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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Uuinaßgel-liebes

könnte! Das ist es, was ich möchte; die Stadtverordneten aufhetzen! Von den
Stadträten können Sie nicht verlangen, daß sie etwas andres im Kopf haben als
den Etat; sie fragen: Welche Einnahme bringt die Schule; ob die Jugend richtig
erzogen wird, gehört nicht in den Umkreis der ihnen obliegenden Erwägungen. --
Ade! rief er mit der Hund winkend.

Schreien Sie doch nicht so! dachte ich. Wenn das jemand gehört hätte!


1?in ein> Lisols.

Von einem alternden und geistig verarmenden Volke ge¬
prägt, dessen hinwelkende Einbildungskraft sich an zierlichen Worten ohne Inhalt
zu erregen liebt, ist die alberne Phrase vom den euz sisc-is auch außerhalb Frank¬
reichs die Losung aller gelaugweilten Schwachköpfe geworden, deren Geringschätzung
gegenüber allen Tagesneuigkeiten, deu Weltereignissen wie den Busennadeln, von
keinem deutschen Ausdruck erreicht wird. 1?in cis siüols -- damit ist für sie die
Grenzenlosigkeit ihrer Menschenverachtung in drei Worten gekennzeichnet. Das Ende
des Jahrhunderts: das haben unsre Väter und Großväter nicht erlebt, das ist
wirklich einmal seit Menschengedenken "noch nicht dagewesen." Neben diesem Er¬
lebnis dürfen alle überlieferten Vorstellungen als überholt und abgethan gelten.
So berauscht sich die Blasiertheit, der jede echte Begeisterung lächerlich erscheint,
an einem leeren Schall, an dem Gedanken -- wenn es ein Gedanke ist --, daß
wir nun nicht mehr die gewohnte 18, sondern eine 19 vor der Jahreszahl schreiben
werden. Ein Vorgang, der keinen Planeten in seiner Bahn beirrt und keinen
Sperling aus seiner Gemütsruhe aufstört; der keinen Weisen klüger, keinen Thoren
eitler, keinen Hungrigen satter macht; der die Angelegenheiten der Einzelnen wie
der Völker um keine Haaresbreite vorwärts bringt; keinem lebenden Wesen von
wirklicher Bedeutung als findigen Buchhändler", die über das neunzehnte Jahr¬
hundert wieder einmal ein Dutzend Prachtwerke veröffentlichen und "us von jedem
versichern, daß es "in keinem gebildeten Haushalt fehlen darf."

Noch niemals ist die Wende des Jahrhunderts mit eiuer großen Schicksalswende
zusammengefallen. Wenn es ja einmal annähernd geschah, so war es ein Werk
des Zufalls, auf dem kein denkender Geist den Blick verweilen läßt. Auch heute
fehlt jedes Anzeichen dasür, daß der Jahrhnndcrtwechsel in der Geschichte der
Menschheit einen Einschnitt bedeuten wird. Die politischen und sozialen Bewegungen,
in deren Zeichen wir stehn, vollziehn sich zum Teil seit wenigen, zum Teil seit
vielen Jahre". Dasselbe galt vor fünfzehn, vor dreißig, vor sechzig Jahren
von den damaligen Zeitströmungen. Wir Menschen datieren Ereignisse und Ent¬
wicklungen, wenn wir sie unsrer Erfahrung einreihen, also nachdem sie eingetreten
sind; sie aber richten sich nicht nach dem Kalender. Das ist die Ursache der Ver¬
wirrung, gegen die sich diese Zeilen wenden, daß unkommensurnble Größen zu¬
sammengeworfen werden. Ereignisse und Entwicklungen sind Veränderungen wirk¬
licher Dinge und Zustände; Jahrhunderte aber sind nichts wirkliches, sondern eine
menschliche Denkvperntion, eine Zeiteinteilung, in der Nur nicht die Dinge und die
Ereignisse selbst, sondern mir unsre eignen Vorstellungen über sie zusammenfassen
und ordnen. Von dem Beginn eines neuen Jahrhunderts einen Abschnitt in der
Entwicklung des Menschengeschlechts erwarten heißt die menschliche Kenntnis der
Begebenheiten mit den Begebenheiten selbst verwechseln und glauben, weil wir als
Hilfsmittel unsrer Betrachtung in gleichmäßigen Zeitabständen gedachte Merkpfähle
errichten, daß diese Fiktionen die Ereignisse vor uns beeinflußt hätten und die
kommenden beeinflussen würden -- ein Glaube, uicht sinnreicher als die Vorstellung,
daß eine wachsende Eiche uach jedem zehnten Zoll einen neuen Ast ansetzen müßte.

