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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

bedacht, daß die Erwägung einer solchen Möglichkeit Sache des sachverständigen
Reichskanzlers ist, der dafür dem Kaiser verantwortlich ist, und nicht einer be¬
liebigen Volksversammlung, die von den Formen des diplomatischen Verkehrs keine
Ahnung hat. Der Reichstag mag darüber den Grafen Bülow befragen und
vielleicht zur Rede setzen, eine Volksversammlung hat dazu kein Recht. Aber noch
weiter geht die zweite Resolution, deun sie enthält einen direkten Angriff auf den
Kaiser, natürlich im Namen des "Reichsgedankens" und der "monarchischen Ge¬
fühle des deutschen Volks." Nachdem der Reichskanzler mehrmals und aufs nach¬
drücklichste erklärt hat, was sich von selbst verstand, daß die deutsche Politik aus¬
schließlich von sachlichen Gründen, vom Interesse des Reichs bestimmt werde, drückt
die Resolution dennoch, natürlich in verhüllter Form, Zweifel an dieser Thatsache
aus, sie traut also dem Kaiser und dem Kanzler eine Pflichtwidrigkeit zu und droht
wieder einmal mit einer Schädigung des Reichsgedankens und des monarchischen
Gefühls, wenn der Monarch sich nicht genau danach richtet, was gewisse Blätter
ihm selbst in persönlichen Beziehungen verbieten oder erlauben wollen! Soweit
ist die "Selbständigkeit des deutschen Bürgers" gestiegen, daß er sich eine so un¬
fähige und unüberlegte Führung in einer so ernsten Sache gefallen läßt!

Inzwischen hat Mr. Chamberlain durch seinen Privatsekretär auf eine private
Anfrage erklären lassen, daß seine Äußerung keine Nation unzulässiger Grausam¬
keiten habe beschuldigen wollen, hat also damit einen halben Widerruf geleistet.
Es wäre für beide Teile besser gewesen, wenn das früher, nachdrücklicher und in
mehr direkter Form geschehn wäre. Ferner hat die norddeutsche Allgemeine Zeitung,
also ein hochoffiziöses Blatt, mit Bezug ans diesen Brief die Entrüstungskund-
gebungen, soweit sie gegen "die unbedachten und verletzenden Äußerungen
Chamberlains" gerichtet waren, als berechtigt anerkannt und die Schuld an der
Erregung in Deutschland "der wochenlang unwidersprochen gebliebner englischen
Berichterstattung" (über die Edinburgher Rede) zugeschrieben, dagegen dem Ver¬
langen nach amtlichen Schritten widersprochen, denn "das Ansehen, das die deutsche
Armee sich sowohl durch ihre Mannszucht und Menschlichkeit, als auch durch ihre
Tapferkeit in der gesitteten Welt erworben hat, steht viel zu fest, als daß es durch
falsche und unpassende Vergleiche berührt werden könnte." Das ist deutlich, würdig
und maßvoll gesprochen, und wir meinen, damit wäre für jeden vernünftigen
Menschen die Sache zu Ende. Darüber hinaus aber mögen sich unsre bureu-
freundlichen Zeitungen überlegen, was sie denn eigentlich mit dem alltäglichen
Schimpfen und Höhnen über England und englische Kriegführung für die Bure"
und für uns erreichen wollen, und an das deutsche Sprichwort denken: "Wie es
in den Wald schallt, so schallt es heraus." Die Presse ist doch nicht nur dazu da,
irgendwelchen Stimmungen der "Volksseele" Ausdruck zu geben, sondern vor allem
dazu, zu belehren, ihre Leser aufzuklären, zu warnen. Diese Hauptaufgabe wird
heute von vielen sogenannten "Organen der öffentlichen Meinung" in der uuver-
nntwortlichsten Weise außer Augen gesetzt.


Voraussetzungslose Forschung und Wahrhaftigkeit.

Die Erklärung
Theodor Mommsens zu Gunsten der freien Forschung auf den deutschen Univer¬
sitäten hat im Hinblick auf den Fall spähn in vielen seiner Kollegen den Wunsch
wachgerufen, ihm an die Seite zu treten. Denn gewiß, wo der Forschung durch
"konfessionellen Rechtszwang" willkürliche Schranken gezogen werden, ist die Axt
"n die Wurzel aller wissenschaftlichen Arbeit und alles ehrlichen Idealismus gelegt.
Um so lebhafter bedaure ich, daß die Art, in der Mommsen seine zeitgemäße
Mahnung begründet, viele verhindern wird, ihm schlicht und froh zu folgen. Er
setzt Begriffe miteinander gleich, die geschieden sein wollen, und mißt die Theologen
mit anderm Maße als die übrigen wissenschaftlichen Arbeiter.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

