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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Die deutsche Weltpolitik
Hans Wagner von4

! le auswärtige Politik der modernen Staaten hat im letzten Drittel
des neunzehnten Jahrhunderts in Zielen und Mitteln eine augen¬
fällige Veränderung erfahren, die nun für die Folgezeit zum poli¬
tischen Gesetz zu werden scheint.

Die Hausmachtspolitik, die jahrhundertelang die auswärtige
Politik der Höfe beherrschte, hat nach unzähligen dynastischen Kriegen schließlich
doch Fiasko gemacht: der letzte große Versuch zur Schaffung einer Hausmacht
führte wieder auf die natürliche Staatsform, den Volksstaat zurück, und diese
Form scheint nun gesichert, seitdem fast überall der dynastische Wille durch den
Volksnutzen verdrängt worden ist. Die Wende des achtzehnten zum neun¬
zehnten Jahrhundert brachte den Zerfall der Hausmacht Habsburg durch die
Hausmacht der Bonaparte. Durch seine Hauspolitik -- indem er nämlich die
Mitglieder seines Hauses an die Spitze von nationalen Staaten setzte -- und
durch seine Polenpolitik förderte Napoleon jedoch unbewußt den nationalen
Gedanken. Nach dem Zerfall des ersten Kaiserreichs wiederholte sich darum
das, was nach dem Tode Alexanders des Großen geschehn war: es regte sich
in den Völkern das Naturgesetz der Staatenbildung und schritt über die dyna¬
stischen Wünsche hinweg. Diese Entwicklung, die Bildung der nationalen
Staaten, ist für Europa erst mit dem 18. Januar 1871 abgeschlossen worden --
wenigstens für absehbare Zeiten, denn es ist noch ein Rest übrig geblieben:
wir sehen, wie hartnäckig die Polen ihrem Nationalstaat nachhängen, und wie
schwer heute noch das Völkergemisch Österreichs an den Überresten der Habs¬
burgischen Hauspolitik verdaut. Das Slawentum scheint wirtschaftlich zu er¬
starken, und dieser Aufschwung ist geeignet, auch politisch zu denken zu geben.
Man kann aber im allgemeinen die Ära der Bildung von Volksstaaten für


Gronzbotm II 1900 8


Die deutsche Weltpolitik
Hans Wagner von4

! le auswärtige Politik der modernen Staaten hat im letzten Drittel
des neunzehnten Jahrhunderts in Zielen und Mitteln eine augen¬
fällige Veränderung erfahren, die nun für die Folgezeit zum poli¬
tischen Gesetz zu werden scheint.

Die Hausmachtspolitik, die jahrhundertelang die auswärtige
Politik der Höfe beherrschte, hat nach unzähligen dynastischen Kriegen schließlich
doch Fiasko gemacht: der letzte große Versuch zur Schaffung einer Hausmacht
führte wieder auf die natürliche Staatsform, den Volksstaat zurück, und diese
Form scheint nun gesichert, seitdem fast überall der dynastische Wille durch den
Volksnutzen verdrängt worden ist. Die Wende des achtzehnten zum neun¬
zehnten Jahrhundert brachte den Zerfall der Hausmacht Habsburg durch die
Hausmacht der Bonaparte. Durch seine Hauspolitik — indem er nämlich die
Mitglieder seines Hauses an die Spitze von nationalen Staaten setzte — und
durch seine Polenpolitik förderte Napoleon jedoch unbewußt den nationalen
Gedanken. Nach dem Zerfall des ersten Kaiserreichs wiederholte sich darum
das, was nach dem Tode Alexanders des Großen geschehn war: es regte sich
in den Völkern das Naturgesetz der Staatenbildung und schritt über die dyna¬
stischen Wünsche hinweg. Diese Entwicklung, die Bildung der nationalen
Staaten, ist für Europa erst mit dem 18. Januar 1871 abgeschlossen worden —
wenigstens für absehbare Zeiten, denn es ist noch ein Rest übrig geblieben:
wir sehen, wie hartnäckig die Polen ihrem Nationalstaat nachhängen, und wie
schwer heute noch das Völkergemisch Österreichs an den Überresten der Habs¬
burgischen Hauspolitik verdaut. Das Slawentum scheint wirtschaftlich zu er¬
starken, und dieser Aufschwung ist geeignet, auch politisch zu denken zu geben.
Man kann aber im allgemeinen die Ära der Bildung von Volksstaaten für


Gronzbotm II 1900 8
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[0065] [Abbildung] Die deutsche Weltpolitik Hans Wagner von4 ! le auswärtige Politik der modernen Staaten hat im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts in Zielen und Mitteln eine augen¬ fällige Veränderung erfahren, die nun für die Folgezeit zum poli¬ tischen Gesetz zu werden scheint. Die Hausmachtspolitik, die jahrhundertelang die auswärtige Politik der Höfe beherrschte, hat nach unzähligen dynastischen Kriegen schließlich doch Fiasko gemacht: der letzte große Versuch zur Schaffung einer Hausmacht führte wieder auf die natürliche Staatsform, den Volksstaat zurück, und diese Form scheint nun gesichert, seitdem fast überall der dynastische Wille durch den Volksnutzen verdrängt worden ist. Die Wende des achtzehnten zum neun¬ zehnten Jahrhundert brachte den Zerfall der Hausmacht Habsburg durch die Hausmacht der Bonaparte. Durch seine Hauspolitik — indem er nämlich die Mitglieder seines Hauses an die Spitze von nationalen Staaten setzte — und durch seine Polenpolitik förderte Napoleon jedoch unbewußt den nationalen Gedanken. Nach dem Zerfall des ersten Kaiserreichs wiederholte sich darum das, was nach dem Tode Alexanders des Großen geschehn war: es regte sich in den Völkern das Naturgesetz der Staatenbildung und schritt über die dyna¬ stischen Wünsche hinweg. Diese Entwicklung, die Bildung der nationalen Staaten, ist für Europa erst mit dem 18. Januar 1871 abgeschlossen worden — wenigstens für absehbare Zeiten, denn es ist noch ein Rest übrig geblieben: wir sehen, wie hartnäckig die Polen ihrem Nationalstaat nachhängen, und wie schwer heute noch das Völkergemisch Österreichs an den Überresten der Habs¬ burgischen Hauspolitik verdaut. Das Slawentum scheint wirtschaftlich zu er¬ starken, und dieser Aufschwung ist geeignet, auch politisch zu denken zu geben. Man kann aber im allgemeinen die Ära der Bildung von Volksstaaten für Gronzbotm II 1900 8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/65>, abgerufen am 29.06.2024.