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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Da lag das Manuskript auf einem Stuhle, wenige Schritte noch, und der
Dichter hätte es gesehen, und alles war verloren. In diese", entscheidenden Augen-
blicke bewies Tante Toni ihr Feldherrntalent. Sie erhob sich von ihrem Stuhle
und setzte sich unauffällig mit ihrer ganzen Breite auf das Manuskript. Das
Manuskript war nicht zu finden, eben war es noch dagewesen, es war unbegreiflich,
wo es hingekommen war. Es half nichts, Doktor Felix Mandelstein mußte sich
beruhigen, mußte Platz nehmen und noch eine Rede über sich ergehn lassen. Bei
dem darauf folgenden Hoch wäre beinahe noch ein Unheil geschehn, denn Tante
Toni, uneingedenk der Verpflichtungen, die sie übernommen hatte, erhob sich, um
mit anzustoßen. Aber ihre Nachbarin zog sie an den Falten ihres Kleides wieder
auf den Stuhl nieder, wobei Tante Toni ihr Glas Wein auf ihr Kleid goß.

Na, schadt nichts, sagte sie, laß fahren dahin, es war mein altes Bastseidncs.

Am andern Morgen fuhr Herr Doktor Felix davon. Als der Zug der
Sekuudärbahn über deu Stuckenberg bummelte, und der Dichter Schmalzleben, noch
geschmückt von dein Feste des Tages zuvor, in seiner vollen Schöne zu seinen
Füßen liegen sah, schüttelte er die Faust zum Fenster hinaus und schwur mit
heiligen Eiden, nie wieder ein Drama für solche Banausen zu schreiben. Die
Banausen machten sich nichts daraus, souderu führten ihr Drama uoch dreimal für
verschiedne gute Zwecke auf. Und drei Verlobungen sind aus der Spielerei hervor¬
gegangen. Und Schmalzleben steht seitdem im Glänze seiner geschichtlichen Ver¬
gangenheit groß da.




Maßgebliches und Unmaßgebliches

Die Wissenschaft in der Opposition. Der ordentliche Professor der Ge¬
schichte an der Berliner Universität Dr. Hans Delbrück widmet im Augustheft der
von ihm herausgegebnen Preußischen Jahrbücher mehrere Seiten der "Kanalvorlage
und der Zuchthausvorlage," auf denen er angeblich das "unbefangne, von keinem
Sonderinteresse beeinflußte Urteil der Wissenschaft" zum Ausdruck zu bringen sucht.
Er steht dabei gegen beide Vorlagen in der Opposition. Das würde an sich nicht
der Rede wert sei", aber der Herr Professor liefert -- wenn auch gewiß nur in
fahrlässiger Weise -- in dieser seiner neusten journalistischen Leistung einen so
interessanten weitern Beitrag zu der jüngst in den Grenzboten besprochnen Ge-
schichtsfälschnng über das Gesetz zum Schutz der Arbeitswillige", und er urteilt
über die Kanalvorlage, die bekanntlich in der allernächsten Zeit im Preußischen Ab¬
geordnetenhause zur zweiten Lesung kommen wird, so unverantwortlich ab, daß
man in Anbetracht der großen Empfänglichkeit der x. t. gebildeten Leserwelt für
derlei "wissenschaftliche" Politik nicht dazu schweigen darf.

Was zunächst den Gesetzentwurf zum Schutz der Arbeitswillige" betrifft, so
behauptet er frischweg: "Die gesamte Wissenschaft ist gegen die Zuchthansvvrlage
und ebenso die aufgeklärten konservativen Aristokraten und Beamten." Ist das
schon, objektiv genommen, eine unglaublich leichtfertige Behauptung, so steht der
Beweis, den er dafür zu erbringe" versucht, mit der Wahrheit auf noch viel ge-


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Da lag das Manuskript auf einem Stuhle, wenige Schritte noch, und der
Dichter hätte es gesehen, und alles war verloren. In diese», entscheidenden Augen-
blicke bewies Tante Toni ihr Feldherrntalent. Sie erhob sich von ihrem Stuhle
und setzte sich unauffällig mit ihrer ganzen Breite auf das Manuskript. Das
Manuskript war nicht zu finden, eben war es noch dagewesen, es war unbegreiflich,
wo es hingekommen war. Es half nichts, Doktor Felix Mandelstein mußte sich
beruhigen, mußte Platz nehmen und noch eine Rede über sich ergehn lassen. Bei
dem darauf folgenden Hoch wäre beinahe noch ein Unheil geschehn, denn Tante
Toni, uneingedenk der Verpflichtungen, die sie übernommen hatte, erhob sich, um
mit anzustoßen. Aber ihre Nachbarin zog sie an den Falten ihres Kleides wieder
auf den Stuhl nieder, wobei Tante Toni ihr Glas Wein auf ihr Kleid goß.

Na, schadt nichts, sagte sie, laß fahren dahin, es war mein altes Bastseidncs.

Am andern Morgen fuhr Herr Doktor Felix davon. Als der Zug der
Sekuudärbahn über deu Stuckenberg bummelte, und der Dichter Schmalzleben, noch
geschmückt von dein Feste des Tages zuvor, in seiner vollen Schöne zu seinen
Füßen liegen sah, schüttelte er die Faust zum Fenster hinaus und schwur mit
heiligen Eiden, nie wieder ein Drama für solche Banausen zu schreiben. Die
Banausen machten sich nichts daraus, souderu führten ihr Drama uoch dreimal für
verschiedne gute Zwecke auf. Und drei Verlobungen sind aus der Spielerei hervor¬
gegangen. Und Schmalzleben steht seitdem im Glänze seiner geschichtlichen Ver¬
gangenheit groß da.




