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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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Russische Kultur

gegen, über das er wohl in den Bünden, die noch folgen sollen, Vermutungen
anstellen wird. Wir hatten unsre philosophische Ansicht, daß der Fortschritt
nicht in der Verdrängung jedes Alten durch ein Neues, sondern in der steten
Bereicherung des Daseins durch das Hinzuwachsen von Neuem zum Alten be¬
stehe, auch auf das Wirtschaftsleben angewandt und die Hoffnung ausgesprochen,
es werde -- zunächst für uns Deutsche unter Beihilfe einer kräftigen Kolonial¬
politik -- gelingen, neben den neuen großkapitalistischen Unternehmungen die
selbständigen Kleinbetriebe in der für eine gesunde Struktur des Volkskörpers
angemessenen Zahl zu erhallen. Wir bekennen, daß Sombart diese unsre Hoff¬
nung, wenigstens was den Handwerkerstand betrifft, wankend gemacht hat.
Seine Darstellung der gegenwärtigen wirtschaftlichen und sozialen Zustünde
prangt in blühendem Rosa. Das ist nicht zu verwundern, denn die Ausarbeitung
seines Werkes fällt doch jedenfalls der Hauptsache nach in die Periode der
letzten Hochkonjunktur: 1895 bis 1900. Sollte er in den nächsten Bänden
das Kolorit aus dem fröhlichen ins gräuliche abdomen müssen, so würde ihn
das nicht in Widerspruch mit seiner Grundansicht verwickeln; vielmehr würde
er in der kurzen Dauer des Aufschwungs und in der Depression, die ihn ab¬
gelöst hat, nur die Wirkung der verborgnen Maschinerie sehen, die zu rascheren
Vorwärtsschreiten zwingt -- einem Ziel entgegen, das dem Bebelschen Ideal
ähnlicher sein dürfte als dem unsern.




Russische Kultur
(Schluß)

er zweite Band von Paul Milulows Skizzen russischer Kultur¬
geschichte (mit einer die Entwicklung der Kirchenkuppel dar¬
stellenden Tafel) behandelt in drei Kapiteln Religion und Kirche,
Kirche und Kunst, Schule und Bildung. Wir versuche:" die
Hauptergebnisse des ersten Kapitels zusammenzufassen. Die
Russen blieben, nachdem sie getauft worden waren, vorläufig reine Heiden-
Das Christentum ihrer Mönche bestand in Kasteiungen. Sie nahmen es damit
sehr ernst und kämpften tapfer gegen den Teufel, d. l>. gegen die Natur¬
triebe. Der Teufel erschien ihnen in vielerlei Gestalten, beim wenn sie durch
Fcistcu und Wachen übermäßig geschwächt waren, hatten sie Halluzinationen-
Denken und Studieren wurde für äußerst gefährlich gehalten, und der Bauer
gar konnte nicht einmal das Vaterunser beten; das galt ihm als eine sehr
hohe Wissenschaft, die nur den Fürsten und den Geistlichen zieme. Die
Frömmigkeit der russischen Mönche steckte in den Beinen und im Magen. Ein
orientalischer Patriarch und sein Begleiter, die eines ihrer Klöster besuchten,
mußten bekennen, daß ihnen das dortige Leben zur Folter geworden sei; sie
hatten in der Kirche acht Stunden auf einem Fleck stehn müssen und waren
vom Fasten ganz schwach geworden. Aber auch die russischen Mönche selbst


Russische Kultur

gegen, über das er wohl in den Bünden, die noch folgen sollen, Vermutungen
anstellen wird. Wir hatten unsre philosophische Ansicht, daß der Fortschritt
nicht in der Verdrängung jedes Alten durch ein Neues, sondern in der steten
Bereicherung des Daseins durch das Hinzuwachsen von Neuem zum Alten be¬
stehe, auch auf das Wirtschaftsleben angewandt und die Hoffnung ausgesprochen,
es werde — zunächst für uns Deutsche unter Beihilfe einer kräftigen Kolonial¬
politik — gelingen, neben den neuen großkapitalistischen Unternehmungen die
selbständigen Kleinbetriebe in der für eine gesunde Struktur des Volkskörpers
angemessenen Zahl zu erhallen. Wir bekennen, daß Sombart diese unsre Hoff¬
nung, wenigstens was den Handwerkerstand betrifft, wankend gemacht hat.
Seine Darstellung der gegenwärtigen wirtschaftlichen und sozialen Zustünde
prangt in blühendem Rosa. Das ist nicht zu verwundern, denn die Ausarbeitung
seines Werkes fällt doch jedenfalls der Hauptsache nach in die Periode der
letzten Hochkonjunktur: 1895 bis 1900. Sollte er in den nächsten Bänden
das Kolorit aus dem fröhlichen ins gräuliche abdomen müssen, so würde ihn
das nicht in Widerspruch mit seiner Grundansicht verwickeln; vielmehr würde
er in der kurzen Dauer des Aufschwungs und in der Depression, die ihn ab¬
gelöst hat, nur die Wirkung der verborgnen Maschinerie sehen, die zu rascheren
Vorwärtsschreiten zwingt — einem Ziel entgegen, das dem Bebelschen Ideal
ähnlicher sein dürfte als dem unsern.




