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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

lange Weile saßen sie ohne zu sprechen umschlungen, und Hanna ließ ihren Kopf
auf Traudeis Busen ruhn.

Er kommt doch wieder, sagte Hanna, sich aufrichtend; ich spüre es ganz sicher,
Traudel!

Ja freili, meinte Traudel; ganz gwiß kommt er wieder. Und jetzt richt i
uns ein Essen, und dann schlafen wir, brav fest, derweil es guats Wetter wird.

Sie stand auf und wollte zum Herde gehn, als sie aufhorchend stehn blieb
und sich der Thür zuwandte.

(Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Ein russischer Sozialist.

Bei dem in Rußland allgemein herrschenden
Elend und der zum Mitleid geneigten Weichheit der russischen Volksseele erscheint
die starke Verbreitung sozialistischer, anarchistischer und nihilistischer Ideen und Be¬
strebungen unter den akademisch gebildeten Ständen des Landes so natürlich, daß
es zu ihrer Erklärung der Einflüsse des Westens gar nicht bedarf. Mit einem
dieser Reformatoren, der sich mehr durch geistige Bedeutung als durch politische
Agitation ausgezeichnet hat, macht nus der Akademische Verlag für soziale Wissen¬
schaften (Dr. John Edelhetm) in Berlin und Bern bekannt durch Herausgabe des
Buches: Historische Briefe von Peter Lawrvw. Aus dem Russischen übersetzt
von S. Dmnidow. Mit einer Einleitung von Dr. Ch. Rappoport und zwei
Porträts. Lawrow, 1823 geboren, 1900 zu Paris gestorben, war ursprünglich
Artillerieoffizier und artilleristischer Schriftsteller. Später warf er sich auf Philo¬
sophie und Sozialwissenschnft, wurde 1866 verhaftet und uach seiner Freilassung
an einen kleinen Ort im Innern Rußlands verbannt. Bon hier aus veröffentlichte
er 1868 bis 1869 in der Zeitschrift Die Woche seine historischen Briefe, die von
der akademischen Jugend mit Begeisterung gelesen wurden. Im Februar 1870
floh er nach Paris, wo er im Kommunenufstand dem Volle seine sachkundige Hilfe
bei der militärische!? Organisation anbot. Er reiste nach Brüssel nud London, um
Unterstützung für die Aufständischen zu werben, trat mit Marx und Engels in
Verbindung, kehrte 1872 nach Paris zurück und lebte seitdem, als Mitglied der
anthropologischen Gesellschaft, nur noch wissenschaftlichen Bestrebungen.

Im Gegensatz zu Marx, dem die geschichtlichen Ereignisse nur Produkte eiuer
mechanischen Entwicklung und die Ideen nur Spiegelungen der durch die Ent¬
wicklung erzeugten Zustände sind, geht Lawrow, der einen "integralen" Sozialismus
predigt, von der menschlichen Persönlichkeit ans und sieht in den sittlichen Idealen
die Haupttriebfeder des Fortschritts. Er bekennt sich zu einem Naturalismus, der,
wie es scheint, Atheismus ist, und sieht in deu Naturwissenschaften die Grundlage
aller wissenschaftlichen Erkenntnis, aber seine Weltanschauung bleibt trotz Kopernikus
und Giordano Bruno anthropozentrisch, und er glaubt, daß die gesamte Wissenschaft
auf diesen Standpunkt zurückkehren müsse und werde, denn für den Menschen habe
nicht die Welt an sich Bedeutung, sondern nur das von ihm begriffne, bezwungne
und feinen Zwecken angepaßte Stück Welt. Deshalb müsse die Naturwissenschaft
durch die Geschichte ergänzt werden, die uns den Menschen kennen lehrt. Das
Bewußtsein möge für das Universum eine Erscheinung von untergeordneter Be¬
deutung sein, für den Menschen sei es das wichtigste' Der Entwicklung komme


Maßgebliches und Unmaßgebliches

lange Weile saßen sie ohne zu sprechen umschlungen, und Hanna ließ ihren Kopf
auf Traudeis Busen ruhn.