Maßgebliches und Unmaßgebliches

Die Wissenschaft in der Opposition. Der ordentliche Professor der Ge¬
schichte an der Berliner Universität Dr. Hans Delbrück widmet im Augustheft der
von ihm herausgegebnen Preußischen Jahrbücher mehrere Seiten der „Kanalvorlage
und der Zuchthausvorlage," auf denen er angeblich das „unbefangne, von keinem
Sonderinteresse beeinflußte Urteil der Wissenschaft" zum Ausdruck zu bringen sucht.
Er steht dabei gegen beide Vorlagen in der Opposition. Das würde an sich nicht
der Rede wert sei», aber der Herr Professor liefert — wenn auch gewiß nur in
fahrlässiger Weise — in dieser seiner neusten journalistischen Leistung einen so
interessanten weitern Beitrag zu der jüngst in den Grenzboten besprochnen Ge-
schichtsfälschnng über das Gesetz zum Schutz der Arbeitswillige», und er urteilt
über die Kanalvorlage, die bekanntlich in der allernächsten Zeit im Preußischen Ab¬
geordnetenhause zur zweiten Lesung kommen wird, so unverantwortlich ab, daß
man in Anbetracht der großen Empfänglichkeit der x. t. gebildeten Leserwelt für
derlei „wissenschaftliche" Politik nicht dazu schweigen darf.

Was zunächst den Gesetzentwurf zum Schutz der Arbeitswillige» betrifft, so
behauptet er frischweg: „Die gesamte Wissenschaft ist gegen die Zuchthansvvrlage
und ebenso die aufgeklärten konservativen Aristokraten und Beamten." Ist das
schon, objektiv genommen, eine unglaublich leichtfertige Behauptung, so steht der
Beweis, den er dafür zu erbringe» versucht, mit der Wahrheit auf noch viel ge-


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[0292] Maßgebliches und Unmaßgebliches Da lag das Manuskript auf einem Stuhle, wenige Schritte noch, und der Dichter hätte es gesehen, und alles war verloren. In diese», entscheidenden Augen- blicke bewies Tante Toni ihr Feldherrntalent. Sie erhob sich von ihrem Stuhle und setzte sich unauffällig mit ihrer ganzen Breite auf das Manuskript. Das Manuskript war nicht zu finden, eben war es noch dagewesen, es war unbegreiflich, wo es hingekommen war. Es half nichts, Doktor Felix Mandelstein mußte sich beruhigen, mußte Platz nehmen und noch eine Rede über sich ergehn lassen. Bei dem darauf folgenden Hoch wäre beinahe noch ein Unheil geschehn, denn Tante Toni, uneingedenk der Verpflichtungen, die sie übernommen hatte, erhob sich, um mit anzustoßen. Aber ihre Nachbarin zog sie an den Falten ihres Kleides wieder auf den Stuhl nieder, wobei Tante Toni ihr Glas Wein auf ihr Kleid goß. Na, schadt nichts, sagte sie, laß fahren dahin, es war mein altes Bastseidncs. Am andern Morgen fuhr Herr Doktor Felix davon. Als der Zug der Sekuudärbahn über deu Stuckenberg bummelte, und der Dichter Schmalzleben, noch geschmückt von dein Feste des Tages zuvor, in seiner vollen Schöne zu seinen Füßen liegen sah, schüttelte er die Faust zum Fenster hinaus und schwur mit heiligen Eiden, nie wieder ein Drama für solche Banausen zu schreiben. Die Banausen machten sich nichts daraus, souderu führten ihr Drama uoch dreimal für verschiedne gute Zwecke auf. Und drei Verlobungen sind aus der Spielerei hervor¬ gegangen. Und Schmalzleben steht seitdem im Glänze seiner geschichtlichen Ver¬ gangenheit groß da. Maßgebliches und Unmaßgebliches Die Wissenschaft in der Opposition. Der ordentliche Professor der Ge¬ schichte an der Berliner Universität Dr. Hans Delbrück widmet im Augustheft der von ihm herausgegebnen Preußischen Jahrbücher mehrere Seiten der „Kanalvorlage und der Zuchthausvorlage," auf denen er angeblich das „unbefangne, von keinem Sonderinteresse beeinflußte Urteil der Wissenschaft" zum Ausdruck zu bringen sucht. Er steht dabei gegen beide Vorlagen in der Opposition. Das würde an sich nicht der Rede wert sei», aber der Herr Professor liefert — wenn auch gewiß nur in fahrlässiger Weise — in dieser seiner neusten journalistischen Leistung einen so interessanten weitern Beitrag zu der jüngst in den Grenzboten besprochnen Ge- schichtsfälschnng über das Gesetz zum Schutz der Arbeitswillige», und er urteilt über die Kanalvorlage, die bekanntlich in der allernächsten Zeit im Preußischen Ab¬ geordnetenhause zur zweiten Lesung kommen wird, so unverantwortlich ab, daß man in Anbetracht der großen Empfänglichkeit der x. t. gebildeten Leserwelt für derlei „wissenschaftliche" Politik nicht dazu schweigen darf. Was zunächst den Gesetzentwurf zum Schutz der Arbeitswillige» betrifft, so behauptet er frischweg: „Die gesamte Wissenschaft ist gegen die Zuchthansvvrlage und ebenso die aufgeklärten konservativen Aristokraten und Beamten." Ist das schon, objektiv genommen, eine unglaublich leichtfertige Behauptung, so steht der Beweis, den er dafür zu erbringe» versucht, mit der Wahrheit auf noch viel ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/292>, abgerufen am 15.01.2025.