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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

setzen, was der Hausstand bringe. Und jeden Abend hat er zu dem lieben Gott
gebetet: Große Schätze verlange ich nicht von dir, lieber Gott. Aber das bitte ich
mir aus, daß ich drei Abende in der Woche Pellkartoffel mit Senftunke und He¬
ringe bekomme und dereinst oben bei dir die ewige Seligkeit, die mir zukommt.
Amen!

Ein ganzes Jahr ist es so hingegangen, und die Witfrau, bei der er gedient
hat, hat ihm den Kontrakt getreulich gehalten. Nun hat es sich aber begeben, daß
dem Höker des Dorfes die Heringe ausgegangen sind, worüber die Witfrau in
große Angst geraten ist, da Michel noch für zwei Tage zu verlangen gehabt hat.
Schnell ist der kleine Dienstjunge Heim zur Stadt geschickt worden, Heringe zu
holen, aber er ist nicht zurückgekommen, sondern in der wilden Heide, worüber der
Weg zur Stadt führte, samt den Heringen von den hungrigen Wölfen gefressen
worden und elendiglich umgekommen. So war es nicht zu ändern. Michel kriegte
in der Woche an zwei Abenden, wo er Pellkartoffel mit Senftunke und Heringen
verlangen konnte, Pellkartoffel mit Judentunke und Rauchschinken, was ihm die
Witfrau mit schwerem Herzen und mit dem Bewußtsein, wortbrüchig geworden zu
sein, vorsetzte.

Den ersten Abend ging es noch, aber am zweiten war Michel sehr bös. Aber
er aß doch, denn er war hungrig. Und als er in sein Bett gekrochen war, betete
er nicht wie sonst: "Große Schätze verlange ich nicht von dir" und so weiter,
sondern er machte dem Herrgott Vorwürfe: Nichts weiter habe ich gewünscht, als
Pellkartoffel mit Heringen und Senftunke und nur dreimal die Woche und die
ewige Seligkeit, die ich verlangen kann, wenn ich gestorben bin. Und ich meine,
das ist bescheiden genug. Ich will nicht kleinlich sein und aufzählen, was andre
alles kriegen. Aber das kann ich doch sage", daß Johann Stieper, der bei Jochim
Rvhwer dient, manchmal sogar Bratkartoffel mit Speck bekommt. Und da habe ich
gedacht, eine bescheidne Bitte finde auch wohl Erhörung. Aber du bist im Besitze
deiner Allmacht und bekümmerst dich nicht um einen armen Bauernknecht, der gern
seinen Hering ißt. Du bist schuld, daß der Höker keine Heringe hatte, und du
bist anch schuld, daß der kleine Hein von Wölfen gefressen worden ist und mir
nicht die Heringe bringen konnte. Und wenn du deu Wölfen etwas gönnen wolltest,
so hätte es auch wohl ein andermal gepaßt, daß sie den kleinen Hein aßen.

Und nachdem er auf diese Weise seinem gerechten Unmut Luft gemacht hatte,
schlief er ein.

(Schluß folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Kaufmannspolitik.

Der Hamburger Großhändler R. E. May, Inhaber
der Firma Alexander Jahr n. Comp. in Hamburg, veröffentlicht seit einer Reihe
von Jahren Rückblicke auf die wirtschaftliche Entwicklung des Vorjahres, an die er
nationalökonomische und sozialpolitische Betrachtungen knüpft. In der 1899 (bei
Puttkammer und Mtthlbrecht in Berlin) erschienenen ..Wirtschafts- und Handels¬
politischen Rundschau für das Jahr 1898" beschäftigt er sich ausschließlich mit
Politik. Sehr richtig bemerkt er, die allgemeine Verwirrung und Verwicklung


Grenzboten 71 1300 7
Maßgebliches und Unmaßgebliches

setzen, was der Hausstand bringe. Und jeden Abend hat er zu dem lieben Gott
gebetet: Große Schätze verlange ich nicht von dir, lieber Gott. Aber das bitte ich
mir aus, daß ich drei Abende in der Woche Pellkartoffel mit Senftunke und He¬
ringe bekomme und dereinst oben bei dir die ewige Seligkeit, die mir zukommt.
Amen!

Ein ganzes Jahr ist es so hingegangen, und die Witfrau, bei der er gedient
hat, hat ihm den Kontrakt getreulich gehalten. Nun hat es sich aber begeben, daß
dem Höker des Dorfes die Heringe ausgegangen sind, worüber die Witfrau in
große Angst geraten ist, da Michel noch für zwei Tage zu verlangen gehabt hat.
Schnell ist der kleine Dienstjunge Heim zur Stadt geschickt worden, Heringe zu
holen, aber er ist nicht zurückgekommen, sondern in der wilden Heide, worüber der
Weg zur Stadt führte, samt den Heringen von den hungrigen Wölfen gefressen
worden und elendiglich umgekommen. So war es nicht zu ändern. Michel kriegte
in der Woche an zwei Abenden, wo er Pellkartoffel mit Senftunke und Heringen
verlangen konnte, Pellkartoffel mit Judentunke und Rauchschinken, was ihm die
Witfrau mit schwerem Herzen und mit dem Bewußtsein, wortbrüchig geworden zu
sein, vorsetzte.

Den ersten Abend ging es noch, aber am zweiten war Michel sehr bös. Aber
er aß doch, denn er war hungrig. Und als er in sein Bett gekrochen war, betete
er nicht wie sonst: „Große Schätze verlange ich nicht von dir" und so weiter,
sondern er machte dem Herrgott Vorwürfe: Nichts weiter habe ich gewünscht, als
Pellkartoffel mit Heringen und Senftunke und nur dreimal die Woche und die
ewige Seligkeit, die ich verlangen kann, wenn ich gestorben bin. Und ich meine,
das ist bescheiden genug. Ich will nicht kleinlich sein und aufzählen, was andre
alles kriegen. Aber das kann ich doch sage», daß Johann Stieper, der bei Jochim
Rvhwer dient, manchmal sogar Bratkartoffel mit Speck bekommt. Und da habe ich
gedacht, eine bescheidne Bitte finde auch wohl Erhörung. Aber du bist im Besitze
deiner Allmacht und bekümmerst dich nicht um einen armen Bauernknecht, der gern
seinen Hering ißt. Du bist schuld, daß der Höker keine Heringe hatte, und du
bist anch schuld, daß der kleine Hein von Wölfen gefressen worden ist und mir
nicht die Heringe bringen konnte. Und wenn du deu Wölfen etwas gönnen wolltest,
so hätte es auch wohl ein andermal gepaßt, daß sie den kleinen Hein aßen.

Und nachdem er auf diese Weise seinem gerechten Unmut Luft gemacht hatte,
schlief er ein.

(Schluß folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Kaufmannspolitik.

Der Hamburger Großhändler R. E. May, Inhaber
der Firma Alexander Jahr n. Comp. in Hamburg, veröffentlicht seit einer Reihe
von Jahren Rückblicke auf die wirtschaftliche Entwicklung des Vorjahres, an die er
nationalökonomische und sozialpolitische Betrachtungen knüpft. In der 1899 (bei
Puttkammer und Mtthlbrecht in Berlin) erschienenen ..Wirtschafts- und Handels¬
politischen Rundschau für das Jahr 1898" beschäftigt er sich ausschließlich mit
Politik. Sehr richtig bemerkt er, die allgemeine Verwirrung und Verwicklung


Grenzboten 71 1300 7
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/57>, abgerufen am 29.06.2024.