Die Nutzanwendung auf deu erbitterte" Streit um den Beginn des neuen
Jahrhunderts ergiebt sich von selbst. Der unbefangne Laienverstand, der ja meistens


Grenzbote" 1 1900 7
Maßgebliches und Uuinaßgel-liebes

könnte! Das ist es, was ich möchte; die Stadtverordneten aufhetzen! Von den
Stadträten können Sie nicht verlangen, daß sie etwas andres im Kopf haben als
den Etat; sie fragen: Welche Einnahme bringt die Schule; ob die Jugend richtig
erzogen wird, gehört nicht in den Umkreis der ihnen obliegenden Erwägungen. --
Ade! rief er mit der Hund winkend.

Schreien Sie doch nicht so! dachte ich. Wenn das jemand gehört hätte!


1?in ein> Lisols.

Von einem alternden und geistig verarmenden Volke ge¬
prägt, dessen hinwelkende Einbildungskraft sich an zierlichen Worten ohne Inhalt
zu erregen liebt, ist die alberne Phrase vom den euz sisc-is auch außerhalb Frank¬
reichs die Losung aller gelaugweilten Schwachköpfe geworden, deren Geringschätzung
gegenüber allen Tagesneuigkeiten, deu Weltereignissen wie den Busennadeln, von
keinem deutschen Ausdruck erreicht wird. 1?in cis siüols — damit ist für sie die
Grenzenlosigkeit ihrer Menschenverachtung in drei Worten gekennzeichnet. Das Ende
des Jahrhunderts: das haben unsre Väter und Großväter nicht erlebt, das ist
wirklich einmal seit Menschengedenken „noch nicht dagewesen." Neben diesem Er¬
lebnis dürfen alle überlieferten Vorstellungen als überholt und abgethan gelten.
So berauscht sich die Blasiertheit, der jede echte Begeisterung lächerlich erscheint,
an einem leeren Schall, an dem Gedanken — wenn es ein Gedanke ist —, daß
wir nun nicht mehr die gewohnte 18, sondern eine 19 vor der Jahreszahl schreiben
werden. Ein Vorgang, der keinen Planeten in seiner Bahn beirrt und keinen
Sperling aus seiner Gemütsruhe aufstört; der keinen Weisen klüger, keinen Thoren
eitler, keinen Hungrigen satter macht; der die Angelegenheiten der Einzelnen wie
der Völker um keine Haaresbreite vorwärts bringt; keinem lebenden Wesen von
wirklicher Bedeutung als findigen Buchhändler», die über das neunzehnte Jahr¬
hundert wieder einmal ein Dutzend Prachtwerke veröffentlichen und «us von jedem
versichern, daß es „in keinem gebildeten Haushalt fehlen darf."

Noch niemals ist die Wende des Jahrhunderts mit eiuer großen Schicksalswende
zusammengefallen. Wenn es ja einmal annähernd geschah, so war es ein Werk
des Zufalls, auf dem kein denkender Geist den Blick verweilen läßt. Auch heute
fehlt jedes Anzeichen dasür, daß der Jahrhnndcrtwechsel in der Geschichte der
Menschheit einen Einschnitt bedeuten wird. Die politischen und sozialen Bewegungen,
in deren Zeichen wir stehn, vollziehn sich zum Teil seit wenigen, zum Teil seit
vielen Jahre». Dasselbe galt vor fünfzehn, vor dreißig, vor sechzig Jahren
von den damaligen Zeitströmungen. Wir Menschen datieren Ereignisse und Ent¬
wicklungen, wenn wir sie unsrer Erfahrung einreihen, also nachdem sie eingetreten
sind; sie aber richten sich nicht nach dem Kalender. Das ist die Ursache der Ver¬
wirrung, gegen die sich diese Zeilen wenden, daß unkommensurnble Größen zu¬
sammengeworfen werden. Ereignisse und Entwicklungen sind Veränderungen wirk¬
licher Dinge und Zustände; Jahrhunderte aber sind nichts wirkliches, sondern eine
menschliche Denkvperntion, eine Zeiteinteilung, in der Nur nicht die Dinge und die
Ereignisse selbst, sondern mir unsre eignen Vorstellungen über sie zusammenfassen
und ordnen. Von dem Beginn eines neuen Jahrhunderts einen Abschnitt in der
Entwicklung des Menschengeschlechts erwarten heißt die menschliche Kenntnis der
Begebenheiten mit den Begebenheiten selbst verwechseln und glauben, weil wir als
Hilfsmittel unsrer Betrachtung in gleichmäßigen Zeitabständen gedachte Merkpfähle
errichten, daß diese Fiktionen die Ereignisse vor uns beeinflußt hätten und die
kommenden beeinflussen würden — ein Glaube, uicht sinnreicher als die Vorstellung,
daß eine wachsende Eiche uach jedem zehnten Zoll einen neuen Ast ansetzen müßte.

Die Nutzanwendung auf deu erbitterte» Streit um den Beginn des neuen
Jahrhunderts ergiebt sich von selbst. Der unbefangne Laienverstand, der ja meistens


Grenzbote» 1 1900 7
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/57>, abgerufen am 27.06.2024.