bedacht, daß die Erwägung einer solchen Möglichkeit Sache des sachverständigen
Reichskanzlers ist, der dafür dem Kaiser verantwortlich ist, und nicht einer be¬
liebigen Volksversammlung, die von den Formen des diplomatischen Verkehrs keine
Ahnung hat. Der Reichstag mag darüber den Grafen Bülow befragen und
vielleicht zur Rede setzen, eine Volksversammlung hat dazu kein Recht. Aber noch
weiter geht die zweite Resolution, deun sie enthält einen direkten Angriff auf den
Kaiser, natürlich im Namen des „Reichsgedankens" und der „monarchischen Ge¬
fühle des deutschen Volks." Nachdem der Reichskanzler mehrmals und aufs nach¬
drücklichste erklärt hat, was sich von selbst verstand, daß die deutsche Politik aus¬
schließlich von sachlichen Gründen, vom Interesse des Reichs bestimmt werde, drückt
die Resolution dennoch, natürlich in verhüllter Form, Zweifel an dieser Thatsache
aus, sie traut also dem Kaiser und dem Kanzler eine Pflichtwidrigkeit zu und droht
wieder einmal mit einer Schädigung des Reichsgedankens und des monarchischen
Gefühls, wenn der Monarch sich nicht genau danach richtet, was gewisse Blätter
ihm selbst in persönlichen Beziehungen verbieten oder erlauben wollen! Soweit
ist die „Selbständigkeit des deutschen Bürgers" gestiegen, daß er sich eine so un¬
fähige und unüberlegte Führung in einer so ernsten Sache gefallen läßt!

Inzwischen hat Mr. Chamberlain durch seinen Privatsekretär auf eine private
Anfrage erklären lassen, daß seine Äußerung keine Nation unzulässiger Grausam¬
keiten habe beschuldigen wollen, hat also damit einen halben Widerruf geleistet.
Es wäre für beide Teile besser gewesen, wenn das früher, nachdrücklicher und in
mehr direkter Form geschehn wäre. Ferner hat die norddeutsche Allgemeine Zeitung,
also ein hochoffiziöses Blatt, mit Bezug ans diesen Brief die Entrüstungskund-
gebungen, soweit sie gegen „die unbedachten und verletzenden Äußerungen
Chamberlains" gerichtet waren, als berechtigt anerkannt und die Schuld an der
Erregung in Deutschland „der wochenlang unwidersprochen gebliebner englischen
Berichterstattung" (über die Edinburgher Rede) zugeschrieben, dagegen dem Ver¬
langen nach amtlichen Schritten widersprochen, denn „das Ansehen, das die deutsche
Armee sich sowohl durch ihre Mannszucht und Menschlichkeit, als auch durch ihre
Tapferkeit in der gesitteten Welt erworben hat, steht viel zu fest, als daß es durch
falsche und unpassende Vergleiche berührt werden könnte." Das ist deutlich, würdig
und maßvoll gesprochen, und wir meinen, damit wäre für jeden vernünftigen
Menschen die Sache zu Ende. Darüber hinaus aber mögen sich unsre bureu-
freundlichen Zeitungen überlegen, was sie denn eigentlich mit dem alltäglichen
Schimpfen und Höhnen über England und englische Kriegführung für die Bure«
und für uns erreichen wollen, und an das deutsche Sprichwort denken: „Wie es
in den Wald schallt, so schallt es heraus." Die Presse ist doch nicht nur dazu da,
irgendwelchen Stimmungen der „Volksseele" Ausdruck zu geben, sondern vor allem
dazu, zu belehren, ihre Leser aufzuklären, zu warnen. Diese Hauptaufgabe wird
heute von vielen sogenannten „Organen der öffentlichen Meinung" in der uuver-
nntwortlichsten Weise außer Augen gesetzt.


Voraussetzungslose Forschung und Wahrhaftigkeit.

Die Erklärung
Theodor Mommsens zu Gunsten der freien Forschung auf den deutschen Univer¬
sitäten hat im Hinblick auf den Fall spähn in vielen seiner Kollegen den Wunsch
wachgerufen, ihm an die Seite zu treten. Denn gewiß, wo der Forschung durch
"konfessionellen Rechtszwang" willkürliche Schranken gezogen werden, ist die Axt
«n die Wurzel aller wissenschaftlichen Arbeit und alles ehrlichen Idealismus gelegt.
Um so lebhafter bedaure ich, daß die Art, in der Mommsen seine zeitgemäße
Mahnung begründet, viele verhindern wird, ihm schlicht und froh zu folgen. Er
setzt Begriffe miteinander gleich, die geschieden sein wollen, und mißt die Theologen
mit anderm Maße als die übrigen wissenschaftlichen Arbeiter.


