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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Änderungen der Reichsverfassung

!er Reichstag ist wieder einmal mit dem Antrag ans Diäten-
gewührung beschäftigt worden, und es verlautet, die Reichs-
rcgierung sei geneigt, in dieser lange streitigen Frage nachzugeben.
Das mag sein, denn viele Tropfen hohlen den Stein, und das
j Zentrum ist für den Antrag. Und nicht in dessen Kreisen allein
ist die politische Moral gesunken; unsre leidige Gewohnheit, jederzeit "Grund¬
sätze" im Munde zu sichren, hat -- Iss extrSmss 8ö tonolievt -- zur Folge
gehabt, daß wir Epigone" im politischen Handeln kaum mehr welche kennen,
während der unbefangne Verkündiger des av ut usf in gewissen nicht eben
zahlreichen, aber wirklich grundlegenden Fragen der eiserne Kanzler war. Zu
diesem festen Bestände gehörte die Ansicht, daß unsre Reichstagsabgeordneten
für Diäten zu hoch stünden.

Als Anhänger der Bismarckischen Tradition werden wir den Umschwung
beklagen und unsre Stellung behaupten, jedoch auch hier mit der thatsächlichen
Entwicklung rechnen müssen, und auch damit, daß gewisse Gründe der Gegner
für die Volksanschauung viel Einleuchtendes haben. Unsrerseits glauben wir,
daß es nicht der Mangel an Diäten, sondern der Mangel an Verständnis für
die Pslichtseite des Abgeordnetenberufs ist, Ums den Reichstag so häufig be¬
schlußunfähig macht, aber weit mehr Leute werden zustimmen, wenn die Sache
so erklärt wird: "Kann man es jemand verdenken, daß er nicht drei, vier
Monate, ein halbes Jahr ans seiner Tasche in Berlin bleiben mag? Ich
ginge als Abgeordneter mich mir hin, wenn es absolut sein müßte." Es wird
also, fürchten wir, nicht anders kommen: der Antrag wird Gesetz werden, und
dieses wesentliche Stück unsers Verfassuugsbaues, ein Eckstein im Sinne Fürst
Bismarcks, fallen. Damit, ja schon mit der ernstlichen Gefährdung, fällt aber
much der Grund weg, weshalb wir bisher weit anfechtbarere Bestimmungen der
Reichsverfassung als unabänderlich hingenommen haben. Auch darin folgten
wir einer Bismarckischen Mahnung, drängender ist jetzt eine andre, die aus


GMizbotm II 1301 4:j


Änderungen der Reichsverfassung

!er Reichstag ist wieder einmal mit dem Antrag ans Diäten-
gewührung beschäftigt worden, und es verlautet, die Reichs-
rcgierung sei geneigt, in dieser lange streitigen Frage nachzugeben.
Das mag sein, denn viele Tropfen hohlen den Stein, und das
j Zentrum ist für den Antrag. Und nicht in dessen Kreisen allein
ist die politische Moral gesunken; unsre leidige Gewohnheit, jederzeit „Grund¬
sätze" im Munde zu sichren, hat — Iss extrSmss 8ö tonolievt — zur Folge
gehabt, daß wir Epigone» im politischen Handeln kaum mehr welche kennen,
während der unbefangne Verkündiger des av ut usf in gewissen nicht eben
zahlreichen, aber wirklich grundlegenden Fragen der eiserne Kanzler war. Zu
diesem festen Bestände gehörte die Ansicht, daß unsre Reichstagsabgeordneten
für Diäten zu hoch stünden.

Als Anhänger der Bismarckischen Tradition werden wir den Umschwung
beklagen und unsre Stellung behaupten, jedoch auch hier mit der thatsächlichen
Entwicklung rechnen müssen, und auch damit, daß gewisse Gründe der Gegner
für die Volksanschauung viel Einleuchtendes haben. Unsrerseits glauben wir,
daß es nicht der Mangel an Diäten, sondern der Mangel an Verständnis für
die Pslichtseite des Abgeordnetenberufs ist, Ums den Reichstag so häufig be¬
schlußunfähig macht, aber weit mehr Leute werden zustimmen, wenn die Sache
so erklärt wird: „Kann man es jemand verdenken, daß er nicht drei, vier
Monate, ein halbes Jahr ans seiner Tasche in Berlin bleiben mag? Ich
ginge als Abgeordneter mich mir hin, wenn es absolut sein müßte." Es wird
also, fürchten wir, nicht anders kommen: der Antrag wird Gesetz werden, und
dieses wesentliche Stück unsers Verfassuugsbaues, ein Eckstein im Sinne Fürst
Bismarcks, fallen. Damit, ja schon mit der ernstlichen Gefährdung, fällt aber
much der Grund weg, weshalb wir bisher weit anfechtbarere Bestimmungen der
Reichsverfassung als unabänderlich hingenommen haben. Auch darin folgten
wir einer Bismarckischen Mahnung, drängender ist jetzt eine andre, die aus


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[0345] [Abbildung] Änderungen der Reichsverfassung !er Reichstag ist wieder einmal mit dem Antrag ans Diäten- gewührung beschäftigt worden, und es verlautet, die Reichs- rcgierung sei geneigt, in dieser lange streitigen Frage nachzugeben. Das mag sein, denn viele Tropfen hohlen den Stein, und das j Zentrum ist für den Antrag. Und nicht in dessen Kreisen allein ist die politische Moral gesunken; unsre leidige Gewohnheit, jederzeit „Grund¬ sätze" im Munde zu sichren, hat — Iss extrSmss 8ö tonolievt — zur Folge gehabt, daß wir Epigone» im politischen Handeln kaum mehr welche kennen, während der unbefangne Verkündiger des av ut usf in gewissen nicht eben zahlreichen, aber wirklich grundlegenden Fragen der eiserne Kanzler war. Zu diesem festen Bestände gehörte die Ansicht, daß unsre Reichstagsabgeordneten für Diäten zu hoch stünden. Als Anhänger der Bismarckischen Tradition werden wir den Umschwung beklagen und unsre Stellung behaupten, jedoch auch hier mit der thatsächlichen Entwicklung rechnen müssen, und auch damit, daß gewisse Gründe der Gegner für die Volksanschauung viel Einleuchtendes haben. Unsrerseits glauben wir, daß es nicht der Mangel an Diäten, sondern der Mangel an Verständnis für die Pslichtseite des Abgeordnetenberufs ist, Ums den Reichstag so häufig be¬ schlußunfähig macht, aber weit mehr Leute werden zustimmen, wenn die Sache so erklärt wird: „Kann man es jemand verdenken, daß er nicht drei, vier Monate, ein halbes Jahr ans seiner Tasche in Berlin bleiben mag? Ich ginge als Abgeordneter mich mir hin, wenn es absolut sein müßte." Es wird also, fürchten wir, nicht anders kommen: der Antrag wird Gesetz werden, und dieses wesentliche Stück unsers Verfassuugsbaues, ein Eckstein im Sinne Fürst Bismarcks, fallen. Damit, ja schon mit der ernstlichen Gefährdung, fällt aber much der Grund weg, weshalb wir bisher weit anfechtbarere Bestimmungen der Reichsverfassung als unabänderlich hingenommen haben. Auch darin folgten wir einer Bismarckischen Mahnung, drängender ist jetzt eine andre, die aus GMizbotm II 1301 4:j

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/345>, abgerufen am 29.06.2024.