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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Frauenlöhne in Frankreich
T. Kellen l)c>n

er bekannte französische Sozialpolitiker Graf d'Haussvnville be¬
handelt in seinem neusten Werke die wirtschaftliche Lage der
erwerbthätigen Frauen in Frankreich. Er hat ihm den sehr be¬
zeichnenden Titel: Lalg-irgs se Nisörss als ?sinwks*) gegeben.
Von den Arbeiterinnen hat er als charakteristische Beispiele die
Näherin und Konfektionsarbeiterin ausgewählt, da drei Viertel aller Arbei¬
terinnen in Paris in der Bekleidungsindustrie beschäftigt sind; außerdem
behandelt er die Lage der jetzt in Frankreich ziemlich zahlreichen Beamtinnen,
Lehrerinnen usw., über die bisher noch keine eingehende Untersuchung vorlag.
Ferner erörtert er das Unterstützungswescn für arbeitende Frauen, die Aus-
wandrung der Frauen nach den Kolonien und andres. Das Werk enthält
ein sehr dankenswertes Material, aus dem ich im Nachfolgenden das Wichtigste
mitteilen möchte.

Vor einigen Jahren hat Graf d'Haussonville versucht, in einem umfang¬
reichen Wertes die Lebenshaltung der Arbeiter nud Arbeiterinnen in Paris
zahlenmäßig darzustellen. Er war dabei zu folgenden Zahlen eines Arbeiter¬
budgets gelangt. Wohnung: 100 bis 150 Franken, Nahrung: 550 bis 750,
Kleidung: 100 bis 150, verschiedne Ausgaben, Heizung, Beleuchtung, Wäsche,
kleine Vergnügungen: 100 bis 150, Summa: 850 bis 1200 Franken.

Bei 300 Arbeitstagen müßte der Tagesverdienst also 2,75 bis 4 Franken
betragen. Der Verfasser fügte hinzu, bei einem Verdienst von weniger als
2,75 Franken könne nur Elend herrschen, während ein Arbeiter, der über
4 Franken verdiene, ein ruhiges Dasein führen könne. Infolge dieser Be¬
rechnung wurden lebhafte Angriffe gegen den Grafen d'Haussonville gerichtet,
indem man vorgab, er habe behauptet, in Paris könne ein Arbeiter mit
850 Franken jährlich sehr wohl auskommen. Der Verfasser giebt denn auch
zu, daß er sich -- allerdings in andern, Sinne, als man ihm vorwarf --
geirrt habe, indem er sich seither überzeugt habe, daß es in Paris Arbeiterinnen
giebt, die täglich weniger als 2,75 Franken verdienen und doch ein "normales,
regelmüßiges Leben" führen. Er bezieht sich dabei auf die verdienstvolle Unter¬
suchung Charles Benoists über die Näherinnen in Paris. Eine Hemden-




" > Paris, Calman Levy, 1S00.
**) Nisüi'of se l-omvÄSL. (ÄIinmm I.so^, o. I.
Grenzboten II 190077


Frauenlöhne in Frankreich
T. Kellen l)c>n

er bekannte französische Sozialpolitiker Graf d'Haussvnville be¬
handelt in seinem neusten Werke die wirtschaftliche Lage der
erwerbthätigen Frauen in Frankreich. Er hat ihm den sehr be¬
zeichnenden Titel: Lalg-irgs se Nisörss als ?sinwks*) gegeben.
Von den Arbeiterinnen hat er als charakteristische Beispiele die
Näherin und Konfektionsarbeiterin ausgewählt, da drei Viertel aller Arbei¬
terinnen in Paris in der Bekleidungsindustrie beschäftigt sind; außerdem
behandelt er die Lage der jetzt in Frankreich ziemlich zahlreichen Beamtinnen,
Lehrerinnen usw., über die bisher noch keine eingehende Untersuchung vorlag.
Ferner erörtert er das Unterstützungswescn für arbeitende Frauen, die Aus-
wandrung der Frauen nach den Kolonien und andres. Das Werk enthält
ein sehr dankenswertes Material, aus dem ich im Nachfolgenden das Wichtigste
mitteilen möchte.

Vor einigen Jahren hat Graf d'Haussonville versucht, in einem umfang¬
reichen Wertes die Lebenshaltung der Arbeiter nud Arbeiterinnen in Paris
zahlenmäßig darzustellen. Er war dabei zu folgenden Zahlen eines Arbeiter¬
budgets gelangt. Wohnung: 100 bis 150 Franken, Nahrung: 550 bis 750,
Kleidung: 100 bis 150, verschiedne Ausgaben, Heizung, Beleuchtung, Wäsche,
kleine Vergnügungen: 100 bis 150, Summa: 850 bis 1200 Franken.