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[0463] Maßgebliches und Unmaßgebliches bedacht, daß die Erwägung einer solchen Möglichkeit Sache des sachverständigen Reichskanzlers ist, der dafür dem Kaiser verantwortlich ist, und nicht einer be¬ liebigen Volksversammlung, die von den Formen des diplomatischen Verkehrs keine Ahnung hat. Der Reichstag mag darüber den Grafen Bülow befragen und vielleicht zur Rede setzen, eine Volksversammlung hat dazu kein Recht. Aber noch weiter geht die zweite Resolution, deun sie enthält einen direkten Angriff auf den Kaiser, natürlich im Namen des „Reichsgedankens" und der „monarchischen Ge¬ fühle des deutschen Volks." Nachdem der Reichskanzler mehrmals und aufs nach¬ drücklichste erklärt hat, was sich von selbst verstand, daß die deutsche Politik aus¬ schließlich von sachlichen Gründen, vom Interesse des Reichs bestimmt werde, drückt die Resolution dennoch, natürlich in verhüllter Form, Zweifel an dieser Thatsache aus, sie traut also dem Kaiser und dem Kanzler eine Pflichtwidrigkeit zu und droht wieder einmal mit einer Schädigung des Reichsgedankens und des monarchischen Gefühls, wenn der Monarch sich nicht genau danach richtet, was gewisse Blätter ihm selbst in persönlichen Beziehungen verbieten oder erlauben wollen! Soweit ist die „Selbständigkeit des deutschen Bürgers" gestiegen, daß er sich eine so un¬ fähige und unüberlegte Führung in einer so ernsten Sache gefallen läßt! Inzwischen hat Mr. Chamberlain durch seinen Privatsekretär auf eine private Anfrage erklären lassen, daß seine Äußerung keine Nation unzulässiger Grausam¬ keiten habe beschuldigen wollen, hat also damit einen halben Widerruf geleistet. Es wäre für beide Teile besser gewesen, wenn das früher, nachdrücklicher und in mehr direkter Form geschehn wäre. Ferner hat die norddeutsche Allgemeine Zeitung, also ein hochoffiziöses Blatt, mit Bezug ans diesen Brief die Entrüstungskund- gebungen, soweit sie gegen „die unbedachten und verletzenden Äußerungen Chamberlains" gerichtet waren, als berechtigt anerkannt und die Schuld an der Erregung in Deutschland „der wochenlang unwidersprochen gebliebner englischen Berichterstattung" (über die Edinburgher Rede) zugeschrieben, dagegen dem Ver¬ langen nach amtlichen Schritten widersprochen, denn „das Ansehen, das die deutsche Armee sich sowohl durch ihre Mannszucht und Menschlichkeit, als auch durch ihre Tapferkeit in der gesitteten Welt erworben hat, steht viel zu fest, als daß es durch falsche und unpassende Vergleiche berührt werden könnte." Das ist deutlich, würdig und maßvoll gesprochen, und wir meinen, damit wäre für jeden vernünftigen Menschen die Sache zu Ende. Darüber hinaus aber mögen sich unsre bureu- freundlichen Zeitungen überlegen, was sie denn eigentlich mit dem alltäglichen Schimpfen und Höhnen über England und englische Kriegführung für die Bure« und für uns erreichen wollen, und an das deutsche Sprichwort denken: „Wie es in den Wald schallt, so schallt es heraus." Die Presse ist doch nicht nur dazu da, irgendwelchen Stimmungen der „Volksseele" Ausdruck zu geben, sondern vor allem dazu, zu belehren, ihre Leser aufzuklären, zu warnen. Diese Hauptaufgabe wird heute von vielen sogenannten „Organen der öffentlichen Meinung" in der uuver- nntwortlichsten Weise außer Augen gesetzt. Voraussetzungslose Forschung und Wahrhaftigkeit. Die Erklärung Theodor Mommsens zu Gunsten der freien Forschung auf den deutschen Univer¬ sitäten hat im Hinblick auf den Fall spähn in vielen seiner Kollegen den Wunsch wachgerufen, ihm an die Seite zu treten. Denn gewiß, wo der Forschung durch "konfessionellen Rechtszwang" willkürliche Schranken gezogen werden, ist die Axt «n die Wurzel aller wissenschaftlichen Arbeit und alles ehrlichen Idealismus gelegt. Um so lebhafter bedaure ich, daß die Art, in der Mommsen seine zeitgemäße Mahnung begründet, viele verhindern wird, ihm schlicht und froh zu folgen. Er setzt Begriffe miteinander gleich, die geschieden sein wollen, und mißt die Theologen mit anderm Maße als die übrigen wissenschaftlichen Arbeiter.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/463>, abgerufen am 13.11.2024.