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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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viel Staat zu machen.*) Die Stärke der deutschen Aufklärung ging nicht von
Berlin, sondern von Wolfenbüttel und Königsberg aus; und ihre bevorzugten
Träger hießen nicht Mendelssohn und Nicolai, sondern Lessing und Kant. An
deren Vermächtnis, an Herders, Goethes und Schillers Erbschaft ist mit
der ganzen deutschen Nation auch der Rhein beteiligt gewesen. Die nach¬
folgende Poetengeneration am Rhein hat seit dem Wiedererwachen des deutschen
Nationalgefühls nicht geruht, nach den nationalen Zielen zu fragen und ihnen
zuzustreben. Sie konnte mit berechtigtem Stolze von sich sagen, daß sie die
alte Spannkraft in der Entfaltung ihres freien Geistes und ihrer künstlerischen
Phantasie neu bewährt, und daß gerade das reine Licht und Leben des Rheines
die köstlichsten Blüten der deutschen Dichtkunst gezeitigt haben.

Die den verschiedensten Glaubensbekenntnissen entstammenden rheinischen
Dichter Heinrich Heine, Gottfried Kinkel, Karl Simrock, Gustav Pfarrius.
Christian Joseph Matzerath, Alexander Kaufmann, Wolfgang Müller von Königs¬
winter und Emil Nittershaus brauchen sich über die Rheinluft, die ihre Väter
und Großväter geatmet haben, nicht zu beklagen. Auch wir nicht. Was sie
ererbt von ihren Vätern haben -- um mit Goethes Worten zu schließen
haben sie wirklich erworben, um es zu besitzen.




Lenectus lo^uax
Plaudereien eines alten Deutschen 11

aß mich der neuen Freiheit genießen! Das war gewiß zuerst die
Losung aller, die 1848 und in den nächstfolgenden Jahren "von
des Zeitendranges Sturm" an die Kreideküste verschlagen worden
waren. Als sich 1840 die Festungsthore den "Demagogen" öffneten,
zogen aus Silberberg Studenten ins schlesische Gebirge, weil sie
das Bedürfnis hatten, sich auszutoben, bevor sie in die bürgerlichen
Verhältnisse zurückkehrten. Und in England mußte das Gefühl, nicht mehr verfolgt
oder doch auf Schritt und Tritt argwöhnisch beobachtet zu werden, um so mächtiger
wirken, als ebenso auf Schritt und Tritt die Verträglichkeit von Ordnung und
Freiheit beobachtet werden konnte. Polizei, damals auf dem ganzen Kontinent ein



Die Rezensenten der "Frankfurter gelehrten Anzeigen" Merck und Goethe erklärten,
"daß der selige Gellert von der Dichtkunst, die aus vollem Herzen und wahrer Empfindung
strömt, welche die einzige ist, keinen Bogriff hatte," und forderten vom Dichter "deutschen Ge¬
schmack und deutsches Gefühl."
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viel Staat zu machen.*) Die Stärke der deutschen Aufklärung ging nicht von
Berlin, sondern von Wolfenbüttel und Königsberg aus; und ihre bevorzugten
Träger hießen nicht Mendelssohn und Nicolai, sondern Lessing und Kant. An
deren Vermächtnis, an Herders, Goethes und Schillers Erbschaft ist mit
der ganzen deutschen Nation auch der Rhein beteiligt gewesen. Die nach¬
folgende Poetengeneration am Rhein hat seit dem Wiedererwachen des deutschen
Nationalgefühls nicht geruht, nach den nationalen Zielen zu fragen und ihnen
zuzustreben. Sie konnte mit berechtigtem Stolze von sich sagen, daß sie die
alte Spannkraft in der Entfaltung ihres freien Geistes und ihrer künstlerischen
Phantasie neu bewährt, und daß gerade das reine Licht und Leben des Rheines
die köstlichsten Blüten der deutschen Dichtkunst gezeitigt haben.

Die den verschiedensten Glaubensbekenntnissen entstammenden rheinischen
Dichter Heinrich Heine, Gottfried Kinkel, Karl Simrock, Gustav Pfarrius.
Christian Joseph Matzerath, Alexander Kaufmann, Wolfgang Müller von Königs¬
winter und Emil Nittershaus brauchen sich über die Rheinluft, die ihre Väter
und Großväter geatmet haben, nicht zu beklagen. Auch wir nicht. Was sie
ererbt von ihren Vätern haben — um mit Goethes Worten zu schließen
haben sie wirklich erworben, um es zu besitzen.