Er kommt doch wieder, sagte Hanna, sich aufrichtend; ich spüre es ganz sicher,
Traudel!

Ja freili, meinte Traudel; ganz gwiß kommt er wieder. Und jetzt richt i
uns ein Essen, und dann schlafen wir, brav fest, derweil es guats Wetter wird.

Sie stand auf und wollte zum Herde gehn, als sie aufhorchend stehn blieb
und sich der Thür zuwandte.

(Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Ein russischer Sozialist.

Bei dem in Rußland allgemein herrschenden
Elend und der zum Mitleid geneigten Weichheit der russischen Volksseele erscheint
die starke Verbreitung sozialistischer, anarchistischer und nihilistischer Ideen und Be¬
strebungen unter den akademisch gebildeten Ständen des Landes so natürlich, daß
es zu ihrer Erklärung der Einflüsse des Westens gar nicht bedarf. Mit einem
dieser Reformatoren, der sich mehr durch geistige Bedeutung als durch politische
Agitation ausgezeichnet hat, macht nus der Akademische Verlag für soziale Wissen¬
schaften (Dr. John Edelhetm) in Berlin und Bern bekannt durch Herausgabe des
Buches: Historische Briefe von Peter Lawrvw. Aus dem Russischen übersetzt
von S. Dmnidow. Mit einer Einleitung von Dr. Ch. Rappoport und zwei
Porträts. Lawrow, 1823 geboren, 1900 zu Paris gestorben, war ursprünglich
Artillerieoffizier und artilleristischer Schriftsteller. Später warf er sich auf Philo¬
sophie und Sozialwissenschnft, wurde 1866 verhaftet und uach seiner Freilassung
an einen kleinen Ort im Innern Rußlands verbannt. Bon hier aus veröffentlichte
er 1868 bis 1869 in der Zeitschrift Die Woche seine historischen Briefe, die von
der akademischen Jugend mit Begeisterung gelesen wurden. Im Februar 1870
floh er nach Paris, wo er im Kommunenufstand dem Volle seine sachkundige Hilfe
bei der militärische!? Organisation anbot. Er reiste nach Brüssel nud London, um
Unterstützung für die Aufständischen zu werben, trat mit Marx und Engels in
Verbindung, kehrte 1872 nach Paris zurück und lebte seitdem, als Mitglied der
anthropologischen Gesellschaft, nur noch wissenschaftlichen Bestrebungen.

Im Gegensatz zu Marx, dem die geschichtlichen Ereignisse nur Produkte eiuer
mechanischen Entwicklung und die Ideen nur Spiegelungen der durch die Ent¬
wicklung erzeugten Zustände sind, geht Lawrow, der einen „integralen" Sozialismus
predigt, von der menschlichen Persönlichkeit ans und sieht in den sittlichen Idealen
die Haupttriebfeder des Fortschritts. Er bekennt sich zu einem Naturalismus, der,
wie es scheint, Atheismus ist, und sieht in deu Naturwissenschaften die Grundlage
aller wissenschaftlichen Erkenntnis, aber seine Weltanschauung bleibt trotz Kopernikus
und Giordano Bruno anthropozentrisch, und er glaubt, daß die gesamte Wissenschaft
auf diesen Standpunkt zurückkehren müsse und werde, denn für den Menschen habe
nicht die Welt an sich Bedeutung, sondern nur das von ihm begriffne, bezwungne
und feinen Zwecken angepaßte Stück Welt. Deshalb müsse die Naturwissenschaft
durch die Geschichte ergänzt werden, die uns den Menschen kennen lehrt. Das
Bewußtsein möge für das Universum eine Erscheinung von untergeordneter Be¬
deutung sein, für den Menschen sei es das wichtigste' Der Entwicklung komme