Bei 300 Arbeitstagen müßte der Tagesverdienst also 2,75 bis 4 Franken
betragen. Der Verfasser fügte hinzu, bei einem Verdienst von weniger als
2,75 Franken könne nur Elend herrschen, während ein Arbeiter, der über
4 Franken verdiene, ein ruhiges Dasein führen könne. Infolge dieser Be¬
rechnung wurden lebhafte Angriffe gegen den Grafen d'Haussonville gerichtet,
indem man vorgab, er habe behauptet, in Paris könne ein Arbeiter mit
850 Franken jährlich sehr wohl auskommen. Der Verfasser giebt denn auch
zu, daß er sich — allerdings in andern, Sinne, als man ihm vorwarf —
geirrt habe, indem er sich seither überzeugt habe, daß es in Paris Arbeiterinnen
giebt, die täglich weniger als 2,75 Franken verdienen und doch ein „normales,
regelmüßiges Leben" führen. Er bezieht sich dabei auf die verdienstvolle Unter¬
suchung Charles Benoists über die Näherinnen in Paris. Eine Hemden-




" > Paris, Calman Levy, 1S00.
**) Nisüi'of se l-omvÄSL. (ÄIinmm I.so^, o. I.
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[0617] [Abbildung] Frauenlöhne in Frankreich T. Kellen l)c>n er bekannte französische Sozialpolitiker Graf d'Haussvnville be¬ handelt in seinem neusten Werke die wirtschaftliche Lage der erwerbthätigen Frauen in Frankreich. Er hat ihm den sehr be¬ zeichnenden Titel: Lalg-irgs se Nisörss als ?sinwks*) gegeben. Von den Arbeiterinnen hat er als charakteristische Beispiele die Näherin und Konfektionsarbeiterin ausgewählt, da drei Viertel aller Arbei¬ terinnen in Paris in der Bekleidungsindustrie beschäftigt sind; außerdem behandelt er die Lage der jetzt in Frankreich ziemlich zahlreichen Beamtinnen, Lehrerinnen usw., über die bisher noch keine eingehende Untersuchung vorlag. Ferner erörtert er das Unterstützungswescn für arbeitende Frauen, die Aus- wandrung der Frauen nach den Kolonien und andres. Das Werk enthält ein sehr dankenswertes Material, aus dem ich im Nachfolgenden das Wichtigste mitteilen möchte. Vor einigen Jahren hat Graf d'Haussonville versucht, in einem umfang¬ reichen Wertes die Lebenshaltung der Arbeiter nud Arbeiterinnen in Paris zahlenmäßig darzustellen. Er war dabei zu folgenden Zahlen eines Arbeiter¬ budgets gelangt. Wohnung: 100 bis 150 Franken, Nahrung: 550 bis 750, Kleidung: 100 bis 150, verschiedne Ausgaben, Heizung, Beleuchtung, Wäsche, kleine Vergnügungen: 100 bis 150, Summa: 850 bis 1200 Franken. Bei 300 Arbeitstagen müßte der Tagesverdienst also 2,75 bis 4 Franken betragen. Der Verfasser fügte hinzu, bei einem Verdienst von weniger als 2,75 Franken könne nur Elend herrschen, während ein Arbeiter, der über 4 Franken verdiene, ein ruhiges Dasein führen könne. Infolge dieser Be¬ rechnung wurden lebhafte Angriffe gegen den Grafen d'Haussonville gerichtet, indem man vorgab, er habe behauptet, in Paris könne ein Arbeiter mit 850 Franken jährlich sehr wohl auskommen. Der Verfasser giebt denn auch zu, daß er sich — allerdings in andern, Sinne, als man ihm vorwarf — geirrt habe, indem er sich seither überzeugt habe, daß es in Paris Arbeiterinnen giebt, die täglich weniger als 2,75 Franken verdienen und doch ein „normales, regelmüßiges Leben" führen. Er bezieht sich dabei auf die verdienstvolle Unter¬ suchung Charles Benoists über die Näherinnen in Paris. Eine Hemden- " > Paris, Calman Levy, 1S00. **) Nisüi'of se l-omvÄSL. (ÄIinmm I.so^, o. I. Grenzboten II 190077

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/617>, abgerufen am 29.06.2024.