Lenectus lo^uax
Plaudereien eines alten Deutschen 11

aß mich der neuen Freiheit genießen! Das war gewiß zuerst die
Losung aller, die 1848 und in den nächstfolgenden Jahren „von
des Zeitendranges Sturm" an die Kreideküste verschlagen worden
waren. Als sich 1840 die Festungsthore den „Demagogen" öffneten,
zogen aus Silberberg Studenten ins schlesische Gebirge, weil sie
das Bedürfnis hatten, sich auszutoben, bevor sie in die bürgerlichen
Verhältnisse zurückkehrten. Und in England mußte das Gefühl, nicht mehr verfolgt
oder doch auf Schritt und Tritt argwöhnisch beobachtet zu werden, um so mächtiger
wirken, als ebenso auf Schritt und Tritt die Verträglichkeit von Ordnung und
Freiheit beobachtet werden konnte. Polizei, damals auf dem ganzen Kontinent ein



Die Rezensenten der „Frankfurter gelehrten Anzeigen" Merck und Goethe erklärten,
„daß der selige Gellert von der Dichtkunst, die aus vollem Herzen und wahrer Empfindung
strömt, welche die einzige ist, keinen Bogriff hatte," und forderten vom Dichter „deutschen Ge¬
schmack und deutsches Gefühl."
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[0330] LollEvtu» Icxiu»,x viel Staat zu machen.*) Die Stärke der deutschen Aufklärung ging nicht von Berlin, sondern von Wolfenbüttel und Königsberg aus; und ihre bevorzugten Träger hießen nicht Mendelssohn und Nicolai, sondern Lessing und Kant. An deren Vermächtnis, an Herders, Goethes und Schillers Erbschaft ist mit der ganzen deutschen Nation auch der Rhein beteiligt gewesen. Die nach¬ folgende Poetengeneration am Rhein hat seit dem Wiedererwachen des deutschen Nationalgefühls nicht geruht, nach den nationalen Zielen zu fragen und ihnen zuzustreben. Sie konnte mit berechtigtem Stolze von sich sagen, daß sie die alte Spannkraft in der Entfaltung ihres freien Geistes und ihrer künstlerischen Phantasie neu bewährt, und daß gerade das reine Licht und Leben des Rheines die köstlichsten Blüten der deutschen Dichtkunst gezeitigt haben. Die den verschiedensten Glaubensbekenntnissen entstammenden rheinischen Dichter Heinrich Heine, Gottfried Kinkel, Karl Simrock, Gustav Pfarrius. Christian Joseph Matzerath, Alexander Kaufmann, Wolfgang Müller von Königs¬ winter und Emil Nittershaus brauchen sich über die Rheinluft, die ihre Väter und Großväter geatmet haben, nicht zu beklagen. Auch wir nicht. Was sie ererbt von ihren Vätern haben — um mit Goethes Worten zu schließen haben sie wirklich erworben, um es zu besitzen. Lenectus lo^uax Plaudereien eines alten Deutschen 11 aß mich der neuen Freiheit genießen! Das war gewiß zuerst die Losung aller, die 1848 und in den nächstfolgenden Jahren „von des Zeitendranges Sturm" an die Kreideküste verschlagen worden waren. Als sich 1840 die Festungsthore den „Demagogen" öffneten, zogen aus Silberberg Studenten ins schlesische Gebirge, weil sie das Bedürfnis hatten, sich auszutoben, bevor sie in die bürgerlichen Verhältnisse zurückkehrten. Und in England mußte das Gefühl, nicht mehr verfolgt oder doch auf Schritt und Tritt argwöhnisch beobachtet zu werden, um so mächtiger wirken, als ebenso auf Schritt und Tritt die Verträglichkeit von Ordnung und Freiheit beobachtet werden konnte. Polizei, damals auf dem ganzen Kontinent ein Die Rezensenten der „Frankfurter gelehrten Anzeigen" Merck und Goethe erklärten, „daß der selige Gellert von der Dichtkunst, die aus vollem Herzen und wahrer Empfindung strömt, welche die einzige ist, keinen Bogriff hatte," und forderten vom Dichter „deutschen Ge¬ schmack und deutsches Gefühl."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/330>, abgerufen am 23.07.2024.