euer Hochgeboren, beeilte sich Timofejcw zu sagen, der Herr Oberst bittet
noch das Fräulein Ssawinskt und den. , ,

Sie schweigen! brüllte ihn der Richter an. Wie wagen Sie es noch, ein Wort
zu reden, nachdem ich die Verhandlung für geschlossen erklärt habe?

Timofejew machte eine Bewegung, die ausdrücken sollte, er gebe alles verloren.
Von den Damen aber, die unmittelbar hinter dem Stuhle des Fräulein Schtschcpin
saßen, erhob sich eine, als der Name Ssawinski genannt wurde, und schien im Be¬
griffe zu sein, vorzutreten. Als der Richter jedoch den Schwarzen zur Ruhe ver¬
wies und nochmals den Schluß der Verhandlung betonte, sah sie um sich lind setzte
sich rasch. Ich sah ihr Gesicht nur den kleinsten Bruchteil einer Sekunde, aber
noch jetzt — es sind seitdem viele, viele Jahre vergangen — könnte ich das Gesicht
malen, wenn ich ein sehr kunstreicher Porträtmaler wäre. Ein uicht vollendeter
Künstler hätte nicht wagen dürfen, sich an die Darstellung des lieblichen Anblicks
zu machen, den das Gesicht in dem Augenblicke bot.

Wie regelmäßig, wie edel geformt waren diese Züge! Freilich, das feine Näschen
zeigte einen leisen Anflug von Abstumpfung. Doch gerade diese kaum merkliche
Abweichung stimmte prächtig zu dem herausfordernd üppig geschulteren Mündchen
und zu der Stirn, die zur Hälfte unter einem ganzen Walde unendlich kleiner
aschblonder Söckchen verschwand. Die grauen Angen schauten entschlossen und dabei
doch so mädchenhaft unschuldig und bittend, daß sie dem ganzen Gesicht einen ge¬
radezu bezaubernden Reiz verliehen. Zu andrer Zeit, wenn die Besitzerin dieser
Augen nicht in der Erwartung stand, vor dein Richter Zeugnis ablegen zu müssen,
mochte der sanfte, bittende Ausdruck nicht vorhanden sein — er war es auch für ge¬
wöhnlich nicht, wie ich dreist behaupten darf, denn ich habe ja oft genug Gelegenheit
gehabt, mich davon zu überzeugen —, in diesem Augenblick aber kam er voll zur
Geltung, und er war es hauptsächlich, der mir zum Herzen draug, mich plötzlich
so gewaltig zu dem Mädchen zog, daß ich mich uicht bedacht hätte, ihr zu Hilfe zu
eilen, falls sie in dem Falle gewesen wäre, Hilfe oder Beistand nötig zu haben.

Ich bin durch die Aussagen der Befragten zu der Überzeugung gekommen,
ertönte der Baß des Richters, daß die Beschuldigung des Händlers Abramow seitens
des Obersten Przebucki nicht genügend begründet ist, und darum erkläre ich die
Aicklage des dimittierten Obersten Przebucki, ich sage, ich erkläre kraft der mir zu¬
stehenden Befugnis die Klage wegen ungenügenden Beweises für abgewiesen und
die Sache für erledigt.

Die Sitzung ist für heute geschlossen, fügte er hinzu, indem er aufstand und
die Kette abnahm.

(Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Eine geographische Fabel.

Seit länger als einem halben Jahrhundert
spielt sich im zentralen und im nördlichen Asien ein weltgeschichtlicher Prozeß von
gewaltiger Bedeutung ab. In Mittelasien haben sich zwei Jahrtausende lang zwei
Welten gegenübergestanden, deren Scheidelinie etwa über Taschkend und Samarkand
länft, und die durch geographische Verhältnisse und durch ihre Kultur voneinander
getrennt find. Auf der einen Seite steht der Westen, zuerst mit ägyptisch-assyrischer,
später mit arisch-germanischer Kultur, ans der andern die chinesisch-mongolische, die
turanische Welt des Ostens. Früher lag der Schwerpunkt immer im Osten, und