Russische Kultur
(Schluß)

er zweite Band von Paul Milulows Skizzen russischer Kultur¬
geschichte (mit einer die Entwicklung der Kirchenkuppel dar¬
stellenden Tafel) behandelt in drei Kapiteln Religion und Kirche,
Kirche und Kunst, Schule und Bildung. Wir versuche:» die
Hauptergebnisse des ersten Kapitels zusammenzufassen. Die
Russen blieben, nachdem sie getauft worden waren, vorläufig reine Heiden-
Das Christentum ihrer Mönche bestand in Kasteiungen. Sie nahmen es damit
sehr ernst und kämpften tapfer gegen den Teufel, d. l>. gegen die Natur¬
triebe. Der Teufel erschien ihnen in vielerlei Gestalten, beim wenn sie durch
Fcistcu und Wachen übermäßig geschwächt waren, hatten sie Halluzinationen-
Denken und Studieren wurde für äußerst gefährlich gehalten, und der Bauer
gar konnte nicht einmal das Vaterunser beten; das galt ihm als eine sehr
hohe Wissenschaft, die nur den Fürsten und den Geistlichen zieme. Die
Frömmigkeit der russischen Mönche steckte in den Beinen und im Magen. Ein
orientalischer Patriarch und sein Begleiter, die eines ihrer Klöster besuchten,
mußten bekennen, daß ihnen das dortige Leben zur Folter geworden sei; sie
hatten in der Kirche acht Stunden auf einem Fleck stehn müssen und waren
vom Fasten ganz schwach geworden. Aber auch die russischen Mönche selbst


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[0364] Russische Kultur gegen, über das er wohl in den Bünden, die noch folgen sollen, Vermutungen anstellen wird. Wir hatten unsre philosophische Ansicht, daß der Fortschritt nicht in der Verdrängung jedes Alten durch ein Neues, sondern in der steten Bereicherung des Daseins durch das Hinzuwachsen von Neuem zum Alten be¬ stehe, auch auf das Wirtschaftsleben angewandt und die Hoffnung ausgesprochen, es werde — zunächst für uns Deutsche unter Beihilfe einer kräftigen Kolonial¬ politik — gelingen, neben den neuen großkapitalistischen Unternehmungen die selbständigen Kleinbetriebe in der für eine gesunde Struktur des Volkskörpers angemessenen Zahl zu erhallen. Wir bekennen, daß Sombart diese unsre Hoff¬ nung, wenigstens was den Handwerkerstand betrifft, wankend gemacht hat. Seine Darstellung der gegenwärtigen wirtschaftlichen und sozialen Zustünde prangt in blühendem Rosa. Das ist nicht zu verwundern, denn die Ausarbeitung seines Werkes fällt doch jedenfalls der Hauptsache nach in die Periode der letzten Hochkonjunktur: 1895 bis 1900. Sollte er in den nächsten Bänden das Kolorit aus dem fröhlichen ins gräuliche abdomen müssen, so würde ihn das nicht in Widerspruch mit seiner Grundansicht verwickeln; vielmehr würde er in der kurzen Dauer des Aufschwungs und in der Depression, die ihn ab¬ gelöst hat, nur die Wirkung der verborgnen Maschinerie sehen, die zu rascheren Vorwärtsschreiten zwingt — einem Ziel entgegen, das dem Bebelschen Ideal ähnlicher sein dürfte als dem unsern. Russische Kultur (Schluß) er zweite Band von Paul Milulows Skizzen russischer Kultur¬ geschichte (mit einer die Entwicklung der Kirchenkuppel dar¬ stellenden Tafel) behandelt in drei Kapiteln Religion und Kirche, Kirche und Kunst, Schule und Bildung. Wir versuche:» die Hauptergebnisse des ersten Kapitels zusammenzufassen. Die Russen blieben, nachdem sie getauft worden waren, vorläufig reine Heiden- Das Christentum ihrer Mönche bestand in Kasteiungen. Sie nahmen es damit sehr ernst und kämpften tapfer gegen den Teufel, d. l>. gegen die Natur¬ triebe. Der Teufel erschien ihnen in vielerlei Gestalten, beim wenn sie durch Fcistcu und Wachen übermäßig geschwächt waren, hatten sie Halluzinationen- Denken und Studieren wurde für äußerst gefährlich gehalten, und der Bauer gar konnte nicht einmal das Vaterunser beten; das galt ihm als eine sehr hohe Wissenschaft, die nur den Fürsten und den Geistlichen zieme. Die Frömmigkeit der russischen Mönche steckte in den Beinen und im Magen. Ein orientalischer Patriarch und sein Begleiter, die eines ihrer Klöster besuchten, mußten bekennen, daß ihnen das dortige Leben zur Folter geworden sei; sie hatten in der Kirche acht Stunden auf einem Fleck stehn müssen und waren vom Fasten ganz schwach geworden. Aber auch die russischen Mönche selbst

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/364>, abgerufen am 01.09.2024.