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[0107] Maßgebliches und Unmaßgebliches lange Weile saßen sie ohne zu sprechen umschlungen, und Hanna ließ ihren Kopf auf Traudeis Busen ruhn. Er kommt doch wieder, sagte Hanna, sich aufrichtend; ich spüre es ganz sicher, Traudel! Ja freili, meinte Traudel; ganz gwiß kommt er wieder. Und jetzt richt i uns ein Essen, und dann schlafen wir, brav fest, derweil es guats Wetter wird. Sie stand auf und wollte zum Herde gehn, als sie aufhorchend stehn blieb und sich der Thür zuwandte. (Fortsetzung folgt) Maßgebliches und Unmaßgebliches Ein russischer Sozialist. Bei dem in Rußland allgemein herrschenden Elend und der zum Mitleid geneigten Weichheit der russischen Volksseele erscheint die starke Verbreitung sozialistischer, anarchistischer und nihilistischer Ideen und Be¬ strebungen unter den akademisch gebildeten Ständen des Landes so natürlich, daß es zu ihrer Erklärung der Einflüsse des Westens gar nicht bedarf. Mit einem dieser Reformatoren, der sich mehr durch geistige Bedeutung als durch politische Agitation ausgezeichnet hat, macht nus der Akademische Verlag für soziale Wissen¬ schaften (Dr. John Edelhetm) in Berlin und Bern bekannt durch Herausgabe des Buches: Historische Briefe von Peter Lawrvw. Aus dem Russischen übersetzt von S. Dmnidow. Mit einer Einleitung von Dr. Ch. Rappoport und zwei Porträts. Lawrow, 1823 geboren, 1900 zu Paris gestorben, war ursprünglich Artillerieoffizier und artilleristischer Schriftsteller. Später warf er sich auf Philo¬ sophie und Sozialwissenschnft, wurde 1866 verhaftet und uach seiner Freilassung an einen kleinen Ort im Innern Rußlands verbannt. Bon hier aus veröffentlichte er 1868 bis 1869 in der Zeitschrift Die Woche seine historischen Briefe, die von der akademischen Jugend mit Begeisterung gelesen wurden. Im Februar 1870 floh er nach Paris, wo er im Kommunenufstand dem Volle seine sachkundige Hilfe bei der militärische!? Organisation anbot. Er reiste nach Brüssel nud London, um Unterstützung für die Aufständischen zu werben, trat mit Marx und Engels in Verbindung, kehrte 1872 nach Paris zurück und lebte seitdem, als Mitglied der anthropologischen Gesellschaft, nur noch wissenschaftlichen Bestrebungen. Im Gegensatz zu Marx, dem die geschichtlichen Ereignisse nur Produkte eiuer mechanischen Entwicklung und die Ideen nur Spiegelungen der durch die Ent¬ wicklung erzeugten Zustände sind, geht Lawrow, der einen „integralen" Sozialismus predigt, von der menschlichen Persönlichkeit ans und sieht in den sittlichen Idealen die Haupttriebfeder des Fortschritts. Er bekennt sich zu einem Naturalismus, der, wie es scheint, Atheismus ist, und sieht in deu Naturwissenschaften die Grundlage aller wissenschaftlichen Erkenntnis, aber seine Weltanschauung bleibt trotz Kopernikus und Giordano Bruno anthropozentrisch, und er glaubt, daß die gesamte Wissenschaft auf diesen Standpunkt zurückkehren müsse und werde, denn für den Menschen habe nicht die Welt an sich Bedeutung, sondern nur das von ihm begriffne, bezwungne und feinen Zwecken angepaßte Stück Welt. Deshalb müsse die Naturwissenschaft durch die Geschichte ergänzt werden, die uns den Menschen kennen lehrt. Das Bewußtsein möge für das Universum eine Erscheinung von untergeordneter Be¬ deutung sein, für den Menschen sei es das wichtigste' Der Entwicklung komme

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/107>, abgerufen am 13.11.2024.