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[0119] Maßgebliches und Unmaßgebliches Die Verhandlung ist geschlossen. Euer Hochgeboren, beeilte sich Timofejcw zu sagen, der Herr Oberst bittet noch das Fräulein Ssawinskt und den. , , Sie schweigen! brüllte ihn der Richter an. Wie wagen Sie es noch, ein Wort zu reden, nachdem ich die Verhandlung für geschlossen erklärt habe? Timofejew machte eine Bewegung, die ausdrücken sollte, er gebe alles verloren. Von den Damen aber, die unmittelbar hinter dem Stuhle des Fräulein Schtschcpin saßen, erhob sich eine, als der Name Ssawinski genannt wurde, und schien im Be¬ griffe zu sein, vorzutreten. Als der Richter jedoch den Schwarzen zur Ruhe ver¬ wies und nochmals den Schluß der Verhandlung betonte, sah sie um sich lind setzte sich rasch. Ich sah ihr Gesicht nur den kleinsten Bruchteil einer Sekunde, aber noch jetzt — es sind seitdem viele, viele Jahre vergangen — könnte ich das Gesicht malen, wenn ich ein sehr kunstreicher Porträtmaler wäre. Ein uicht vollendeter Künstler hätte nicht wagen dürfen, sich an die Darstellung des lieblichen Anblicks zu machen, den das Gesicht in dem Augenblicke bot. Wie regelmäßig, wie edel geformt waren diese Züge! Freilich, das feine Näschen zeigte einen leisen Anflug von Abstumpfung. Doch gerade diese kaum merkliche Abweichung stimmte prächtig zu dem herausfordernd üppig geschulteren Mündchen und zu der Stirn, die zur Hälfte unter einem ganzen Walde unendlich kleiner aschblonder Söckchen verschwand. Die grauen Angen schauten entschlossen und dabei doch so mädchenhaft unschuldig und bittend, daß sie dem ganzen Gesicht einen ge¬ radezu bezaubernden Reiz verliehen. Zu andrer Zeit, wenn die Besitzerin dieser Augen nicht in der Erwartung stand, vor dein Richter Zeugnis ablegen zu müssen, mochte der sanfte, bittende Ausdruck nicht vorhanden sein — er war es auch für ge¬ wöhnlich nicht, wie ich dreist behaupten darf, denn ich habe ja oft genug Gelegenheit gehabt, mich davon zu überzeugen —, in diesem Augenblick aber kam er voll zur Geltung, und er war es hauptsächlich, der mir zum Herzen draug, mich plötzlich so gewaltig zu dem Mädchen zog, daß ich mich uicht bedacht hätte, ihr zu Hilfe zu eilen, falls sie in dem Falle gewesen wäre, Hilfe oder Beistand nötig zu haben. Ich bin durch die Aussagen der Befragten zu der Überzeugung gekommen, ertönte der Baß des Richters, daß die Beschuldigung des Händlers Abramow seitens des Obersten Przebucki nicht genügend begründet ist, und darum erkläre ich die Aicklage des dimittierten Obersten Przebucki, ich sage, ich erkläre kraft der mir zu¬ stehenden Befugnis die Klage wegen ungenügenden Beweises für abgewiesen und die Sache für erledigt. Die Sitzung ist für heute geschlossen, fügte er hinzu, indem er aufstand und die Kette abnahm. (Fortsetzung folgt) Maßgebliches und Unmaßgebliches Eine geographische Fabel. Seit länger als einem halben Jahrhundert spielt sich im zentralen und im nördlichen Asien ein weltgeschichtlicher Prozeß von gewaltiger Bedeutung ab. In Mittelasien haben sich zwei Jahrtausende lang zwei Welten gegenübergestanden, deren Scheidelinie etwa über Taschkend und Samarkand länft, und die durch geographische Verhältnisse und durch ihre Kultur voneinander getrennt find. Auf der einen Seite steht der Westen, zuerst mit ägyptisch-assyrischer, später mit arisch-germanischer Kultur, ans der andern die chinesisch-mongolische, die turanische Welt des Ostens. Früher lag der Schwerpunkt immer im Osten, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/119>, abgerufen am 23.11.2024.